Liebe Kollegin, lieber Kollege Paukerunterricht oder

Liebe Kollegin, lieber Kollege
Paukerunterricht oder erlebnisorientierte Langeweile?
Instruktion oder Konstruktion?
FU oder SOL? (Für Laien: Frontalunterricht oder selbstständig organisiertes Lernen?)
Autorität oder demokratisiertes Schulzimmer?
‚Leiden und Freuden eines Schulmeisters’ (für Laien: … von Jeremias Gotthelf) oder
Lehrplan 21?
Wo steckt das Gute, wo das Böse? Nichts ist mehr klar, spätestens seit Hattie … und seit
dem Lead der SVP und – bis vor Kurzem! - dem Schweigen der Linken in der kritischen
Auseinandersetzung mit Bildungsreformfragen.
FACH bietet mit profilierten aktuellen Artikeln zum Thema und mit eigenen Stellungnahmen
einen differenzierten Anstoss (wie wir hoffen) zur Befreiung aus der Falle erstarrter
Gegenpositionen – und also zum Weiterdenken.
Und gleichsam als Metaebene dazu: Wie sehr sollen die Lehrkräfte geleitet werden auf ihrem
Weg zu gutem Unterricht (über den die Meinungen offensichtlich derart divergieren)? In
letzter Zeit sind z.B. im Bezug auf den LP21 erhebliche Druckversuche der EDK und ihrer
Einzeldirektionen auf Redaktoren und Lehrkräfte, die kritisch zu dieser ‚Jahrhundertreform’
stehen, zu beobachten - während die Thurgauer Lehrer mit einem flächendeckenden onlinetool kontrolliert werden sollen, ob sie den LP21 buchstabengetreu umsetzen. Wäre im
Gegensatz zu derart wildentschlossener Durchsetzungswut in einer solchen Gemengelage
nicht vielmehr eine offen geführte Diskussion die einzig sinnvolle Option?
Zeitungsartikel:
- ‘Erlebnisorientierte Langeweile’ von Katja Oskamp: Weltwoche vom 3.2.2016
- ‘Wann machen Sie wieder Frontalunterricht?’ von Rainer Werner: FAZ vom 14.1.2016
- ‘Der Umbruch kam auf leisen Sohlen’ von Bettina Dyttrich: WoZ 04/2016 vom 28.1.2016
- ‘Politik der pädagogischen Aufmerksamkeitsverschiebung’ von Walter Herzog:
NZZ vom 7.12.2015
- 'Wie der LP 21 durchgesetzt wird' von Thomas Dähler: BAZ von heute, 11.2.2016
Kommentare:
- ‘Von schulischen Trojanischen Pferden und anderen Ungeheuern’ - ein Kommentar zu
WoZ, FAZ und Weltwoche von Georg Geiger (FACH)
- ‘"Geleitete Schulen" oder Der ganz normale Flachsinn’ – eine Realsatire von Roger
Hiltbrunner (FACH)
Und noch ein Hinweis auf eine neuere Publikation zum Thema:
Herbert Gudjons: Frontalunterricht – neu entdeckt: Integration in offene Unterrichtsformen.
Julius Klinkhardt (UTB) 2011
Wir wünschen Ihnen spannende Lektüre!
Mit herzlichem Gruss
Dr. Ralph Fehlmann
Koordinator
Forum Allgemeinbildung Schweiz
Ralph Fehlmann
Erlebnisorientierte Langeweile
Katja Oskamp
Von Katja Oskamp – Gemäss Lehrplan 21 soll an Schweizer Schulen nicht mehr der Erwerb von
Wissen, sondern von «Kompetenzen» im Zentrum stehen. In Deutschland ist diese neumodische
Methode längst eingeführt. Mit absurden Konsequenzen, wie ich bei meiner Tochter erlebe.
«Wie war’s in der Schule?» – «Langweilig.» – «Was hast du gelernt?» – «Nichts.»
Diesen trostlosen Dialog habe ich mit meiner Tochter in den letzten Jahren viele Male geführt. Sie
besucht die elfte Klasse eines Berliner Gymnasiums. Herkömmlicher Unterricht findet möglichst
selten statt, dafür gibt es immerzu Methoden- und Kompetenzentraining. Die Schüler trainieren, wie
man Vorträge hält, wie man einen Ordner anlegt, wie man in der Bewerbungsmappe den Lebenslauf
aufhübscht.
Einmal musste meine Tochter während eines Tages immer wieder in den Klassenraum eintreten und
selbstbewusst wirken. Ein anderes Mal empfahlen sich sechsundzwanzig Schüler
sechsundzwanzigmal gegenseitig in überzeugenden Worten dasselbe Blatt Papier, auf dem ein Text
stand – als Übung zur korrekten Quellenangabe. Im Englischkurs sollte über die englische
Klassengesellschaft diskutiert werden. Meine Tochter sagte: «Ich möchte die Engländer verteidigen.»
Die Lehrerin unterbrach sie: «Wörter wie ‹verteidigen› oder ‹angreifen› will ich hier nicht hören. Wir
führen keinen Kampf, sondern eine ausgewogene Diskussion.»
In der Schule grassiert eine Flut englischer Zauberwörter. Zum Beispiel «Mind Map». Ohne Mind Map
– ein grafisch aufbereiteter Stichwortzettel – geht gar nichts. Oder die Power-Point-Präsentation.
Wer einen inhaltsarmen Vortrag mit einer quietschbunten Power-Point-Präsentation hält, wird
wegen Medienkompetenz besser bewertet als jemand, der Einsteins Relativitätstheorie ohne PowerPoint-Präsentation erklären kann. Wer richtig punkten will, erstellt zur Power-Point ein Handout,
damit die Schüler nicht mitschreiben müssen, aber trotzdem was zum Einordnen haben.
«Toll, ein anderer macht’s!»
Ganz gross angesagt ist Gruppenarbeit, besser bekannt als Teamwork. Für Faule eine feine Sache –
die Fleissigen zahlen drauf. Beschwert sich ein Fleissiger beim Lehrer, dass er die ganze
Gruppenarbeit allein gemacht hat, gilt er als Petzer und als nicht teamfähig. Das gibt Punktabzug bei
den sozialen Kompetenzen. Zyniker übersetzen das englische Wort «Team» mit «Toll, ein anderer
macht’s!».
Jeder Präsentation folgt zwangsweise ein Feedback. Ein gutes Feedback ist jenes, welches
konstruktive Kritik übt. Konstruktive Kritik bedeutet, dass man mit dem Positiven anfängt. Dem
Feedback folgt nicht selten ein Feedback, welches das vorangegangene Feedback beurteilt,
selbstverständlich in Form konstruktiver Kritik. Häufig finden Projektwochen statt, was bedeutet,
dass der Unterricht ausfällt. In der Projektwoche zum Thema Kinderarbeit musste meine Tochter in
der dreckigen Turnhalle unter Bänke robben, um Mitgefühl für das Elend bolivianischer Minenkinder
zu entwickeln.
Die Anglizismisierung geht mit der Infantilisierung einher. Das Wie wird immer wichtiger. Es bringt
das Was zum Verschwinden. Die Inhalte werden abgeschafft, die Form übernimmt. Der Gegenstand
ist nichts, seine Auf- und Nachbereitung alles. Allein der Abkürzungswust, der uns seit der
Einschulung um die Ohren fliegt, spricht Bände: JÜL. SAPH. PibF. WUV. IGEL ist meine
Lieblingsabkürzung. Sie steht für: Interessengefördertes Erlebnislernen. Hinter diesen Abkürzungen
verbergen sich immer neue Konzepte, immer neue Reformen, von unsichtbaren Pädagogen erdacht,
in niedlichen Tierlauten verklausuliert. Passend zu den infantilen Abkürzungen geht der Trend weg
von der Schrift, hin zum Bild. Alles muss schnell zu erfassen sein, simpel. Kein Schüler darf je
überfordert werden. Deshalb steht die Häppchenkultur hoch im Kurs. Bücher werden, wenn
überhaupt, nur auszugsweise gelesen.
In der neunten Klasse stand in Deutsch etwas Brecht auf dem Plan. Meine Tochter schlug vor, im
Berliner Ensemble die «Dreigroschenoper» anzuschauen. Die Lehrerin war schockiert und verbat sich
die Einmischung in ihre Arbeit. Im Religionskurs regte ein Schüler kürzlich an, Nietzsche zu lesen. Das
sei ihm zu kompliziert, erwiderte der Lehrer und schlug vor, dass jeder reihum am Freitagmorgen
einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen soll, den sie im Sinne eines sozialen Miteinanders
gemeinsam aufessen würden.
Statt Wissen zu erwerben, bekommen die Schüler die ewiggleichen Kompetenzen eingetrichtert, eine
krude Mixtur aus politischer Korrektheit und der Anbetung technisch-medialer Möglichkeiten. Der
Lehrer verschanzt sich in einer nebligen Ferne, aus der er Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit,
Respekt und Toleranz predigt. Deshalb langweilen sich die Schüler. Nicht nur die guten, auch die
schlechten Schüler. Doch Obacht! «Gut» und «Schlecht» gelten nach heutigem Verständnis als
reaktionäre Kategorien: «Keiner ist gut. Keiner ist schlecht. Jeder ist anders. Aber alle sind gleich.»
Überwältigungsverbot
Meine Freundin Anne ist 36 und lässt sich seit einem Jahr an der Humboldt-Universität Berlin zur
Grundschullehrerin – in der Schweiz wäre das eine Primarschullehrerin – ausbilden. Ich frage sie, wie
die Grundschule der Zukunft aussieht. Zum Zwecke korrekten Genderings spricht man in der
Humboldt-Universität von «Schülerinnen und Schülern». Da das zum Schreiben zu lang ist, kürzt man
mit «SuS» ab. Doch auch zum Sprechen ist es zu lang, und deshalb reden alle, Professoren und
Studenten, immer von «den SuS». Auch das Wort «Lehrer» gibt es nicht mehr. Der Lehrer wird zum
«Lernbegleiter». Die Inhalte sind komplett verschwunden, es gibt nur noch Kompetenzen. Man geht
davon aus, dass das Weltwissen – die Allgemeinbildung und der Erfahrungsschatz – jederzeit
abrufbar ist. Das genügt. Allein nach ihren Interessen sollen sich die Sechs- bis Zwölfjährigen ihr
Wissen selbst erarbeiten. Denn die Demokratisierung der Gesellschaft darf vor den Kindern nicht
haltmachen. Die Mitbestimmung beginnt schon im Klassenzimmer. Verbote sind strikt verboten in
der Grundschule der Zukunft. Hiess es früher «Wir dürfen nicht über die Flure rennen», so heisst es
heute «Wir wollen nicht über die Flure rennen». Das wiederum hiess früher Gehirnwäsche.
Über dem gesamten Pädagogikstudium allerdings schwebt ein riesengrosses Verbot, es gibt kein
Seminar, in dem Anne es nicht zu hören bekommt. Es heisst «Überwältigungsverbot»: Auf keinen Fall
darf der Lernbegleiter den SuS seine Bildung und Erfahrung vermitteln. Er darf niemals aus seiner
Perspektive Dinge erklären, niemals einem Kind seinen Blickwinkel aufpfropfen, niemals sein Wissen
heraushängen lassen. Denn ein Lehrer, der zeigt, dass er mehr weiss als die Schüler, überwältigt sie.
Dadurch würde ein fürchterliches Hierarchiegefälle entstehen.
Die drei grossen A der Grundschulpädagogik lauten: Abschaffung der Noten, Abschaffung der
Jahrgangsstufen, Abschaffung des Hierarchiegefälles. Vor allem aber gehört der Wissensvorsprung
des Lehrers abgeschafft. Es ist eine Abschaffungsorgie. Mein Vorschlag: Demnächst hacken wir uns
die Beine ab, um den Grössenvorsprung abzuschaffen.
Einmal, erzählt Anne, wurde den Studenten eine Textaufgabe in Mathematik vorgelegt. Anne aber
konnte die Aufgabe nicht lösen; sie war noch nie gut in Mathe, dafür schon immer gut in Deutsch. In
ihrer Not schrieb sie einen langen Text darüber, wie sie sich gemeinsam mit den SuS der Aufgabe
nähern würde. Wie sie ein Bild malen, sich den Sachverhalt veranschaulichen und so auf die
Schwierigkeiten stossen würde, die die Aufgabe mit sich brachte. Sie gab den Text mit einem schalen
Gefühl ab und rechnete mit dem Schlimmsten. Das Gegenteil trat ein. Die Dozentin war begeistert,
liess den Text kopieren und als leuchtendes Beispiel an alle verteilen. Anne bekam grösste
Anerkennung dafür, dass sie eine Matheaufgabe nicht gelöst hatte. Darin liegt eine gewisse
Konsequenz. Denn der ideale Lernbegleiter ist genau so naiv wie die sechsjährigen SuS. Er verbirgt
sein Wissen vor den Kindern – im besten Fall muss er nichts verbergen, weil da nichts ist.
Meine Tochter wünscht sich inzwischen nichts sehnlicher als schnöden Frontalunterricht. Vorn steht
jemand, der etwas weiss, was sie nicht weiss. Das bringt er ihr dann bei. Aber Frontalunterricht gilt
unter Pädagogen als Teufelszeug und kommt nur noch selten vor. Sie muss noch anderthalb Jahre
durchhalten. Bisher konnten wir, mein Mann und ich, ihren Wissensdurst, ihre Neugier, ihre Lust, die
Welt zu begreifen, mit Ach und Krach am Leben erhalten. Trotz Schule. Wir besorgen jedes Buch, das
sie lesen will, füttern sie mit Theater- und Opernbesuchen, rufen Leute an, die vom Fach sind und
ihre Fragen beantworten können. Meine Tochter möchte noch viel mehr lernen. Leider reicht die Zeit
nicht, wegen der Schule. Als ihr Frust darüber unerträglich wurde, haben wir sie ein Jahr nach
England geschickt, auf eine Mädchenschule, wo sie immer an der Überforderung entlangschrammte.
Sie hat es gepackt. Es sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, sagt sie.
Der Lehrer im Leben meiner Tochter
Und dann ist da noch Alexander, der Geigenlehrer. Mit Kollegen betreibt er eine private Musikschule.
Als Siebenjährige fing meine Tochter bei ihm an, einmal die Woche, mit einer winzigen Achtelgeige.
Alexander ist ein begnadeter Komiker, ein Perfektionist, eine launische Diva. Im Unterricht entfacht
er einen wahren Überwältigungsfuror. Er stampft herum, fuchtelt mit den Armen, schreit auf, wenn
sich bei Bach ein Vibrato einschleicht, hasst verschliffene Töne und besteht darauf, dass seine Schüler
Doppelgriffe üben.
Alexander ist kein Pädagoge, er ist Vollblutmusiker. Ein Fachmann, der weiss, wie man die Geige in
den Griff bekommt und der seine musikalischen Ansichten hemmungslos vertritt. Er liebt die Musik.
Seine Leidenschaft ist ansteckend. Meine Tochter flitzt noch mit vierzig Grad Fieber in die
Geigenstunde. Sie verdankt Alexander unzählige Lachkrämpfe, hat Tränen vergossen ob seiner
Rügen, sich die Zähne ausgebissen an Stücken, die immer ein bisschen schwerer waren, als der
gemeine Pädagoge es für richtig hielt. Sie verdankt ihm wunderbare Orchesterfahrten, grossartige
Konzerte und ihre beste Freundin, die sie in der Musikschule kennengelernt hat. Sie kann Noten
lesen und Komponisten am Stil erkennen, weiss in Musikgeschichte Bescheid und profitiert vom
Wissen um den Zusammenhang zwischen Musik und Mathematik. Vor allem kann sie Geige spielen.
Derzeit probt sie begeistert das Klaviertrio Nr. 2 von Benjamin Godard. Ich behaupte schon jetzt:
Alexander wird der Lehrer im Leben meiner Tochter gewesen sein.
Was, wenn er sich vor elf Jahren, als meine Tochter zum ersten Mal zu ihm kam, ans
Überwältigungsverbot gehalten hätte? Er hätte sie begrüsst: «Guten Tag, ich bin Alexander, und es
ist gut, dass ich dein Geigenlehrer bin, denn ich habe von dieser Sache so wenig Ahnung wie du, so
dass wir sie nun gemeinsam demokratisch erarbeiten können.» Ratlos wären beide um das hölzerne
Ding geschlichen. Alexander hätte vorsichtig draufgeklopft oder hineingerufen, meine Tochter hätte
ein paar Münzen in die geschwungenen Schlitze geworfen oder etwas Wasser eingefüllt. Sie hätten
zusammen Flügel aus Papier gebastelt, sie auf den seltsamen Korpus geklebt und das Fenster
geöffnet. Und dann hätten sie ausprobiert, ob es fliegen kann, das hölzerne Ding.
Katja Oskamp, 44, ist Schriftstellerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Roman «Hellersdorfer
Perle».
Weltwoche vom 3.2. 2016
Bildungswelten
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F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
„Wann machen Sie wieder Frontalunterricht?“
Länder in
der Pflicht
Moderne Methoden
können die Substanz
des Schulunterrichts
untergraben. Sie
kommen und gehen.
Der Sinn von Schule
bleibt derselbe. Ein
Erfahrungsbericht.
Von Michael Kretschmer
Von Rainer Werner
K
luge Schüler helfen Lehrern
manchmal auf die Sprünge. Als
ich an einer Berliner Gesamtschule unterrichtete, öffnete
mir eine Schülerin die Augen darüber,
was im Unterricht dieser Schule im Argen liegt. Sie fragte mich zum Beginn der
Stunde: „Müssen wir heute schon wieder
das machen, was wir machen wollen?“
Hintergrund dieser erstaunlichen Frage
war die Angewohnheit einiger Lehrer,
schwierige Klassen dadurch „ruhigzustellen“, dass sie ihnen eine „stille Selbstbeschäftigung“ – natürlich mit dem laufenden Stoff – gestatteten. Dieser gönnerhafte Verzicht auf Unterricht war in Wahrheit eine Form der Kapitulation vor den
disziplinarischen Schwierigkeiten, die in
Schulklassen immer wieder auftreten –
auch am Gymnasium. Die Lehrer gingen
selbstverständlich von der Annahme aus,
den Schülern dadurch einen Gefallen zu
tun, dass sie ihnen die Konfrontation mit
dem anstrengenden Stoff ersparten.
Allzu oft erweckt das aufmüpfige Gebaren der Schüler, der Gestus des hinhaltenden Widerstandes den Anschein, sie
wollten nur eines: das Lernen vermeiden. Das mag für einige Schüler in einer
Klasse durchaus zutreffen, keineswegs
aber für die Mehrheit. Die aufgeweckte
Schülerin, die diesen bemerkenswerten
Satz sagte, sprach für diejenigen, die etwas lernen wollten und die von der Lehrkraft zu Recht erwarteten, dass sie in der
Lage ist, eine ruhige Lernatmosphäre
herzustellen, auch wenn es einer Kraftanstrengung bedarf und mit Konflikten verbunden ist.
Mir wurde durch die Frage der Schülerin auch klar, dass Schüler oft hellsichtige Beobachter dessen sind, was sie täglich im Unterricht erleben. Es ist ihnen
keineswegs egal, was die Lehrer vor ihren Augen veranstalten. Sie haben ein feines Gespür dafür, ob sie beim Geschichtslehrer etwas lernen oder ob er nur mit ihnen plaudert, ob der Mathelehrer die Rechenoperationen, die er an die Tafel
schreibt, auch verständlich erklären
kann. An einem Berliner Gymnasium
durften Schüler in altersgerechten Fragebögen ihre Lehrer bewerten. Ein häufig
geäußerter Kommentar lautete: „Bei
Herrn X / Frau Y lernt man nichts.“ Die
Schüler wollen also lernen, und wenn sie
erleben, dass der Lernstoff unverstanden
an ihnen vorbeirauscht, empfinden sie
das als echte Strafe.
Schüler unterhalten sich sehr gern über
ihre Lehrer. Wenn die jugendtypischen
Themen wie die neueste Mode oder die
gerade angesagte Musik abgehakt sind, reden die Schüler ausgiebig und mit Hingabe über die Vorzüge und die Nachteile ihrer Lehrer. Dabei spielen oft die Aspekte
eine Rolle, die mit der Persönlichkeit des
Lehrers zusammenhängen. Denn die Akzeptanz, die Schüler einem Lehrer entgegenbringen, macht sich vor allem an Persönlichkeitsmerkmalen fest, wozu Kleidung, Sprechweise und die Körpersprache gehören. Bei einem neuen Lehrer erkennen sie blitzschnell, ob eine selbstsichere Person vor ihnen steht oder ein
„schwankendes Rohr im Wind“. Die Ausstrahlung, die eine Person besitzt, wird
von den Schülern spontan und intuitiv
wahrgenommen. Nach meiner Erfahrung
unterschätzen Lehrer gerne diese „weichen Faktoren“ ihrer Profession, weil sie
auf die Kraft der Regeln und auf ihre Autorität vertrauen, die schon alles richten
werden.
Diesem Irrtum kommen „schülerzugewandte“ Lernmethoden entgegen, die
eine Abkehr von lehrerdominierten Lehrformen im Sinn haben, vor allem vom
Frontalunterricht. Auch hier gab mir
eine Schülerin zu denken. Nach einer längeren Phase der Gruppenarbeit im
Deutsch-Leistungskurs fragte mich die
aufgeweckte Abiturientin: „Wann machen Sie denn mal wieder Ihren Frontal-
Fragt der Schüler den Lehrer: „Müssen wir heute schon wieder das machen, was wir machen wollen?“
unterricht?“ Das klug geführte Unterrichtsgespräch wird von den Schülern als
besonders effektive, informative, sie keineswegs bevormundende Lernform wahrgenommen. Die Gruppenarbeit erleben
sie hingegen oft als ineffektiv und chaotisch. Vor allem dann, wenn im Kurs
oder in der Klasse zuvor nicht eisern an
den Spielregeln der Gruppenarbeit gefeilt worden ist. Vor allem gute Schüler
hadern mit der Gruppenarbeit, weil sich
dabei häufig die Gewohnheit einschleicht, dass sie die Hauptlast der Arbeit zu tragen haben, während die schwächeren Schüler als Trittbrettfahrer an ihren Ergebnissen partizipieren. Ich habe
deshalb mitunter die leistungsstarken
Schüler in einer Gruppe versammelt und
ihnen auch anspruchsvollere Aufgaben
gegeben. Dies hat mir allerdings von einigen Kollegen den Vorwurf der sozialen
Selektion eingebracht.
Es ist ein gern gepflegtes Vorurteil,
das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch sei identisch mit dem notorischen
Monologisieren, mit dem die Studienräte
in den 1950er und 1960er Jahren ihre
Schüler traktiert haben. Weit gefehlt.
Das Unterrichtsgespräch ist eine anspruchsvolle Lernmethode, die, wenn sie
vom Lehrer beherrscht wird, zu spannenden und lehrreichen Unterrichtsstunden
führen kann. Die Betonung liegt durchaus auf dem Wort „Gespräch“. Der Lehrer muss die Schüler im Dialog an den
Lernstoff heranführen, sie an den Überraschungen und Zumutungen teilhaben
lassen, die er bereithält. Für den großen
Germanisten Eberhard Lämmert ist das
Gespräch die „menschenbildende und
menschenbindende Wechselrede“. Die
beiden Adjektive kann man ruhig wörtlich nehmen: Ein klug geführtes Unterrichtsgespräch „bildet“ und „(ver)bindet“. Wissen und Sozialverhalten gehen
dabei Hand in Hand.
Ich kann mich noch gut an eine
Deutschstunde in einem Oberstufenkurs
erinnern. Ich präsentierte den Schülern
das Gedicht „Der Mensch“ von Matthias
Claudius. Die Schüler tauchten ein in die
für sie befremdliche Welt von Empfindsamkeit und naiver Frömmigkeit: „Empfangen und genähret / Vom Weibe wunderbar“. Das Wunder der Entstehung eines Kindes kommt zur Sprache. Ist die Retortenzeugung von Kindern auch noch
ein Wunder? Darf der Mensch eigentlich
in die Geschehnisse der Schöpfung eingreifen? Der Text von Claudius verstört
durch seine unerschütterliche Ruhe und
Glaubensgewissheit: „Dann legt er sich
zu seinen Vätern nieder / Und er kömmt
nimmer wieder.“ Der Blickwinkel der
Diskussion weitet sich. Die letzten Dinge
kommen zur Sprache. Schüler im Alter
von 17 und 18 Jahren lieben den spekulativen Diskurs. Sie bringen alles vor, was
zum Thema Tod gerade in Umlauf ist:
Fernöstlich-Esoterisches, Naturwissenschaftliches, Christliches, auch Persönliches. Das Gedicht hat den Horizont geöffnet für eine Diskussion mit philosophischem Gehalt. Glaubt jemand im Ernst,
dieses Lehrer-Schüler-Gespräch hätte
die Schüler „dominiert“, sie gar „bevormundet“? Lehrer haben nun einmal einen großen fachlichen Vorsprung. Es
kommt darauf an, ihn im Sinne der Schüler einzusetzen. Dafür ist das Unterrichtsgespräch sehr gut geeignet.
Hätte man die Schüler, wie es bei der
Methode des „individuellen Lernens“ üblich ist, mit diesem Gedicht und einigen
Erschließungsfragen allein gelassen, hätte die Mehrzahl der Schüler die oben geschilderte Tiefenschicht des Gedichts gar
nicht erschließen können. Was sich in einem Gespräch oder einer Diskussion an
gemeinsam gewonnenen Erkenntnissen
ergibt, lässt sich durch die schriftliche Beantwortung von Fragen zum Text nie erreichen. Es gehört zu den traurigen Folgen dieser vermeintlich schülerfreundlichen Methode, dass sie die Schüler um
die Bildungserlebnisse betrügt, die sich
nur im Gespräch gewinnen lassen.
Mit einem Referendar, den ich als Mentor betreute, hatte ich einmal eine interessante Diskussion. Er fragte mich, ob ich
ihm für seine Deutsch-Lehrprobe in einer zehnten Klasse einen guten Text empfehlen könne. Ich meinte, „Der Nachbar“
oder „Eine kaiserliche Botschaft“ von
Franz Kafka seien gute, altbewährte Texte, die bei Schülern wegen ihres existentiellen Gehalts gut ankommen und mit
denen man auch ihr Textverständnis herausfordern kann. Der Referendar blickte
mich etwas verzagt an und meinte dann,
der Fachseminarleiter wolle von ihm
„Lernen an Stationen“ sehen. Darauf sagte ich ironisch, dann könne er Kafka vergessen. Kafkas Texte ließen sich nicht an
Stationen lernen, dazu brauche man einen soliden Bahnhof.
Es ist modisch geworden, die Methode
des Unterrichtens wichtiger zu nehmen
als die zu vermittelnden Inhalte. Früher
fragte ein Lehrer, wenn er eine Deutschstunde für eine 8. Klasse plante: „Welcher
Text ist für Schüler, die sich gerade in der
Pubertät befinden, geeignet, um ihnen
ein wenig Orientierung zu geben?“ Heute
fragt man: „Welche Kompetenzen sind im
Kompetenzraster noch abzuarbeiten?“ In
der Pädagogikabteilung von Buchhandlungen stößt man zuhauf auf Titel wie
„Methodentraining“,
„Lerntraining“,
„Abiturtraining“, „Kompetenzen trainieren“. Man fragt sich, ob man nicht aus Versehen in der Sportabteilung gelandet ist.
Nach meiner Erfahrung verändert die
Kompetenzorientierung die Sicht auf den
zu planenden Unterricht. Die Stoffe, die
schwierig zu erschließen sind, werden gerne „geopfert“, wenn sie sich nicht mit einer der gängigen Kompetenzen vermitteln lassen. Leider gehen dabei auch die
Stoffe verloren, die bei den Schülern auf
Begeisterung stoßen könnten. Schüler für
den Lernstoff zu entflammen ist das Erfolgsrezept eines guten Unterrichts. Ein
langweiliger Unterricht ist für Schüler oft
das Schlimmste, was sie in der Schule erleben. Sie leiden darunter und fangen an,
den Lehrer als „Schlafpille“ zu hassen.
Deshalb ist es bedauerlich, dass das formale Prinzip der Kompetenzorientierung
dazu beiträgt, die Spannungsmomente im
Unterricht, die durch den Lehrstoff gegeben sein könnten, abzutöten.
Damit sich gute Unterrichtskonzepte
in der Schule verbreiten, führte das oben
schon erwähnte Gymnasium eine „revolutionäre“ Neuerung ein: das offene Klassenzimmer. Lehrer wurden angehalten,
spannende Stunden im Lehrerzimmer anzukündigen und die Kollegen dazu einzuladen. So erlebte ich – fachfremd – eine
besonders pfiffige Physikstunde, 8. Klasse: das Prinzip des Auftriebs, demonstriert an Ostereiern. Die Lehrerin stellte
drei mit Flüssigkeit gefüllte Glaszylinder
auf das Lehrerpult. Dann gab sie unterschiedlich gefärbte Ostereier hinein. Das
rote Ei sank bis auf den Grund, das gelbe
verharrte in der Mitte, und das blaue
blieb an der Oberfläche schweben. Die
Schüler rätselten, warum sich die Eier so
verhielten. Nach vielen Irrwegen („Es
liegt an der Farbe“) kam ein Schüler auf
die richtige Idee: Es liegt an dem unterschiedlichen Zustand der Flüssigkeiten.
Der Rest der Stunde war klassische Physik mit Formeln und Rechenoperationen.
Die fünf „Gäste“ aus dem Kollegium waren begeistert, weil sie etwas erlebt hatten, was jeden Unterricht bereichert: eine
originell aufbereitete Problemstellung
und ein klug geführtes Unterrichtsgespräch.
Nach meiner Erfahrung schlummert
das größte Qualitätspotential unserer
Schulen in der fachlich-methodischen
Verbesserung des Unterrichts. Dazu brauchen wir keine neuen Schulformen und
keine didaktischen „Erfindungen“. Wir
brauchen nur leidenschaftliche und kreative Lehrer.
Guter Unterricht lebt aber nicht nur
von seinen spannenden Momenten. Schü-
Foto dpa
ler lieben es auch, mit geistigen Herausforderungen konfrontiert zu werden. Sie
dabei zu überfordern ist allemal besser,
als sie mit flauen Inhalten abzuspeisen.
In meinem Deutschunterricht habe ich
gerne solche Texte besprochen, von denen ich annahm, dass sie für die geistige
Reifung junger Menschen unverzichtbar
sind. Dabei ließ ich mich von dem Vorsatz leiten: Inhalt vor Methode, geistiger
Mehrwert vor Kompetenz. Das Gedicht
„An den Mond“ von Johann Wolfgang
von Goethe („Füllest wieder Busch und
Tal / Still mit Nebelglanz . . .“) war für
mich immer erste Wahl. Zum einen ist es
eines der wertvollsten Gedichte Goethes
aus seiner klassischen Periode, erfüllt
also einen hohen literarischen Anspruch. Zum anderen ist es makellos
schön, vollendet in Gehalt, Form und
sprachlicher Gestalt – es hat also eine ästhetische Qualität. Zum dritten enthält
es eine Botschaft, die jungen Menschen
auch in unserer modernen Zeit etwas
Wichtiges vermitteln kann: Ein erfülltes
Leben gibt es auch jenseits des großen
Weltgetriebes („Selig, wer sich vor der
Welt / Ohne Hass verschließt . . .“). Das
Gedicht bietet also Sinnstiftung und geistige Orientierung.
Wäre es wirklich vertretbar, eine solche Kostbarkeit unter den Tisch fallenzulassen, weil sie wegen ihrer schwierigen
Erschließbarkeit den „schülerzugewandten Lehrmethoden“ und der „Kompetenzorientierung“ widerstrebt? Man muss es
sich vergegenwärtigen: Gerade das, was
die Qualität unserer klassischen Texte
ausmacht, ihre poetische Codierung, erweist sich als Hindernis für ihre Behandlung im Unterricht „moderner“ Prägung.
Wenn man als Lehrer schon länger im
Geschäft ist, hat man viele didaktische
Moden kommen und gehen sehen. Dabei
stellt man immer wieder beruhigt fest,
dass das eigentliche Anliegen der Lehrertätigkeit sich nie verändert: Schulische
Erziehung und Bildung dienen dazu,
dem Kind die wunderbare Welt des Wissens zu erschließen und ihm das Tor zur
Welt der Erwachsenen zu öffnen. Dabei
kommt es vor allem darauf an, dass der
Lehrer authentisch und glaubhaft für das
steht, was er den Schülern vermittelt. Ich
habe mich gerne von der „Erlaubnis“ des
Pädagogen Jochen Grell leiten lassen:
„Du darfst direkt unterrichten, auch die
ganze Klasse auf einmal. Du brauchst
dich nicht dafür zu schämen, dass du
Schüler belehren willst. Die Schule ist ja
erfunden worden, damit man nicht jedes
Kind einzeln unterrichten muss.“
Rainer Werner ist Gymnasiallehrer für Deutsch
und Geschichte in Berlin.
Ein Cluster für die Kleinen
Universitäten und Forschungseinrichtungen warten in diesen Tagen gespannt auf
die Vorschläge der sogenannten Imboden-Kommission zur Fortsetzung der Exzellenzinitiative und die daraus folgende
Bund-Länder-Initiative. Es ist noch keineswegs ausgemacht, ob es bei dem wissenschaftsgeleiteten Verfahren einer Förderung der Spitzenforschung bleibt oder
ob die Exzellenzinitiative durch andere
Kriterien verwässert wird, wofür es derzeit Anzeichen gibt. Das wäre etwa dann
der Fall, wenn die zweifellos notwendige
Nachwuchsförderung und die Qualität
der Lehre mitberücksichtigt würden. Für
die Nachwuchsförderung seien längst die
Länder in der Pflicht, heißt es beim Hochschulverband, und zur Förderung der gu-
Foto Deutscher Hochschulverband
Warum der Präsident des Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, eine Reform der Exzellenziniative erreichen will / Von Heike Schmoll
Bernhard Kempen lehrt Staatsrecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht in Köln, er ist Präsident des DHV.
ten Lehre müssten andere Förderinstrumente auf den Weg gebracht werden.
Auf Initiative der Hochschullehrer, die
er vertritt, hat der Deutsche Hochschulverband nun seine Überlegungen zur Zukunft der Exzellenzinitiative vorgelegt,
die dieser Zeitung vorliegen. Er plädiert
darin entschieden für eine Fokussierung
auf die universitäre Spitzenforschung.
Den strukturellen Kern sollten die Exzellenzcluster bilden, allerdings in einer
durchaus erweiterten Form. Bisher war
die Kooperation einer außeruniversitären
Forschungseinrichtung mit einer Universität das Konstruktionsmerkmal der meisten Exzellenzcluster. Der Präsident des
Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, plädierte dieser Zeitung ge-
genüber dafür, dass auch einzelne Institute oder Professoren einen Cluster bilden
könnten. Auf diese Weise, so Kempen, kämen auch kleine Fächer in den Genuss
der Förderung. „Warum sollten sich nicht
herausragende Historiker an einem Standort mit exzellenten Kollegen an anderen
Universitäten zusammentun, um ein außergewöhnliches Forschungsprojekt von
internationalem Rang auf den Weg zu
bringen?“, sagte Kempen. Für solche Förderkonzepte gebe es auch neben den Fördermöglichkeiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) noch genügend Raum.
Die sogenannten „Zukunftskonzepte“,
die im Wesentlichen auf „Antragsexzellenz“ beruhten, also auf Forschungsvorha-
ben, die den Realitätstest erst noch bestehen mussten oder müssen, hält Kempen
für völlig überschätzt. Die Graduiertenschulen indessen hätten sich bewährt.
Künftige Exzellenzuniversitäten sollten
also mindestens eine Graduiertenschule,
einen Exzellenzcluster alten Stils (Kooperation mit außeruniversitärer Forschung
oder Wirtschaft) und einen Cluster nach
DHV-Konzept aufweisen. Für realistisch
hält Kempen etwa zehn Standorte. Allerdings plädiert er im Namen des DHV dafür, das durchschnittliche Fördervolumen
von 385 Millionen Euro zu erhöhen. Mit
den bisherigen Mitteln könnten deutsche
Universitäten nicht in die Spitzenliga britischer und amerikanischer Universitäten
vorstoßen.
Wer den Föderalismus ernst nimmt, muss
akzeptieren, dass es unterschiedliche
Kompetenzen zwischen Bund und Ländern gibt und dass unterschiedliche politische Entscheidungen in den Ländern zu
unterschiedlichen wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Entwicklungen führen
können. Die Unterschiede lassen sich
nicht durch immer neue, durchaus kreative Vorschläge für finanzielle Ausgleichszahlungen des Bundes an die Länder kompensieren. Mit ihrer Forderung nach einer „Bundesergänzungszuweisung für Forschungsförderung“ stellt die SPD das bewährte, an Leistungs- und Wettbewerbsgesichtspunkten orientierte Prinzip der
Forschungsförderung des Bundes an die
Länder auf den Kopf. Ihre Forderung
nach einer neuen Zuweisung begründen
die SPD-geführten Länder damit, dass die
Forschungsförderung des Bundes sich
„nicht nach den Kriterien einer gleichmäßigen Verteilung“ richte. Über das Konstrukt einer „Bundesergänzungszuweisung“ will die SPD deshalb leistungsschwachen Ländern, die in den wettbewerblich orientierten Verfahren der Forschungsförderung des Bundes unberücksichtigt bleiben, „über die Hintertür“ einen finanziellen Ausgleich verschaffen.
Eine solche Ergänzungszuweisung konterkariert jeden Leistungs- und Wettbewerbsgedanken zwischen den Bundesländern, der ein Wesensmerkmal des funktionierenden Föderalismus ist. Das „Exzellenzprinzip“ in der Forschungsförderung
des Bundes, das dem deutschen Wissenschaftssystem in den vergangenen Jahren
eine enorme internationale Sichtbarkeit
beschert hat, würde durch ein tristes
„Gießkannenprinzip“ ersetzt. Allein das
zeigt, wie sich bei der SPD – trotz der parteiübergreifend anerkannten Erfolge der
Exzellenzinitiative – ideologisch geprägte gegenüber lösungs- und zielorientierten Erwägungen durchsetzen.
Ein weiteres Beispiel für die wenig einfallsreichen, dafür aber ideologiebehafteten Vorschläge der SPD ist die in der
Flüchtlingsdebatte abermals erhobene
Forderung nach einer vollständigen Abschaffung des Kooperationsverbotes.
Nachdem der Bund über die vollzogene
Änderung des Artikels 91b Grundgesetz
bereits größere Gestaltungsmöglichkeiten
bei der Förderung von Forschung und Lehre an Universitäten und Hochschulen erhalten hatte, soll er nach den Vorstellungen der SPD zukünftig auch bei den schulpolitischen Aufgaben der Länder mitwirken. Der SPD geht es dabei jedoch weder
um die Sicherung eines (bundes-)einheitlichen Qualitätsniveaus in der Schulbildung
noch um eine Entflechtung und Vereinfachung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, sondern vorrangig um weitere Bundesmittel für die Länder. Das ist in der Sache nicht akzeptabel. Wenn der Bund sich
finanziell beteiligt, muss er auch inhaltlich mitreden können. Das ist bislang an
den Widerständen der Bundesländer gescheitert.
Noch nie hat der Bund so viel Geld an
die Länder gegeben. Allein in dieser Wahlperiode hat er durch die Übernahme der
vollen Bafög-Finanzierung die Länder
dauerhaft um 1,15 Milliarden Euro pro
Jahr entlastet und den Ländern neue finanzielle Spielräume für die Hochschulfinanzierung eröffnet. Auch in den beiden vorangegangenen Legislaturperioden hat
sich der Bund bereits überdurchschnittlich
an der Finanzierung von Forschung und
Lehre beteiligt: Fast jeder fünfte öffentliche Euro für die Hochschulen kommt mittlerweile vom Bund. Dies zeigt der am 17.
Dezember von Statistischen Bundesamt
vorgelegte „Bildungsfinanzbericht 2015“.
Die Bildungsausgaben des Bundes steigen
nach den Haushaltsansätzen im Jahr 2015
auf 9,1 Milliarden Euro und liegen damit
gut 80 Prozent über dem Wert von 2008
(5,1 Milliarden Euro). Die massive Steigerung der Bildungsausgaben des Bundes
kommt dabei insbesondere den Hochschulen zugute.
Das haben die Länder zum Anlass genommen, ihre Anstrengungen in Bildung
und Forschung zu reduzieren und sich
schrittweise aus der Verantwortung für
ihre originären Zuständigkeiten zurückzuziehen. Die Ursache für die von der SPD
als mangelhaft gesehene Ausstattung von
Forschung und Lehre liegt darin, dass einige Länder ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe nicht nachkommen, den Hochschulen eine ausreichende Grundfinanzierung
zu sichern. Es darf deshalb bezweifelt werden, dass die über den Hochschulpakt pauschal zur Verfügung gestellten Bundesmittel von den Ländern zweckentsprechend
eingesetzt werden und der Verbesserung
von Bildung und Forschung in der Fläche
zugutekommen. Weder die Forderung
nach einer Aufhebung des Kooperationsverbotes für den Schulbereich noch die
Einführung einer „Bundesergänzungszuweisung für Forschungsförderung“ werden diesen Widerspruch aufheben. Die
Länder sind gefordert, ihre Verantwortung für ihre Schulen und Hochschulen
wahrzunehmen. Der Bund steht zu seiner
Verantwortung für die überregionale Förderung des Wissenschaftssystems und
hält an den exzellenzorientierten Kriterien der Mittelzuweisung unverbrüchlich
fest. Diesem Grundsatz wird die Union
auch bei den im Jahr 2016 anstehenden
Verhandlungen über die Fortsetzung der
Exzellenzinitiative und über die zukünftige Architektur unseres Wissenschaftssystems folgen.
Der Autor ist Generalsekretär des CDU-Landes-
verbandes Sachsen und stellvertretender CDUBundesvorsitzender.
WOZ Nr. 04/2016 vom 28.01.2016
Der Umbruch kam auf leisen Sohlen
In den letzten 25 Jahren hat sich die Schule stark verändert. Viele LehrerInnen kritisieren
neue Hierarchien, fehlende Mitsprache und überbordende Bürokratie. Wie ist es dazu
gekommen? Und was lässt sich dagegen tun?
Von Bettina Dyttrich
Georg Geiger ist seit bald zwanzig Jahren Gymnasiallehrer in Basel. Und er ist es gerne:
Literatur, Philosophie und Geschichte faszinieren ihn, und er mag die Arbeit mit
Jugendlichen. In diesem Beruf kann er beides verbinden.
Dennoch findet Geiger die Arbeit in der Schule zunehmend frustrierend: «Man hat einen
immer grösseren administrativen Aufwand und immer weniger zu sagen.» Standardisierte
Vergleichstests im ersten Gymijahr, immer wieder Fragebögen, die akribisch ausgewertet
werden müssen, MitarbeiterInnengespräche, an denen «Zielvereinbarungen» formuliert
werden, Formulare für die Absenzen und die Praktika, Prüfungsdokumentationen …
Gleichzeitig schwinde die Mitsprache: «In unserer Schule wird ein neuer Rektor gewählt.
Bisher hatte das Kollegium ein Anhörungsrecht. Wer Rektor werden wollte, stellte sich vor,
und es gab eine strukturierte Diskussion. Jetzt wird das abgeschafft. Der Mittelschulleiter des
Basler Erziehungsdepartements sagt, Hearings seien aus Personenschutzgründen nicht
rechtens und könnten zu unzumutbaren Blossstellungen führen. Dabei ist das nie passiert!»
Gremien erfinden sich selbst
Auf vielen Ebenen sei die Schule hierarchischer geworden, sagt Geiger: «Man hat immer
mehr Funktionsstellen über sich. Gremien entstehen, indem sie behaupten, sie seien zuständig.
Zum Beispiel treffen sich in Basel die Gymirektoren regelmässig mit dem kantonalen
Mittelschulleiter – dieses Gremium hat nie jemand offiziell eingeführt. Vielleicht ist diese
Entwicklung nötig, weil die Strukturen grösser und komplexer werden. Aber als Lehrer erlebe
ich sie als Entdemokratisierung.»
Es sei schwierig, sich zu wehren, da viele Reformen mit hehren Absichten verkauft würden:
«Man nimmt einen guten Gedanken – etwa die Inklusion behinderter Kinder in die
Regelklassen – und setzt ihn bürokratisch von oben nach unten um. Das Ergebnis ist oft
schlechter und teurer als das, was vorher war. Jetzt zwängt man diese Kinder in den
Regelunterricht, aber es darf nicht mehr kosten. Sie sind heillos überfordert.»
Georg Geiger ist nicht der Einzige. Viele LehrerInnen aller Stufen berichten Ähnliches: Die
Schule werde hierarchischer, verbunden mit einer überbordenden Bürokratie, sie fühlten sich
nicht mehr ernst genommen und hätten immer weniger Zeit für ihre Kernaufgabe – das
Unterrichten.
Auch die LehrerInnen, die sich im letzten Herbst der Debatte «Was läuft schief in der
Bildungspolitik?» des linken Thinktanks Denknetz im Liestaler Kulturzentrum Palazzo zu
Wort melden, sind sich weitgehend einig: «Man will nicht mehr, dass die Basis die Schule
gestaltet.» Ein Lehrer erzählt, er habe gekündigt, weil er sich so entmündigt gefühlt habe:
«Das Schulhaus wurde renoviert, und unsere Bedürfnisse wurden null berücksichtigt, nicht
einmal bei den Waschbecken. Dasselbe bei der Abschaffung der Kleinklassen: Es gab keine
Mitsprache, es wurde einfach befohlen.» Ein anderer berichtet von Bewerbungsgesprächen
für eine Schulleitungsstelle: «Die Bewerber wurden gefragt: ‹Sind Sie bereit, Entscheidungen
gegen den Willen Ihrer Lehrpersonen durchzusetzen?›»
Globalisierung fördert Kantönligeist
Die aktuelle Diskussion entzündet sich am Lehrplan 21 (vgl. «Das Misstrauen der
LehrerInnen»). Doch die Gründe für den Unmut liegen tiefer. In den letzten zwei Jahrzehnten
blieb in den Schulen kaum ein Stein auf dem anderen. Die Laiengremien, die in der
föderalistischen Schweiz seit dem 19. Jahrhundert eine grosse Rolle in der Schulverwaltung
und -aufsicht spielten, haben an Bedeutung verloren: Ausser in Appenzell Innerrhoden sind
Schulleitungen heute in der ganzen Deutschschweiz Standard. Aus der
Lehrerseminarausbildung, die direkt nach der Sekundarschule begann, ist ein Masterstudium
geworden. Gleichzeitig wälzte der Bologna-Prozess die universitäre Bildung um – auch die
LehrerInnenbildung. Und spätestens seit den ersten Pisa-Tests im Jahr 2000 hat die Debatte
über schulische Standards und schulübergreifende Tests die Schweiz erreicht.
Es sind internationale Entwicklungen, auf die die Schweiz reagiert. Aber weil hierzulande die
Kantone für die Schulbildung zuständig sind, trifft die internationale Ebene direkt auf die
kantonale – Globalisierung vermischt sich mit Kantönligeist. Oder fördert ihn sogar: «Die
Globalisierung hat zu viel mehr Wettbewerb zwischen den Kantonen geführt», sagt der
ehemalige Aargauer SP-Nationalrat Hans Zbinden. «Alle sehen sich als ‹Standortkantone›.
Dieser Wettbewerb fördert den Lernaustausch nicht. Es ist wie früher im Klassenzimmer:
Man stellt ein Mäppchen auf, damit der Banknachbar nichts sieht.»
Zbinden sass bis 2002 im Nationalrat, er hat auf allen Stufen der Schweizer Bildung
gearbeitet – als Kindergärtner, Primarlehrer, Rektor, Hochschuldozent – und war vielleicht
der letzte linke Bildungspolitiker mit gesamtschweizerischem Blick. «In der Bildung ist die
Schweiz bis heute ein Staatenbund, kein Bundesstaat», sagt er heute. Entsprechend steht an
der Spitze der Schweizer Volksschule kein Bundesamt, sondern die
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), das Gremium der zuständigen Regierungsräte. «Weil
die Arbeitsbedingungen kantonal sind, fokussiert sich die Bildungspolitik stark auf die
kantonale Ebene, auch in der SP», sagt Zbinden.
Grosse Veränderungen – wie die geleiteten Schulen – kamen schleichend: Ein Kanton nach
dem anderen führte sie ein, und am Ende war die Schule eine andere, ohne dass eine
gesamtschweizerische Diskussion stattgefunden hatte. Genauso diskussionslos hat die
Schweiz 1999 die Bologna-Deklaration unterzeichnet. Hingegen verursachen viel weniger
grundlegende Fragen wie die erste Fremdsprache riesige Kontroversen. «Laute
Kleinreformen – leise Grossreformen» hat Zbinden dieses Paradox schon vor einigen Jahren
auf den Punkt gebracht.
Hans Zbinden hat den neuen Bildungsverfassungsartikel entworfen, über den 2006
abgestimmt wurde. Damit sollten die Dauer von Primar- und Sekundarschule, die
Bildungsinhalte und die Übertritte von einer Stufe in die andere vereinheitlicht werden – so
weit, dass Kinder problemlos den Kanton wechseln können, ohne den Anschluss zu verlieren.
Der Bildungsartikel war ein grosser Schritt weg vom Kantönligeist – nur interessierte er
damals niemanden: Ein Abstimmungskampf fand nicht statt, die Stimmbeteiligung lag bei
gerade einmal 27 Prozent, davon stimmten 86 Prozent Ja. «Es gab keine Diskussion und
deshalb auch keine Verankerung in der Öffentlichkeit», sagt Zbinden heute.
Umso heftiger brach die Diskussion um das Harmos-Konkordat los, das den
Verfassungsartikel umsetzen sollte. Rechte und freikirchliche Kreise fürchteten eine
«Verstaatlichung der Kindheit», ergriffen in vielen Kantonen das Referendum und gewannen
es teils auch, etwa in Schwyz, Luzern und im Thurgau. Seither folgt eine
Volksschulkontroverse auf die andere.
Alle Macht den Schulleitungen?
Die Schule ist hierarchischer geworden – doch das liegt weniger an Harmos oder an
Beschlüssen der EDK als an der neuen Hierarchiestufe in jedem Schulhaus: den
SchulleiterInnen. Sie beurteilen den Unterricht der Lehrkräfte, stehen im Kontakt mit
staatlichen Stellen, Heilpädagoginnen, Schulpsychologen und Eltern und planen Projekte, die
das ganze Schulhaus betreffen.
«Die Einführung der Schulleitungen war eine viel tiefgreifendere Änderung als der Lehrplan
21», sagt Christina Rothen. «Aber es gab nirgends einen Aufschrei.» Rothen war
Primarlehrerin, danach studierte sie Erziehungswissenschaften, dozierte an der Pädagogischen
Hochschule Nordwestschweiz, schrieb ihre Dissertation über die Primarschulverwaltung im
Kanton Bern und arbeitet jetzt an der Universität Zürich. Gute Voraussetzungen, um die
unübersichtliche Deutschschweizer Bildungslandschaft zu verstehen. Die Schulleitungen sieht
sie kritisch: «Ihre Einführung war mit den New-Public-Management-Verwaltungsreformen
verbunden. Es ist widersprüchlich, die Lehrerausbildung professionalisieren zu wollen und
gleichzeitig eine neue Hierarchiestufe einzuführen, die die Selbstbestimmung der Lehrerinnen
und Lehrer untergräbt. Sie können ihre Arbeit nicht selbst gestalten, wenn sie einer Hierarchie
gegenüber loyal sein müssen.» Sie vertrete die Philosophie, dass man Macht bändigen müsse,
indem man sie verteile, sagt Christina Rothen. Mit den Schulleitungen sei das Gegenteil
geschehen: «Wir geben Einzelpersonen sehr viel Macht. Damit das gut geht, braucht es
unglaublich gute, integre Leute auf diesen Posten.»
Was nicht immer der Fall ist. Schulleitungen könnten «sowohl rational als auch irrational
handeln», schreibt Christina Rothen lakonisch in ihrer Dissertation. Wer im Alltag mit
LehrerInnen zu tun hat, kennt die Geschichten von SchulleiterInnen, denen persönliche
Machtkämpfe wichtiger sind als das Wohl der Schule. «Eine gute Schulleitung gibt den
Lehrpersonen Freiheiten, eine schlechte ist der Horror», fasst die Erziehungswissenschaftlerin
zusammen. «Ich denke, dass sich als Folge dieser Entwicklung auch andere Leute für den
Lehrerberuf entscheiden als früher. Solche, die sich in Hierarchien wohlfühlen.»
Auch das New Public Management (NPM) war und ist eine internationale Entwicklung – aber
eine, die bestens zur geschäftstüchtigen Schweizer Mentalität passt. Vorreiter des NPM in der
Schule war der Zürcher CVP-Regierungsrat Ernst Buschor, bei der Umsetzung der
Verwaltungsreformen arbeiteten vielerorts SozialdemokratInnen und Neoliberale zusammen –
es hat mit solchen Allianzen zu tun, dass viele linke LehrerInnen das Gefühl haben, mit ihrer
Kritik gegen eine Wand anzurennen. Er habe oft mit SP-KollegInnen gestritten, weil sie
zusammen mit der FDP das New Public Management am stärksten unterstützt hätten, sagt
Hans Zbinden. Georg Geiger erwähnt die gleichen Verbindungen: «FDP- und SP-Leute
treiben die Hierarchisierung und Normierung in den Schulen voran – die einen aus
ökonomischen Gründen, die anderen, weil sie denken, das mache die Schule gerechter.»
Wer New-Public-Management-Literatur liest, wundert sich nicht mehr, dass kritische
LehrerInnen manchmal leicht paranoid klingen. Zum Beispiel «Die teilautonome Schule»
(2011) von Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs, einem ehemaligen Rektor der Universität
St. Gallen: Zu den Merkmalen des New Public Management zählt Dubs explizit den
«Widerstand gegen Forderungen der Gewerkschaften». Um die Lehrkräfte weniger
misstrauisch zu machen, solle man statt von NPM lieber von «wirkungsorientierter
Verwaltungsführung» sprechen. Das Buch liest sich wie ein Ratgeber im Umgang mit
widerspenstigen LehrerInnen.
Ein dicker Kompass
Und jetzt also der Lehrplan 21. Er listet auf, was SchülerInnen alles können müssen: 363
«Kompetenzen», aufgeteilt in über 2000 «Kompetenzstufen». Solche
Wirtschaftsjargonbegriffe machen KritikerInnen misstrauisch. Sie befürchten, Bildung werde
auf messbare Tätigkeiten reduziert und damit ihres kritischen Potenzials beraubt. Wer den
Lehrplan liest, stösst allerdings auf viele «Kompetenzen», die in bester Tradition der
Aufklärung stehen und sich kaum messen lassen: Die SchülerInnen sollen sich etwa mit
Geschlechterrollen auseinandersetzen, die Menschenrechte kennen oder ihr Konsumverhalten
reflektieren.
Hans Zbinden versteht die Aufregung um den Kompetenzbegriff nicht ganz: «Er wurde auch
früher schon in der Pädagogik verwendet. Ich finde ihn nicht so schlimm, weil sowieso
niemand genau weiss, was er bedeuten soll.» Trotzdem sieht er den Lehrplan 21 kritisch –
dieser sei von Anfang an falsch konzipiert worden: «Nicht von den Betroffenen her, sondern
top-down.»
Die Erziehungsdirektorenkonferenz habe den Verfassungsartikel falsch verstanden: «Ich habe
ihn bewusst Bildungsrahmenartikel genannt: Oben setzt man einen Rahmen, aber lässt darin
viel Gestaltungsspielraum, Raum für kreative Lösungen. Mir schwebte das so vor: Ein Drittel
legt der Bund fest, ein Drittel die Kantone, ein Drittel die Schulen vor Ort. Mit einem solchen
Konzept hätte man die Bevölkerung hinter sich, da bin ich überzeugt. Und man könnte
sprachregionale und regionale Spezifika belassen. Partnerschaftlich statt top-down.»
Ein Lehrplan müsse ein Alltagswerkzeug sein, ein Kompass. Aber dafür sei der Lehrplan 21
viel zu umfangreich. «Viele gute Leute aus der Praxis waren bei der Planung dabei, aber man
sieht, dass alle versuchten, ihre Interessen reinzubringen. Welcher Lehrer hat im Alltag Zeit,
ein solches Buch zu lesen?»
Wochenlang testen
Viel beunruhigender als der Lehrplan ist allerdings eine andere Entwicklung: das
überbordende Testwesen. Einige Kantone setzen auf standardisierte «Checks», die ausserhalb
der Schule von Universitätsinstituten oder Firmen entwickelt und ausgewertet werden. In der
Nordwestschweiz sind sie bereits üblich.
Die Kantone Basel-Stadt und Baselland, Aargau und Solothurn arbeiten in Bildungsfragen
zusammen, koordinieren die LehrerInnenbildung und haben nun auch gemeinsam Checks in
der Volksschule eingeführt – in Natur und Technik, Deutsch, Englisch, Französisch und
Mathematik. Geprüft wird in der dritten und der sechsten Primar, in der zweiten und der
dritten Sek. Die Checks dienten «der Förderung und der Standortbestimmung» und seien
«kein Prüfungsinstrument», heisst es in einem Elternbrief der Baselbieter Bildungsdirektion
vom Sommer 2014.
Die Idee tönt ja gut: Mit einem Test, den alle machen müssen, bekommt das Kind eine
objektive Beurteilung seiner Leistung, unabhängig von den Besonderheiten seiner Klasse oder
den Sympathien der Lehrerin. Danach kann es gezielt dort gefördert werden, wo es Mühe hat.
Doch Florence Brenzikofer, grüne Baselbieter Kantonsrätin und Sekundarlehrerin in Liestal,
ist skeptisch. Sie wird ihre Klasse 2017 erstmals prüfen müssen; miterlebt hat sie die Tests
bereits bei ihrem Sohn, der die sechste Primarklasse besucht. «Für gute Schülerinnen und
Schüler sind die Checks kein Problem, aber für Kinder mit Prüfungsangst eine enorme
Belastung. Sie dauern über einen Zeitraum von mehreren Wochen», sagt sie. «Die Checks
führen zu einer verschärften Konkurrenz unter Kindern, Schulklassen und Lehrpersonen. Es
heisst zwar, die Resultate würden nicht veröffentlicht, ein Schulranking sei ausgeschlossen.
Aber wer weiss, ob das so bleibt?» Vor allem befürchtet Brenzikofer, dass die Tests den
Unterricht verändern und statt vertiefter Bildung die kurzfristige Vorbereitung auf die
Prüfungen in den Vordergrund rückt – «teaching to the test» nennt man das im
angelsächsischen Raum.
Ist die Nordwestschweiz der erste Dominostein in einer Entwicklung, die die ganze Schweiz
erfassen wird? Der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver kann sich das nicht vorstellen:
«Was die Nordwestschweiz macht, nehmen die anderen Kantone eher aus Distanz zur
Kenntnis. Für uns in Bern ist es undenkbar.»
Allerdings plant die EDK eine eigene Überprüfung der «Grundkompetenzen» – als Ersatz für
die Pisa-Tests, an denen die Schweiz nur noch sehr reduziert (letztes Jahr mit 5000
Jugendlichen) teilnimmt. Dieses Jahr sollen rund tausend NeuntklässlerInnen pro Kanton eine
dreistündige Mathematikprüfung absolvieren, nächstes Jahr kommt dann die Muttersprache
dran. Bernhard Pulver nimmt die Gefahr von Schulrankings ernst. «In kleinen Kantonen, wo
alle Schulen mitmachen müssen, damit es statistisch relevante Daten gibt, werden wir mit
technischen Massnahmen dafür sorgen, dass keine Rankings möglich sind – die EDK wird
nur das Schlussergebnis pro Kanton erhalten.»
Keine Ranglisten zwischen einzelnen Schulen also – aber Ranglisten zwischen Kantonen?
Das sei ein Problem, räumt Pulver ein. «Wichtig ist, dass der Kanton Bern weiss: Erreichen
wir die Ziele – gut, knapp oder gar nicht? Aber ich will nicht wissen, ob der Kanton Freiburg
im gleichen Fach fünf Punkte besser abschneidet. Sonst reden alle nur noch davon, das führt
zu politischem Aktionismus und sinnloser Reformitis.»
Wild arbeitende Lobbys
Warum wächst die Bürokratie ausgerechnet in einem politischen Klima, in dem fast alle
sparen wollen? Diese Frage treibt Beat Ringger, den Sekretär des Denknetzes, schon lange
um. Inzwischen hat er Antworten: «Neoliberale Bürokratie» heisst ein Text, den er zusammen
mit dem Sozialwissenschaftler Bernhard Walpen für das neuste «Denknetz-Jahrbuch»
geschrieben hat. Der Titel überrascht: Schliesslich werden die Neoliberalen nicht müde, die
Staatsbürokratie als ineffizient und aufgebläht anzuprangern. «Davon haben auch wir uns
lange blenden lassen», sagt Ringger. «Dabei fördert der Neoliberalismus die Bürokratisierung
massiv: weil Dienstleistungen zu Waren umgeformt werden. Dafür muss man sie
quantifizieren. In der Bildung macht man das mit Tests. Dann kann man das System
deregulieren und private Elemente reinbringen.»
Aber Bildung lasse sich genau wie Pflege schlecht quantifizieren: «Der innere Gehalt wird
verändert, wenn man zu messen anfängt.» Die Messung verändert das Gemessene – was für
die Quantenmechanik gilt, gilt auch für die Schule. Lehrer Georg Geiger gibt ein Beispiel:
«Prüfungen werden grundsätzlich schlechter, wenn man sie standardisiert; normieren heisst
immer vereinfachen. In Österreich wird Literatur an der Matura nicht mehr geprüft – weil sie
nicht beurteilbar sei.» Und Standardisierung führt wiederum zu mehr Bürokratie, wie Beat
Ringger ausführt: «Man muss sicherstellen, dass alle die gleichen Tests machen, und dann
muss man sicherstellen, dass niemand geschummelt hat …» Ein Blick in die USA zeigt,
wohin das führen kann: Dort sind Schulvergleichstests zu einem enormen Druckmittel
geworden. In manchen Schulen hängt der Lohn oder sogar der Job der LehrerInnen von den
Ergebnissen ab – ein klarer Anreiz, Ergebnisse zu manipulieren.
Im Denknetz-Text analysiert Ringger das Phänomen im Gesundheitswesen, wo es – mit
Fallpauschalen und der Zerstückelung der Pflegezeit in Tarifminuten – schon viel weiter
fortgeschritten ist als in der Bildung. Doch viele Tendenzen liessen sich auf die Bildung
übertragen, sagt Ringger: «Sobald sich eine starke privatwirtschaftliche Lobby in einem
Bereich des Service public festgesetzt hat, arbeitet sie wie wild und verteidigt ihre Privilegien.
Wir müssen verhindern, dass es so weit kommt.»
Die Suche nach dem Schulkonsens
Was ist die Aufgabe der Schule? Soll sie mündige, kritische Menschen bilden oder
«Humankapital» für die Wirtschaft bereitstellen? Der Druck, die Schule auf Letzteres zu
reduzieren, ist gross – von rechten Parteien, WirtschaftsvertreterInnen, aber auch von vielen
Eltern. Die Bildung sei zum Seitenwagen der Wirtschaft geworden, sagt Hans Zbinden. «Und
es ist nicht der Seitenwagen, der Gas gibt.»
Wie kann sich die Linke gegen diese Entwicklungen wehren? Der Föderalismus ist auch hier
Chance und Hindernis zugleich: Einerseits erschwert er zentralistische Top-down-Reformen.
Andererseits behindert er den Austausch, weil kaum jemand den Überblick hat, was in
anderen Kantonen gerade geschieht. Sich den rechts-christlich und SVP-dominierten
Initiativkomitees gegen den Lehrplan 21 anzuschliessen, die in vielen Kantonen entstanden
sind, kann es jedenfalls nicht sein.
Beat Ringger schlägt einen «linken Schulgrundkonsens» vor: «Gemeinsame Forderungen
könnten sein: Keine Checks, kein Schulranking, Methodenfreiheit, Mitbestimmung der Basis.
Dann gäbe es auch keine Allianzen mit der SVP.»
Und Erziehungswissenschaftlerin Christina Rothen sagt: «Wir sollten von Pisa gelernt haben,
dass es unglaublich schwierig ist, Daten zu vergleichen. Und dass solche Vergleiche immer
ein Druckmittel sind. Ich wünsche mir mehr Aufmüpfigkeit im Umgang mit den neuen
Evaluationsinstrumenten.»
Literatur zum Thema:
Christina Rothen: «Selbstständige Lehrer, lokale Behörden, kantonale Inspektoren. Verwaltung, Aufsicht und
Steuerung der Primarschule im Kanton Bern 1832–2008». Chronos Verlag. Zürich 2015.
Fitzgerald Crain: «Anpassung und Wettbewerb: Leistungsvergleiche als Kontrollmittel». In: «VPOD
Bildungspolitik», Nr. 194, Dezember 2015. vpod-bildungspolitik.ch/?p=2095 (link is external)
Beat Ringger, Bernhard Walpen: «Neoliberale Bürokratie». In: «Denknetz-Jahrbuch 2015». www.denknetzonline.ch/grundlagen/neoliberale-buerokratie (link is external)
Diane Ravitch: «The Death and Life of the Great American School System. How Testing and
Choice Are Undermining Education». Basic Books. New York 2010.
Bildungspolitik
Politik der pädagogischen
Aufmerksamkeits-Verschiebung
Die Schule wird mehr und mehr als Beitrag zur Produktion von Humankapital beurteilt.
Bildung wird dabei auf ihre Funktionalität reduziert.


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Gastkommentar
von Walter Herzog
7.12.2015, 05:30 Uhr
Zu sehr unterscheidet sich die pädagogische Arbeit von
einem industriellen Fertigungsprozess, als dass ethischen
Ansprüchen ausgewichen werden könnte.
In einer seiner letzten Abhandlungen nannte Sigmund Freud das Erziehen einen jener
«unmöglichen» Berufe, in denen man sich «des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher
sein kann». Die Äusserung steht in einem Kontext, in dem sich Freud mit der Persönlichkeit
des Analytikers auseinandersetzt. Diese kann sich als Hindernis einer erfolgreichen Therapie
erweisen, lässt sich aber nie so weit aufdecken, dass sie als therapeutischer Wirkfaktor genutzt
werden könnte. Kein Mensch wird jemals die Vollkommenheit erreichen, deren es bedürfte,
um die eigene Person als Mittel zum Zweck einzusetzen.
Im Binnenraum der Schule
Zwar wird gerade von Lehrpersonen gerne erwartet, dass sie Vorbild sind, um gezielt auf ihre
Zöglinge einzuwirken. Aber Vorbild kann man nicht sein wollen, als Vorbild muss man
gewählt werden. Genau so, wie sich Aktivität und Passivität in einer Psychoanalyse nicht
einseitig auf Analytiker und Analysand verteilen, sind Bildung und Erziehung interaktive
Prozesse. Kinder sind an ihrer Erziehung ebenso beteiligt wie ihre Eltern, und ohne aktive
Teilnahme der Schülerinnen und Schüler am Unterricht würde die Schule einer ihrer
wichtigsten Ressourcen beraubt.
Da in pädagogischen Situationen auf beiden Seiten Subjekte stehen, lassen sich Erziehung
und Unterricht auch nicht auf Technologie reduzieren. Es gibt Ansprüche an das
pädagogische Handeln, die unabhängig sind von seiner Zwecksetzung. In den Worten von
Kant unterliegt, wer unterrichtet oder erzieht, dem Anspruch, die Adressaten seines Handelns
nie bloss als Mittel zum Zweck, sondern jederzeit als Selbstzweck zu behandeln. Selbst wenn
sich herausstellen würde, dass strenge Strafen das effektivste Mittel sind, um Schüler zum
Lernen anzuhalten, wäre es moralisch verwerflich, dieser Erkenntnis Folge zu leisten.
Des Weiteren haben es Lehrpersonen im Unterschied zum Arzt oder Psychotherapeuten in der
Regel nicht mit einem individuellen Gegenüber zu tun, sondern mit einem Kollektiv. Das
klassische Modell des pädagogischen Verhältnisses mag für die familiäre Erziehung seine
Berechtigung haben, auf den Unterricht übertragen, führt es in die Irre. Weil Schülerinnen
und Schüler keine passiven Objekte sind, ihre Beteiligung am Unterricht den Intentionen der
Lehrkraft aber oft entgegenläuft, erweisen sich Schulklassen als äusserst komplexe Gebilde,
die in ihrer Dynamik schwer vorhersehbar sind.
Wenn man sich im Lehrerberuf «des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann»,
dann erklären diese drei Wahrheiten über den schulischen Unterricht, weshalb dem so ist. Zu
viele Bedingungen pädagogischer Wirksamkeit entziehen sich der Kontrolle durch die
Lehrperson, zu komplex ist das soziale Gefüge des Unterrichts, als dass das Lehrerhandeln
technologisch abgesichert werden könnte, und zu sehr unterscheidet sich die pädagogische
Berufsarbeit von einem industriellen Fertigungsprozess, als dass ethischen Ansprüchen
ausgewichen werden könnte.
Die Schule, von aussen betrachtet
Es scheint, als würde die Einsicht in die «Unmöglichkeit» des Lehrerberufs vor unseren
Augen in Vergessenheit geraten. Dafür verantwortlich ist eine Bildungspolitik, die – gewollt
oder nicht – die Aufmerksamkeit vom schulischen Binnengeschehen zunehmend auf die
Aussenwirkungen der Schule lenkt. Begonnen hat es mit den Pisa-Studien, die beanspruchen,
das Wissen und Können 15-jähriger Schülerinnen und Schüler zu erfassen, dabei aber
ausdrücklich davon absehen, nach welchem Lehrplan sie unterrichtet wurden. Die Schule
wird gemäss ihrem Beitrag zur Produktion von Humankapital beurteilt, Bildung auf ihre
Funktionalität für die erfolgreiche Bewältigung einer sich schnell verändernden Gesellschaft
reduziert.
Entlarvend ist die Terminologie, die sich für die Pisa- und ähnliche Studien eingebürgert hat.
Man spricht von Schulleistungsstudien, als ob die erfassten Leistungen nicht den
Schülerinnen und Schülern, sondern der Schule zuzuschreiben wären. Das Input-OutputDenken, das auch vielen Modellen der Schulevaluation zugrunde liegt, verbannt das
komplexe Bedingungsgefüge des schulischen Lernens in eine Black Box, deren Existenz zwar
nicht geleugnet wird, die in ihrem Wirkungsgefüge aber unaufgeklärt bleibt.
Bezeichnenderweise geht der Begriff der «guten Schule» auf eine Forschungstradition zurück,
die im Englischen mit dem Etikett der «effective school» belegt wird. Das moralisch Gute der
Schule, dem man im Binnenraum begegnet, fällt in deren Aussenbetrachtung dem technisch
Guten gänzlich zum Opfer.
Nicht nur Harmos, auch das jüngste Reformprojekt der EDK, das den Gymnasien gewidmet
ist, folgt dieser Logik zweckrationalen Denkens. Auch wenn betont wird, dass sie mehr als
nur Zubringer der Universitäten sind, erscheinen die Gymnasien ausschliesslich im Lichte
ihrer Leistungen für die «Langfristige Sicherung des prüfungsfreien Hochschulzugangs» (so
der prätentiöse Titel des Projekts). Den Gymnasien wird gleichsam die Garantie abverlangt,
dass künftig ausnahmslos alle Maturandinnen und Maturanden gewisse Stoffe in gewissen
Fächern (noch beschränkt sich das Projekt auf Mathematik und Unterrichtssprache) lückenlos
beherrschen.
Ein weiteres Beispiel ist das Bildungsmonitoring, das dem Bildungsbericht Schweiz zugrunde
liegt. Es folgt einem simplen kybernetischen Schema, bei dem die Politik Ziele vorgibt, deren
Erreichung von der Bildungsforschung überprüft wird, worauf die Politik entweder
korrigierend eingreift oder neue Ziele setzt. Als Zielkriterien gelten Effektivität, Effizienz und
Bildungsgerechtigkeit (Chancengleichheit) des Systems. Wie den Pisa-Studien wird dem
Bildungsbericht eine Steuerungsfunktion zugewiesen. Daten, die sich nicht für
Steuerungszwecke nutzen lassen, werden ausdrücklich nicht in den Bericht aufgenommen.
Indem die Aufmerksamkeit vom Inneren der Schule auf deren Aussenwirkung verschoben
wird, entschwinden die Erfolgsbedingungen des Lehrerhandelns dem politischen Blick. Ein
lineares Verständnis pädagogischer Wirksamkeit rückt an die Stelle des kommunikativen und
kooperativen Charakters pädagogischer Praxis. Ein technologisches Verständnis
pädagogischen Handelns überdeckt die nicht eliminierbare moralische Basis pädagogischer
Interaktionen. Und ein irreführendes Verständnis der Lehrer-Schüler-Beziehung lenkt von der
eminenten Komplexität und Dynamik des Unterrichtsgeschehens ab.
Die Folgen sind in mindestens dreierlei Hinsicht gravierend. Erstens folgt auf den Entzug der
Aufmerksamkeit ein Entzug der Ressourcen. Statt vermehrt in den Binnenbereich der Schule
zu investieren, werden die knapper werdenden finanziellen Mittel dazu verwendet, die Schule
mit einem Schwarm von Expertinnen und Experten zu umgeben, die Evaluationen
durchführen, Schülerleistungen messen und Output-Daten sammeln, oft ohne Nutzen für die
pädagogische Praxis.
Zweitens geht die Verschiebung der pädagogischen Aufmerksamkeit mit einer Entmündigung
der Bürgerinnen und Bürger einher. In dem Masse, wie das Bildungssystem einer Steuerung
über den Output unterworfen wird, erweist sich die demokratische Kontrolle des Systems als
obsolet. Nicht nur Harmos und der Lehrplan 21, auch die vielenorts geplante oder schon
vollzogene Abschaffung der lokalen Schulaufsicht zeigen, dass ein wesentliches Element
unserer Schule, nämlich deren öffentlicher Charakter, in Gefahr steht, klammheimlich
abgeschafft zu werden.
Drittens führt die Ablenkung von den Realbedingungen pädagogischer Wirksamkeit zur
Überschätzung der Möglichkeiten schulischer Bildung. Bildung scheint machbar zu sein,
wenn nur die richtigen Massnahmen getroffen werden. Ein Steuerungswahn macht sich breit,
der suggeriert, durch Intensivierung der Kontrolle lasse sich erreichen, was durch Vertrauen
in die Professionalität des Lehrerhandelns nicht erreichbar sei.
Damit wird Tendenzen Vorschub geleistet, die in Standardisierung und Zentralisierung den
Königsweg zur Qualitätssicherung im Bildungswesen sehen. Doch die Erfolgsaussichten
pädagogischen Handelns liegen nicht in der Nivellierung lokaler und partikularer
Gegebenheiten. Letztlich sind es die konkreten Umstände, die Rücksichtnahme auf die
heterogenen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler sowie die Fähigkeit der
Lehrperson, den oft widersprüchlichen Anforderungen pädagogischen Handelns gerecht zu
werden, die darüber befinden, ob Bildungsprozesse gelingen oder nicht. Eine Politik, die
versucht, ihr zweckrationales Verständnis von Schule im Inneren der Schule zu etablieren,
wie es tendenziell mit dem Lehrplan 21 geschieht, trägt nicht dazu bei, den Lehrerberuf zu
stärken.
Das Gebot der Stunde ist daher, der Politik bewusst zu machen, dass ihre Aussensicht der
Schule in verarmtes Abbild der pädagogischen Realität der Schule darstellt, und ihr in
Erinnerung zu rufen, was ihre eigentliche Aufgabe wäre. Diese liegt nicht im Durchgriff auf
den Binnenbereich der Schule, sondern in der Schaffung von Rahmenbedingungen, die es den
Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen, ihrer Arbeit professionell, d. h. unter optimaler
Ausnutzung der Erfolgsbedingungen pädagogischen Handelns und im Wissen um die
«Unmöglichkeit» ihres Berufs, und verantwortungsvoll nachzugehen.
Walter Herzog ist em. Professor für Pädagogik, Pädagogische Psychologie, Didaktik und
Schulforschung an der Universität Bern
Schweiz.
| Donnerstag, 11. Februar 2016 | Seite 4
Deutlich weniger
Asylgesuche
Ein Viertel weniger Anträge
als noch im Dezember
Bern. Die Zahl der Asylgesuche ist im
Januar in der Schweiz um ein Viertel
gegenüber dem Vormonat gesunken.
Insgesamt wurden 3618 Asylgesuche
eingereicht. Vor allem die Zahl der
Gesuche von afghanischen und syrischen Staatsangehörigen ist gegenüber
dem Vormonat stark zurückgegangen,
wie das Staatssekretariat für Migration
(SEM)gestern mitteilte.
Dennoch blieben Afghanistan mit
1224 Gesuchen und Syrien mit 488 die
wichtigsten Herkunftsländer von Asylsuchenden. Ihre Gesuche nahmen um 759
respektive 308 ab. Es folgten Personen
aus dem Irak, die 367 Gesuche eingereicht haben, 107 weniger als im Vormonat. Um 63 auf insgesamt 233 Gesuche
zugenommen haben dagegen die
Anträge von Menschen aus Eritrea.
Angespannte Lage
Obwohl im Winter etwas weniger
Asylsuchende in der Schweiz eingetroffen seien, bleibe die Situation auch 2016
angespannt. Insgesamt wurden in der
Schweiz 2015 knapp 40 000 Asylgesuche eingereicht. Das waren fast 16 000
mehr als im Jahr 2014.
Das SEM erledigte im Januar 2400
Asylgesuche in erster Instanz. Dabei
erhielten 466 Personen Asyl, 537 Personen wurden vorläufig aufgenommen.
Auf 848 Gesuche wurde nicht eingetreten. Zudem seien 715 Personen ausgereist oder rückgeführt worden.
Foto Keystone
Genf. Der genfer generalstaatsanwalt
Olivier Jornot muss sich bei der Justizaufsicht für eine ausschweifende afterParty nach der Jahresendfeier im
Januar seiner Behörde verantworten.
Dabei wird untersucht, ob sich Jornot
seines amts würdig verhielt. gemäss
Le Temps soll sich Jornot mit einer
Staatsanwältin bei der after-Party in
einem nachtclub ein laszives Spektakel geliefert haben. Der generalstaatsanwalt bestätigte die eröffnung einer
administrativuntersuchung. SDA
Parmelin vertritt Schweiz
an Sicherheitskonferenz
Bern. Verteidigungsminister guy
Parmelin vertritt die Schweiz an der
Münchner Sicherheitskonferenz. ab
Freitag wenden sich dort Politiker und
experten aus aller Welt zentralen
Konflikten der Welt zu. Der Chef des
eidgenössischen Departements für
Verteidigung, Bevölkerungsschutz und
Sport (VBS) werde an der Konferenz
bilaterale gespräche führen, teilte das
VBS mit. So sind laut VBS unter anderem Treffen mit den Verteidigungsministern von Deutschland, Frankreich,
italien, Schweden, Singapur und Österreich geplant. SDA
Von Thomas Dähler
Frauenfeld. Der Wechsel zum kompetenzorientierten Lehrplan 21 soll bei der
Lehrerschaft durchgesetzt werden.
Die Fachhochschule Nordwestschweiz
(FHNW) hat ein Online-Tool entwickelt,
mit dem kontrolliert werden kann, ob
die Lehrerinnen und Lehrer den angeordneten Paradigmenwechsel zum nutzungsorientierten Lehrplan auch vollziehen. Im Kanton Thurgau wurden die
Schulleitungen bereits mit dem neuen
Kontrollinstrument ausgerüstet.
Der neue Kompetenzmanager sei
«ein einfaches, sinnvolles Ergänzungsinstrument für den kompetenzorientierten Unterricht», heisst es in einer
von Bildung Thurgau verbreiteten
Medienmitteilung von Ende Januar. Mit
dem Tool und dem dazugehörigen Kärtchenset lassen sich Einschätzungen und
Leistungsausweise für jede Lehrerin
und jeden Lehrer online fichieren. Aus
den persönlichen Profilen lässt sich
dann «der Entwicklungsbedarf für die
Einführung des Lehrplans» feststellen,
wie in der Mitteilung ausgeführt wird.
Bildungsbürokratische Kriterien
Ähnliches hat auch schon Christian
Amsler, Schaffhauser Regierungsrat
und Präsident der Deutschschweizer
Erziehungsdirektoren-Konferenz, angekündigt. «Wenn es Lehrer gibt, die renitent sind und sich weigern, den Lehr-
plan umzusetzen, darf die Behörde keinen Millimeter zurückweichen», sagte
er in einem Interview mit der Sonntagszeitung vom Dezember.
Eine Beschreibung des neuen Kontrollinstruments des Thurgauer Amts
für Volksschule liegt der BaZ vor. Es
basiert auf bildungsbürokratischen
Qualifikationskriterien, die nur Lehrerinnen und Lehrer erfüllen, die ihren
gesamten Unterricht auf die nutzungsorientierten
neuen
Bildungsziele
umstellen. Wer sich an Wissensvermittlung und traditioneller Allgemeinbildung oder am ganzheitlichen Ansatz
der Pädagogik von Johann Heinrich
Pestalozzi orientiert, fällt durch.
Gemessen werden die einzelnen
Lehrerinnen und Lehrer an einer Reihe
neuer Anforderungen wie «Kompetenzstand erfassen», «Kompetenzerwartungen überprüfen», «Kooperatives Lernen
fördern», «Lernziele als Bezugspunkt
nutzen», «Lebensweltbezüge schaffen»,
«Kompetenzkultur aufbauen» und Ähnlichem mehr.
Online erhält die Schulleitung aus
den einzelnen Einschätzungen einen
Überblick über die Neuorientierung
der einzelnen Lehrkräfte, etwa über
eine «Matrix Kompetenzrad», die grafisch darstellt – den politischen Spinnendiagrammen von Smartvote ähnlich –, wie linienförmig sich die einzelnen Lehrkräfte bei der Umsetzung des
Lehrplans 21 verhalten. Wer die Krite-
rien nicht genügend erfüllt, soll an entsprechenden Weiterbildungsangeboten die neue Philosophie zusätzlich
vermittelt erhalten.
«Verantwortung übernehmen»
Zur Philosophie des Qualifikationsinstruments gehört auch eine Selbsteinschätzung, welche die Lehrerinnen und
Lehrer vornehmen sollen. «Es ist wichtig und gehört zu einer funktionierenden Kompetenzkultur, dass die Lehrpersonen Verantwortung für ihren eigenen Kompetenzerwerb übernehmen»,
heisst es in der Anleitung. Schulleitung
und Lehrer könnten dann auf der
Grundlage die «Weiterentwicklung der
Kompetenzen gemeinsam planen» und
dies «verbindlich festhalten».
Die Parallele zum Geist des Lehrplans 21 ist augenfällig. Dort wird etwa
im Kompetenzenkatalog Deutsch für Primarschüler festgehalten: «Die Schülerinnen und Schüler können im Austausch
mit anderen eine Distanz zum eigenen
Text aufbauen und ihn mithilfe von Kriterien einschätzen.» Und: «Die Schülerinnen und Schüler können problematische Textstellen finden und alternative
Formulierungen vorschlagen.»
Der neue Kompetenzmanager für
Lehrerinnen und Lehrer ist die Grundlage für deren Aus- und Weiterbildung,
die ebenso nutzungsorientiert ist wie
der Lehrplan 21 für die Schülerinnen
und Schüler. «Das Gespräch mit Lehranzeige
Bern. In der Pflege und Betreuung führten der Spardruck und das Renditedenken zu Fliessbandarbeit, kritisiert
die Gewerkschaft Unia. Sie fordert in
einer gestern lancierten Kampagne,
dass die Politik mehr Personal bewilligt
und diesem auch bessere Anstellungsbedingungen gewährt. Denn der Druck
im Bereich der Pflege und Betreuung sei
enorm, sagte Udo Michel von der
Gewerkschaft Unia gestern in Bern. Das
Kostenkorsett sei eng, die Arbeitsbedingungen seien prekär. Das zeige auch die
hohe Berufsausstiegsquote.
Diesen Eindruck bestätigten Angestellte verschiedener Heime und Institutionen. Durch die Ökonomisierung
sei die Pflege ins tiefe Mittelalter
zurückgeworfen worden, sagte etwa
Pflegefachfrau Monika Beck, die im
Kanton Aargau tätig ist. Von individueller Betreuung und Pflege könne kaum
mehr die Rede sein. Auch der langjährige Pflegefachmann Uwe Ruländer kritisiert die Zustände. Es gebe weniger
Personal, aber zusätzliche Aufgaben.
Da bleibe die individuelle Betreuung
auf der Strecke.
Die Unia will diese Ökonomisierung
stoppen. Derzeit werde nur honoriert,
was gemessen und abgerechnet werden
könne, sagte Udo Michel, der UniaBranchenleiter Pflege und Betreuung.
Aus diesem Grund hat die Unia mit
betroffenen Angestellten ihr «Manifest
für gute Pflege und Betreuung» aktualisiert und vorgestellt. Zudem hat sie eine
entsprechende Petition lanciert. SDA
Carla del Ponte
ehem. Chefanklägerin
UN-Tribunal
in Den Haag
«Das Tessin ist ein Teil der
Schweiz. Wir können es nicht
drei Jahre lang durch die
Schliessung der wichtigsten
Strassenverbindung vom Rest
des Landes abhängen.»
gotthard-tunnel-ja.ch
Überparteiliches Komitee «Gotthard Tunnel sicher JA», 3001 Bern
Verdauliche Häppchen für die Medien
Auch in der Forschung ist gutes Marketing mittlerweile die halbe Miete. Der
stille Schaffer im Elfenbeinturm hat
ausgedient, was übrigens durchaus
seine guten Seiten hat. Heute werden
vor allem politikwissenschaftliche
Studienergebnisse in gut verdaulichen
Häppchen den Medien zugetragen, die
diese dann als Primeur «verkaufen».
So schaffen es immer wieder Forschungsergebnisse, die kalter Kaffee
sind, in die Schlagzeilen sogar des Boulevards. Neuestes Beispiel: Der Blick
stellte am 8. Februar fest, die SVP sei
«die neue Büezer-Partei» und die SP
keine Arbeiterpartei mehr. Zwei «SPnahe Wissenschaftler», so berichtete
der Blick, belegten dies in einer neuen
Studie.
Was als überraschender
Befund präsentiert wird,
ist wissenschaftlich
längst bestens belegt.
Was als überraschender Befund
präsentiert wird, ist wissenschaftlich
längst bestens belegt. Schon vor mehr
als fünfzehn Jahren wurde für die
Schweiz empirisch nachgewiesen, dass
es einerseits in der neuen Wissens- und
Dienstleistungsgesellschaft weniger
klassische Arbeiter gibt. Andererseits
fühlt sich die verbliebene Arbeiterschaft, die traditionelle Kernklientel
der Sozialdemokratie, kaum noch mit
der Sozialdemokratischen Partei verbunden. Dieser Trend begann schon in
den 1970er-Jahren und setzte sich
während der 1980er- und 1990er-Jahre
fort. Fühlten sich zu Beginn der 1980erJahre noch rund 25 Prozent der Arbeiter mit linken Parteien verbunden,
waren es Mitte der 1990er-Jahre nur
noch fünf Prozent. Bei den einfachen
Angestellten war der Trend nicht ganz
so dramatisch, aber ähnlich. Hier ging
die Bindung an linke Parteien von rund
25 Prozent am Anfang der 1980erJahre auf knapp über zehn Prozent
Mitte der 1990er-Jahre zurück.
Keine Schweizer Besonderheit
Die Bindung an linke Parteien
erklärte sich bereits 1998 nicht (mehr)
durch die Zugehörigkeit zur Arbeiteroder unteren Angestelltenschicht.
Vielmehr fühlten sich nun die sogenannten soziokulturellen Spezialisten,
zum Beispiel Lehrer, Akademiker,
Sozialarbeiter und mittlere und höhere
Angestellte, mit der SP verbunden. Die
SP wurde die Partei der meist durchaus
vermögenden staatsnahen Angestellten, der Beschäftigten des wohlfahrtsstaatlichen Komplexes und der Postmaterialisten. Der lange und nachhaltige Abschied der SP vom Mythos
der Arbeiterpartei ist übrigens keine
schweizerische Besonderheit. Überall
in Europa vollzog sich ein ähnlicher
Wandel.
Die Schweizer Arbeiter wurden
politisch entweder heimatlos oder sie
Lehrplan 21 ein Kurswechsel
Dass mit dem Lehrplan 21 nicht nur
eine kantonale Harmonisierung der
Schulsysteme eingeleitet, sondern ein
Kurswechsel durchgesetzt wird, halten
die Verantwortlichen im Kanton Thurgau ausdrücklich schriftlich fest: «Die
Arbeit an Kompetenzen impliziert einen
Kurswechsel und braucht bestimmte
Rahmenbedingungen und angepasste
Strukturen.»
Die Thurgauer Pläne, die eine Einführung des neuen Lehrplans Mitte
2017 vorsehen, stehen im Widerspruch
zu den Beteuerungen, die Christoph
Eymann,PräsidentderErziehungsdirektoren-Konferenz, abgegeben hat. Der
Basler Erziehungsdirektor, der auf erste
Erfahrungen mit dem in Basel-Stadt
bereits eingeführten Lehrplan 21 verweisen kann, will diesen als «Kompass»
und «nicht als Bibel» verstanden haben.
«Es gibt bei uns keine Kontrollinstanz,
die prüft, ob sich jeder sklavisch daran
hält», diktierte Eymann dazu der deutschen Wochenzeitung Die Zeit.
Antibiotikum gegen Feuerbrand
darf nicht eingesetzt werden
Kalter Kaffee – oder der Mythos von der SP als Arbeiterpartei
Von Simon Geissbühler
personen über ihre persönlichen Profile
und beruflichen Entwicklungspläne
ermöglicht der Schulleitung eine ressourcen- und entwicklungsorientierte
Personalführung, mit welcher die individuelle Entwicklung der Lehrpersonen
geplant und durchgeführt werden
kann», steht in der Anleitung des Thurgauer Amts für Volksschule.
Streptomycin
ist 2016 tabu
Unia kritisiert Anstellungsbedingungen im Pflegebereich
Fall Ritzmann kommt
vor das Bundesgericht
Untersuchung gegen
Generalstaatsanwalt
Der Kanton Thurgau führt ein neues Kontrollinstrument für Lehrkräfte ein
Mehr Zeit, Personal und Geld
Nachrichten
Zürich. Das Bundesgericht muss sich
erneut mit der affäre Mörgeli befassen:
es wird entscheiden, ob im Verfahren
gegen iris Ritzmann, ehemalige
Mitarbeiterin des Medizinhistorischen
instituts der Uni zürich, die von der
Staatsanwaltschaft erhobenen
Beweise verwendet werden dürfen.
Die Staatsanwaltschaft hat einen
Beschluss des zürcher Obergerichts
weitergezogen. Ritzmann wird
beschuldigt, dem Tages-Anzeiger zwei
vertrauliche Berichte über die arbeit
des damaligen SVP-nationalrates
Christoph Mörgeli als Museumskurator
zugespielt zu haben. SDA
Wie der Lehrplan 21 durchgesetzt wird
wandten sich der SVP zu. Die politische
Neuausrichtung der Arbeiterschaft
ist gemäss Blick für «die Autoren überraschend». Überraschend ist daran
eigentlich nichts.
Arbeitermilieu hat sich aufgelöst
Dass die SVP heute bei den Arbeitern und den unteren Angestellten
stark verankert ist, hat zuerst mit strategischen Entscheidungen der Partei zu
tun und mit einem politischen Angebot,
das für diese Gruppen attraktiv ist –
auch wenn dies den «SP-nahen»
Dass die SVP bei den
Arbeitern verankert ist,
hat mit dem politischen
Angebot zu tun.
Forschern nicht einleuchtet. Darüber
hinaus hat sich das klassische Arbeitermilieu aufgelöst, in dem die Bindung
an die SP über Generationen hinweg
gewissermassen vererbt wurde.
Die SP umgekehrt hat sich strategisch ebenfalls längst neu positioniert.
Nicht nur in der Forschung, sondern
auch in der Politik ist Marketing heute
eben die halbe Miete.
Simon geissbühler ist Politologe und
Diplomat und autor des Buches «zwischen
Klassenkampf und integration. Die soziopolitischen einstellungen von arbeitnehmern
in der Schweiz im internationalen Vergleich
(1971–1998)» (2001). er vertritt hier seine
persönliche Meinung.
Bern. Die Schweizer Obstbauern dürfen im Kampf gegen den Feuerbrand
kein Streptomycin mehr einsetzen. Das
Bundesamt für Landwirtschaft (BLW)
hat die Verwendung für dieses Jahr
untersagt. Damit setze man die Grundsätze des integrierten Pflanzenschutzes
um, teilte das BLW gestern mit. Nach
diesen Grundsätzen wird die Verwendung von chemischen Pflanzenschutzmitteln nur als Ergänzung und als letztes Mittel angesehen.
In den vergangenen acht Jahren
hatte das BLW Streptomycin jeweils
befristet und mit Auflagen zugelassen.
Allerdings sei die Anwendung keine
ideale Lösung, da wie bei allen Antibiotika die Gefahr von Resistenzbildung
bestehe.
Obstbauern befürchten Schäden
Das BLW setzt nun auf andere Massnahmen. In der Saison 2016 habe man
fünf andere Pflanzenschutzmittel als
Alternativen regulär zugelassen. Zudem
gelte es, bei den Präventivmassnahmen
das Potenzial noch vermehrt auszuschöpfen, heisst es weiter. Eine andere
Möglichkeit sind feuerbrandrobuste
Sorten. Agroscope hat etwa die Tafelapfelsorte Ladina gezüchtet. Aus europäischen Züchtungsprogrammen gibt es
gemäss BLW ebenfalls Alternativen.
Georg Bregy vom Schweizer Obstverband kritisiert den Entscheid des
BLW. Der Entscheid sei rein fachlich
nicht nachzuvollziehen. «Man hätte
Streptomycin weiterhin als letztes Mittel zulassen sollen», sagte er auf Anfrage
der Nachrichtenagentur SDA, «und den
Einsatz wie bisher nur unter Einhaltung
von strengen Auflagen bewilligen können.» Die Obstbauern seien verantwortungsvoll mit dem Einsatz des Pflanzenschutzmittels umgegangen. Deshalb
bedauert er den Entscheid und befürchtet je nach Witterung und Infektionsbedingungen während der Blüte grosse
Schäden an den Kulturen.
Die Alternativen alleine seien zurzeit noch kein Ersatz. «Die neuen Sorten sind noch im Versuchsstadium und
im Anbau noch kaum verbreitet», sagt
er. «Und mit den alternativen Pflanzenschutzmitteln haben wir noch zu wenig
Erfahrung.» Mit dem mittelfristigen
Ausstieg aus Streptomycin sei man an
sich schon auf dem richtigen Weg. «Nur
ist der Zeitpunkt jetzt noch zu früh»,
betont er. Den Entscheid des BLW
müsse man akzeptieren, werde jedoch
das Gespräch nochmals suchen. SDA
Von schulischen Trojanischen Pferden und anderen Ungeheuern
Ein Kommentar eines Schulmeisterleins zu den Kommentaren von anderen
Schreiberlingen
Endlich ist auch in der WoZ ein Dossier von Bettina Dyttrich erschienen, das sich kritisch mit
der aktuellen Bildungspolitik auseinandersetzt. Die Bilanz am Schluss des Textes scheint mir
politisch sinnvoll und richtig zu sein, wo Beat Ringger vom Denknetz einen „linken
Schulgrundkonsens“ vorschlägt: Keine Checks, kein Schulranking, Methodenfreiheit,
Mitbestimmung der Basis, wobei die letzte Forderung unbedingt noch konkretisiert werden
müsste.
Leider hat die Autorin die vehemente Kritik am Lehrplan 21 und vor allem am höchst
ideologischen Kompetenzbegriff nicht aufgenommen. Schade! Denn dieser Begriff ist das
Trojanische Pferd des Neoliberalismus in der Schule von heute. Die Kritik am Lehrplan 21
wurde von führenden Bildungspolitikern bisher immer damit abgetan, dass Lehrpläne ja
eigentlich gar nicht so wichtig seien und sich die LehrerInnen eh nur begrenzt daran
orientieren würden. Dass jetzt aber mit rigiden, von der FHNW entwickelten Online-Tools
bereits die Thurgauer Lehrkräfte bei der konsequenten Umsetzung des kompetenzbasierten
Lehrplanes kontrolliert werden sollen, lässt aufhorchen. (Vgl. BaZ vom 11.2.2016)
Genau so tönt es auch beim Kompetenzbegriff: Keiner wisse ja so genau, worum es da
eigentlich gehe, und jeder könne darin etwas Eigenes erkennen. Und mantrahaft betonen die
Bildungsverwaltungen, es sei nun endlich Schluss mit dem Nürnberger Trichter und dem
sinnlosen Stoff-Pauken, denn angesichts der Vierten Industriellen Revolution mache das
überhaupt keinen Sinn mehr. Als ob nicht seit Jahrzehnten die LehrerInnen wissen, dass
stures Stoff-Büffeln alleine nicht reicht! Seit Jahrzehnten unterscheiden deshalb die meisten
Lehrpläne Fähigkeiten/Fertigkeiten, Wissen und Haltungen. Doch die Versprechungen
klingen verführerisch: „Die Schule wird locker, kreativ, individuell. Klingt gut? In Wahrheit
siegt nur die neoliberale Ideologie, und es entsteht ein neues Zwangssystem.“ So fasst der
deutsche Philosoph Christoph Türcke in der Süddeutschen Zeitung vom 10.Februar 2016 die
aktuelle Schulentwicklung treffend zusammen. Der Kompetenzbegriff ergreift zunehmend
inhaltsleer den ganzen Menschen: Dieser soll nicht nur lernen, sondern auch zeigen, dass er
ständig mit grosser Freude auch lernen will. So freudig, dass er alles ganz alleine machen
kann und der Lehrer sich diskret in die Coaching-Ecke zurückziehen soll.
Die Angst vor den Folgen der Digitalisierung und der neoliberal geprägten Globalisierung
treibt die Bildungspolitiker immer mehr voran. Nochmals Christoph Türcke: „Nur die Länder,
deren Schul- und Hochschulabsolventen für den digitalisierten Kapitalismus gerüstet sind,
werden international mithalten können – so lautet die Befürchtung. Und die überstürzte
Folgerung daraus heisst: Am besten werde gerüstet sein, wer von klein auf in die
zukunftsträchtigen Soft Skills eingeübt ist und von all dem Ballast, für den es intelligente
Software gibt, befreit wird.“ Es ist absehbar, wohin die Inflationierung der Matur und der
Akademisierungsdruck führen werden: „In der flexibilisierten Bildungswelt ist das Abitur ein
Auslaufmodell.“ So die Bilanz des Philosophen. Eigentlich erstaunlich, dass die WoZ diese
politökonomischen Zusammenhänge im Zusammenhang mit dem Kompetenzbegriff nicht
aufgreift.
Mit einem simplen „Zurück zum Frontalunterricht“ aber ist es nicht getan, auch wenn ich dem
Berliner Gymnasiallehrer Rainer Werner (FAZ) auf Grund meiner eigenen
Unterrichtserfahrung durchaus zustimme, dass das „klug geführte Unterrichtsgespräch von
den Schülern als besonders effektiv, informativ, sie keineswegs bevormundende Lernform
wahrgenommen wird.“ Doch in einem anregenden Mail zu diesem Artikel bringt ein
Fachdidaktiker eine meiner Ansicht nach sinnvolle Differenzierung in die Debatte mit ein,
wenn er schreibt: „Methoden generieren keine Schülerorientierung. Lehrervorträge oder
Klassengespräche sind nicht per se schlecht und Schülerorientierung ist nicht das Gegenteil
von Lehrerzentrierung (und de facto Lehrerverantwortung), sondern im Gegenteil Zuwendung
zu den SchülerInnen in ihrem Bedürfnis, den Schulstoff zu verstehen. Dass guter Unterricht
ein gemeinschaftliches Erlebnis ist, zu dem auch SchülerInnen beitragen dürfen und müssen,
scheint mir dabei ebenso klar wie der Umstand, dass die Lehrpersonen eine klare Vorstellung
davon entwickeln müssen, wie sie ihre SchülerInnen in die Lage versetzen können, wirklich
etwas zu lernen. Da die meisten SekII-LehramtskandidatInnen von der Uni kommen und
ohnehin einen leichten Hang zum „Dozieren“ haben, finde ich daher das explizite Lob des
Frontalunterrichts (und die implizite Forderung danach, dass dieser mehr Raum erhält) etwas
problematisch. Ein gutes Unterrichtsgespräch zu führen ist nämlich sau-schwierig - und die
meisten scheitern daran (nicht nur AnfängerInnen). Und Gründe dafür sind vielfältig: der
Stoff selbst, die fachlichen Kenntnisse oder die Tagesform der Lehrperson, Wille oder
Unwille der SchülerInnen etc. Und ich ärgere mich, wenn Studierende sich entweder der
Auseinandersetzung mit anderen Methoden verweigern oder einfach schlechten Unterricht
abliefern mit dem Hinweis darauf, es sei ja jetzt belegt, dass der Frontalunterricht eben doch
besser sei (Hattie und Co, oder eben dieser Artikel von Rainer Werner). Aus diesem Grund
machen mich diese Beiträge nicht so happy, weil sie ja meistens nur oberflächlich rezipiert
werden.“
Dem Weltwoche-Artikel misstraue ich. Der Schüler als selbstorganisierter Kleinunternehmer
des eigenen Lernens, diese Hybridkonstruktion des Konstruktivismus: Sie entspringt nicht nur
dem sozialdemokratischen Gutmensch-Pädagogen, sie ist auch und vor allem - wie bereits
oben dargelegt - ein Produkt des Neoliberalismus. Das reflektiert der Weltwoche-Artikel in
keiner Weise - geschweige denn die Weltwoche-Redaktion. Und dass man sich über die
Genderanliegen und das Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit lächerlich macht, das
kommt den Herren Blocher und Köppel natürlich sehr gelegen. Denn nichts fürchten sie so
sehr wie die Verbreitung der simplen Tatsache, dass unser aller ökologischer Fussabdruck in
der Schweiz zwei- bis dreimal zu gross ist. Nachhaltigkeit gehört meiner Ansicht nach in
Zeiten der Klimaerwärmung zu den Fundamenten eines Lehrplans, wie auch die
Menschenrechte oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es geht nicht darum, den
Jugendlichen irgendeine Ideologie überzustülpen, aber zum aufklärerischen Charakter unserer
Kultur sollen wir stehen, und das soll auch in unseren schulischen Lehrplänen erkennbar sein:
Gebrauche Deinen Verstand! Uebe Dich darin, alles kritisch zu hinterfragen! Und verhalte
Dich dabei nach dem Kantschen Imperativ: Wenn die Maxime des eigenen Handelns sich
danach richten soll, ob sie auch ein allgemeines Gesetz werden könne, dann gehört dazu auch
die kollektive Ebene der Generationenabfolge, und nicht nur das Einzelsubjekt.
Bezeichnenderweise waren der Genderaspekt und die Nachhaltigkeit dann die zwei Dinge, die
von den Lehrplan-21-MacherInnen nach der kritischen Vernehmlassung am massivsten
redimensioniert wurden. Angst vor der Kritik der rechten, der ‚Weltwoche‘-Ecke also?
Es gibt kein Zurück in die autoritäre Gotthelf-Schule, wie sie Anker so schön gemalt hat und
wie sie Blocher so gerne melancholisch betrachtet, während er gleichzeitig die Welt mit
seinen reaktionären neoliberalen Taten in eine ganz andere Richtung treibt. Es wird in den
diversen kantonalen bildungspolitischen Abstimmungen der nächsten Zeit, was die Parolen
anbetrifft, wohl immer wieder unheilige, aber notwendige Allianzen von ‚rechts‘ und ‚links‘
geben. Aber zu mehr soll es nicht kommen, denn die SVP will nicht die selbe Schule wie ich
– und wie wir vom FACH!
Georg Geiger, 11.Februar 2016
"Geleitete Schulen" oder Der ganz normale Flachsinn
War neulich in der PHBern bei einer Mini-Tagung zum Thema "Geleitete Schulen".
Was wurde serviert?
Lauter heisse Luft, seichtes Geschwätz, Platitüden, Sottisen, verstaubte Gleichnisse und
scheingebildetes Metapherngestöber.
Inhaltlich nichts, aber auch wirklich NICHTS Brauchbares.
Unerträgliche Leere, mit einer stupenden Selbstverständlichkeit und lässigem
Selbstvertrauen vorgetragen, musikalisch nett umrahmt und vom Publikum freundlich
beklatscht...
Einzige Ausnahme: Bernhard Pulver, der ein klares Bekenntnis abgelegt hat, und zwar
zur Geleiteten Schule und zur Führung der LehrerInnen. Pulvers peppige Parole:
Selbstverwaltung war einmal, der Schulleiter als "Primus inter pares" ist passé.
Aber natürlich sind die Freiräume der LehrerInnen unbedingt zu erhalten; aber
natürlich sind die LehrerInnen zu führen, pädagogisch zu führen durch die Schulleitung;
aber natürlich ist das Ganze partizipativ auszuhandeln; aber natürlich muss die Schule
unter der Führung ihrer Leitung eine gemeinsame Vision verfolgen...
Und Martin Schäfer, der Rektor der PHBern, versicherte seinem Dienstherrn
pflichteifrigst und vor dem ganzen versammelten Volke: Die jungen Lehrerinnen und
Lehrer, die jetzt aus der PH in die Schulen gingen, seien alle bestens auf den
(glückverheissenden? segensreichen?) Umstand vorbereitet, dass sie in der Schule
einen Vorgesetzten haben werden.
Mit anderen Worten: Die künftigen SchulmeisterInnen lernen an der PH von Anfang an,
dass sie Untergebene, wenn nicht gar Untertanen sein werden. Und wie es an der PH
heisst, freuen sie sich gar inniglich über die enorme Entlastung, welche sich aus diesem
Umstand ergibt. Brave Schafe lieben es halt, einem guten Hirten hinterherlaufen zu
dürfen, auch wenn er manchmal den Stab oder den Hund einsetzen muss, um die
Herde beisammenzuhalten.
Ich sass am Ende der Veranstaltung offenen Mundes da und fragte mich, in welchen
surrealistischen Film ich da geraten war. Im Kopf summte mir etwas herum wie der
Gedanke: "So sieht also das Ende der Aufklärung aus."
Lehrerbildung heute:
Mit Eiapopeia, mit Sang und Klang und New Public Management zurück ins Ancien
Régime, zurück in die selbstverschuldete Unmündigkeit - und dabei ein verzücktes
"I'm loving it" auf den Lippen.
HILFE...!!!
Roger Hiltbrunner.
PS: Der Apéro riche im Nachgang zum Geschilderten soll aber nicht unerwähnt bleiben
- der glanzvolle Abschluss eines grauen, glanzlosen und ernüchternden Abends.