Liebe Kollegin, lieber Kollege Paukerunterricht oder erlebnisorientierte Langeweile? Instruktion oder Konstruktion? FU oder SOL? (Für Laien: Frontalunterricht oder selbstständig organisiertes Lernen?) Autorität oder demokratisiertes Schulzimmer? ‚Leiden und Freuden eines Schulmeisters’ (für Laien: … von Jeremias Gotthelf) oder Lehrplan 21? Wo steckt das Gute, wo das Böse? Nichts ist mehr klar, spätestens seit Hattie … und seit dem Lead der SVP und – bis vor Kurzem! - dem Schweigen der Linken in der kritischen Auseinandersetzung mit Bildungsreformfragen. FACH bietet mit profilierten aktuellen Artikeln zum Thema und mit eigenen Stellungnahmen einen differenzierten Anstoss (wie wir hoffen) zur Befreiung aus der Falle erstarrter Gegenpositionen – und also zum Weiterdenken. Und gleichsam als Metaebene dazu: Wie sehr sollen die Lehrkräfte geleitet werden auf ihrem Weg zu gutem Unterricht (über den die Meinungen offensichtlich derart divergieren)? In letzter Zeit sind z.B. im Bezug auf den LP21 erhebliche Druckversuche der EDK und ihrer Einzeldirektionen auf Redaktoren und Lehrkräfte, die kritisch zu dieser ‚Jahrhundertreform’ stehen, zu beobachten - während die Thurgauer Lehrer mit einem flächendeckenden onlinetool kontrolliert werden sollen, ob sie den LP21 buchstabengetreu umsetzen. Wäre im Gegensatz zu derart wildentschlossener Durchsetzungswut in einer solchen Gemengelage nicht vielmehr eine offen geführte Diskussion die einzig sinnvolle Option? Zeitungsartikel: - ‘Erlebnisorientierte Langeweile’ von Katja Oskamp: Weltwoche vom 3.2.2016 - ‘Wann machen Sie wieder Frontalunterricht?’ von Rainer Werner: FAZ vom 14.1.2016 - ‘Der Umbruch kam auf leisen Sohlen’ von Bettina Dyttrich: WoZ 04/2016 vom 28.1.2016 - ‘Politik der pädagogischen Aufmerksamkeitsverschiebung’ von Walter Herzog: NZZ vom 7.12.2015 - 'Wie der LP 21 durchgesetzt wird' von Thomas Dähler: BAZ von heute, 11.2.2016 Kommentare: - ‘Von schulischen Trojanischen Pferden und anderen Ungeheuern’ - ein Kommentar zu WoZ, FAZ und Weltwoche von Georg Geiger (FACH) - ‘"Geleitete Schulen" oder Der ganz normale Flachsinn’ – eine Realsatire von Roger Hiltbrunner (FACH) Und noch ein Hinweis auf eine neuere Publikation zum Thema: Herbert Gudjons: Frontalunterricht – neu entdeckt: Integration in offene Unterrichtsformen. Julius Klinkhardt (UTB) 2011 Wir wünschen Ihnen spannende Lektüre! Mit herzlichem Gruss Dr. Ralph Fehlmann Koordinator Forum Allgemeinbildung Schweiz Ralph Fehlmann Erlebnisorientierte Langeweile Katja Oskamp Von Katja Oskamp – Gemäss Lehrplan 21 soll an Schweizer Schulen nicht mehr der Erwerb von Wissen, sondern von «Kompetenzen» im Zentrum stehen. In Deutschland ist diese neumodische Methode längst eingeführt. Mit absurden Konsequenzen, wie ich bei meiner Tochter erlebe. «Wie war’s in der Schule?» – «Langweilig.» – «Was hast du gelernt?» – «Nichts.» Diesen trostlosen Dialog habe ich mit meiner Tochter in den letzten Jahren viele Male geführt. Sie besucht die elfte Klasse eines Berliner Gymnasiums. Herkömmlicher Unterricht findet möglichst selten statt, dafür gibt es immerzu Methoden- und Kompetenzentraining. Die Schüler trainieren, wie man Vorträge hält, wie man einen Ordner anlegt, wie man in der Bewerbungsmappe den Lebenslauf aufhübscht. Einmal musste meine Tochter während eines Tages immer wieder in den Klassenraum eintreten und selbstbewusst wirken. Ein anderes Mal empfahlen sich sechsundzwanzig Schüler sechsundzwanzigmal gegenseitig in überzeugenden Worten dasselbe Blatt Papier, auf dem ein Text stand – als Übung zur korrekten Quellenangabe. Im Englischkurs sollte über die englische Klassengesellschaft diskutiert werden. Meine Tochter sagte: «Ich möchte die Engländer verteidigen.» Die Lehrerin unterbrach sie: «Wörter wie ‹verteidigen› oder ‹angreifen› will ich hier nicht hören. Wir führen keinen Kampf, sondern eine ausgewogene Diskussion.» In der Schule grassiert eine Flut englischer Zauberwörter. Zum Beispiel «Mind Map». Ohne Mind Map – ein grafisch aufbereiteter Stichwortzettel – geht gar nichts. Oder die Power-Point-Präsentation. Wer einen inhaltsarmen Vortrag mit einer quietschbunten Power-Point-Präsentation hält, wird wegen Medienkompetenz besser bewertet als jemand, der Einsteins Relativitätstheorie ohne PowerPoint-Präsentation erklären kann. Wer richtig punkten will, erstellt zur Power-Point ein Handout, damit die Schüler nicht mitschreiben müssen, aber trotzdem was zum Einordnen haben. «Toll, ein anderer macht’s!» Ganz gross angesagt ist Gruppenarbeit, besser bekannt als Teamwork. Für Faule eine feine Sache – die Fleissigen zahlen drauf. Beschwert sich ein Fleissiger beim Lehrer, dass er die ganze Gruppenarbeit allein gemacht hat, gilt er als Petzer und als nicht teamfähig. Das gibt Punktabzug bei den sozialen Kompetenzen. Zyniker übersetzen das englische Wort «Team» mit «Toll, ein anderer macht’s!». Jeder Präsentation folgt zwangsweise ein Feedback. Ein gutes Feedback ist jenes, welches konstruktive Kritik übt. Konstruktive Kritik bedeutet, dass man mit dem Positiven anfängt. Dem Feedback folgt nicht selten ein Feedback, welches das vorangegangene Feedback beurteilt, selbstverständlich in Form konstruktiver Kritik. Häufig finden Projektwochen statt, was bedeutet, dass der Unterricht ausfällt. In der Projektwoche zum Thema Kinderarbeit musste meine Tochter in der dreckigen Turnhalle unter Bänke robben, um Mitgefühl für das Elend bolivianischer Minenkinder zu entwickeln. Die Anglizismisierung geht mit der Infantilisierung einher. Das Wie wird immer wichtiger. Es bringt das Was zum Verschwinden. Die Inhalte werden abgeschafft, die Form übernimmt. Der Gegenstand ist nichts, seine Auf- und Nachbereitung alles. Allein der Abkürzungswust, der uns seit der Einschulung um die Ohren fliegt, spricht Bände: JÜL. SAPH. PibF. WUV. IGEL ist meine Lieblingsabkürzung. Sie steht für: Interessengefördertes Erlebnislernen. Hinter diesen Abkürzungen verbergen sich immer neue Konzepte, immer neue Reformen, von unsichtbaren Pädagogen erdacht, in niedlichen Tierlauten verklausuliert. Passend zu den infantilen Abkürzungen geht der Trend weg von der Schrift, hin zum Bild. Alles muss schnell zu erfassen sein, simpel. Kein Schüler darf je überfordert werden. Deshalb steht die Häppchenkultur hoch im Kurs. Bücher werden, wenn überhaupt, nur auszugsweise gelesen. In der neunten Klasse stand in Deutsch etwas Brecht auf dem Plan. Meine Tochter schlug vor, im Berliner Ensemble die «Dreigroschenoper» anzuschauen. Die Lehrerin war schockiert und verbat sich die Einmischung in ihre Arbeit. Im Religionskurs regte ein Schüler kürzlich an, Nietzsche zu lesen. Das sei ihm zu kompliziert, erwiderte der Lehrer und schlug vor, dass jeder reihum am Freitagmorgen einen selbstgebackenen Kuchen mitbringen soll, den sie im Sinne eines sozialen Miteinanders gemeinsam aufessen würden. Statt Wissen zu erwerben, bekommen die Schüler die ewiggleichen Kompetenzen eingetrichtert, eine krude Mixtur aus politischer Korrektheit und der Anbetung technisch-medialer Möglichkeiten. Der Lehrer verschanzt sich in einer nebligen Ferne, aus der er Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Respekt und Toleranz predigt. Deshalb langweilen sich die Schüler. Nicht nur die guten, auch die schlechten Schüler. Doch Obacht! «Gut» und «Schlecht» gelten nach heutigem Verständnis als reaktionäre Kategorien: «Keiner ist gut. Keiner ist schlecht. Jeder ist anders. Aber alle sind gleich.» Überwältigungsverbot Meine Freundin Anne ist 36 und lässt sich seit einem Jahr an der Humboldt-Universität Berlin zur Grundschullehrerin – in der Schweiz wäre das eine Primarschullehrerin – ausbilden. Ich frage sie, wie die Grundschule der Zukunft aussieht. Zum Zwecke korrekten Genderings spricht man in der Humboldt-Universität von «Schülerinnen und Schülern». Da das zum Schreiben zu lang ist, kürzt man mit «SuS» ab. Doch auch zum Sprechen ist es zu lang, und deshalb reden alle, Professoren und Studenten, immer von «den SuS». Auch das Wort «Lehrer» gibt es nicht mehr. Der Lehrer wird zum «Lernbegleiter». Die Inhalte sind komplett verschwunden, es gibt nur noch Kompetenzen. Man geht davon aus, dass das Weltwissen – die Allgemeinbildung und der Erfahrungsschatz – jederzeit abrufbar ist. Das genügt. Allein nach ihren Interessen sollen sich die Sechs- bis Zwölfjährigen ihr Wissen selbst erarbeiten. Denn die Demokratisierung der Gesellschaft darf vor den Kindern nicht haltmachen. Die Mitbestimmung beginnt schon im Klassenzimmer. Verbote sind strikt verboten in der Grundschule der Zukunft. Hiess es früher «Wir dürfen nicht über die Flure rennen», so heisst es heute «Wir wollen nicht über die Flure rennen». Das wiederum hiess früher Gehirnwäsche. Über dem gesamten Pädagogikstudium allerdings schwebt ein riesengrosses Verbot, es gibt kein Seminar, in dem Anne es nicht zu hören bekommt. Es heisst «Überwältigungsverbot»: Auf keinen Fall darf der Lernbegleiter den SuS seine Bildung und Erfahrung vermitteln. Er darf niemals aus seiner Perspektive Dinge erklären, niemals einem Kind seinen Blickwinkel aufpfropfen, niemals sein Wissen heraushängen lassen. Denn ein Lehrer, der zeigt, dass er mehr weiss als die Schüler, überwältigt sie. Dadurch würde ein fürchterliches Hierarchiegefälle entstehen. Die drei grossen A der Grundschulpädagogik lauten: Abschaffung der Noten, Abschaffung der Jahrgangsstufen, Abschaffung des Hierarchiegefälles. Vor allem aber gehört der Wissensvorsprung des Lehrers abgeschafft. Es ist eine Abschaffungsorgie. Mein Vorschlag: Demnächst hacken wir uns die Beine ab, um den Grössenvorsprung abzuschaffen. Einmal, erzählt Anne, wurde den Studenten eine Textaufgabe in Mathematik vorgelegt. Anne aber konnte die Aufgabe nicht lösen; sie war noch nie gut in Mathe, dafür schon immer gut in Deutsch. In ihrer Not schrieb sie einen langen Text darüber, wie sie sich gemeinsam mit den SuS der Aufgabe nähern würde. Wie sie ein Bild malen, sich den Sachverhalt veranschaulichen und so auf die Schwierigkeiten stossen würde, die die Aufgabe mit sich brachte. Sie gab den Text mit einem schalen Gefühl ab und rechnete mit dem Schlimmsten. Das Gegenteil trat ein. Die Dozentin war begeistert, liess den Text kopieren und als leuchtendes Beispiel an alle verteilen. Anne bekam grösste Anerkennung dafür, dass sie eine Matheaufgabe nicht gelöst hatte. Darin liegt eine gewisse Konsequenz. Denn der ideale Lernbegleiter ist genau so naiv wie die sechsjährigen SuS. Er verbirgt sein Wissen vor den Kindern – im besten Fall muss er nichts verbergen, weil da nichts ist. Meine Tochter wünscht sich inzwischen nichts sehnlicher als schnöden Frontalunterricht. Vorn steht jemand, der etwas weiss, was sie nicht weiss. Das bringt er ihr dann bei. Aber Frontalunterricht gilt unter Pädagogen als Teufelszeug und kommt nur noch selten vor. Sie muss noch anderthalb Jahre durchhalten. Bisher konnten wir, mein Mann und ich, ihren Wissensdurst, ihre Neugier, ihre Lust, die Welt zu begreifen, mit Ach und Krach am Leben erhalten. Trotz Schule. Wir besorgen jedes Buch, das sie lesen will, füttern sie mit Theater- und Opernbesuchen, rufen Leute an, die vom Fach sind und ihre Fragen beantworten können. Meine Tochter möchte noch viel mehr lernen. Leider reicht die Zeit nicht, wegen der Schule. Als ihr Frust darüber unerträglich wurde, haben wir sie ein Jahr nach England geschickt, auf eine Mädchenschule, wo sie immer an der Überforderung entlangschrammte. Sie hat es gepackt. Es sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, sagt sie. Der Lehrer im Leben meiner Tochter Und dann ist da noch Alexander, der Geigenlehrer. Mit Kollegen betreibt er eine private Musikschule. Als Siebenjährige fing meine Tochter bei ihm an, einmal die Woche, mit einer winzigen Achtelgeige. Alexander ist ein begnadeter Komiker, ein Perfektionist, eine launische Diva. Im Unterricht entfacht er einen wahren Überwältigungsfuror. Er stampft herum, fuchtelt mit den Armen, schreit auf, wenn sich bei Bach ein Vibrato einschleicht, hasst verschliffene Töne und besteht darauf, dass seine Schüler Doppelgriffe üben. Alexander ist kein Pädagoge, er ist Vollblutmusiker. Ein Fachmann, der weiss, wie man die Geige in den Griff bekommt und der seine musikalischen Ansichten hemmungslos vertritt. Er liebt die Musik. Seine Leidenschaft ist ansteckend. Meine Tochter flitzt noch mit vierzig Grad Fieber in die Geigenstunde. Sie verdankt Alexander unzählige Lachkrämpfe, hat Tränen vergossen ob seiner Rügen, sich die Zähne ausgebissen an Stücken, die immer ein bisschen schwerer waren, als der gemeine Pädagoge es für richtig hielt. Sie verdankt ihm wunderbare Orchesterfahrten, grossartige Konzerte und ihre beste Freundin, die sie in der Musikschule kennengelernt hat. Sie kann Noten lesen und Komponisten am Stil erkennen, weiss in Musikgeschichte Bescheid und profitiert vom Wissen um den Zusammenhang zwischen Musik und Mathematik. Vor allem kann sie Geige spielen. Derzeit probt sie begeistert das Klaviertrio Nr. 2 von Benjamin Godard. Ich behaupte schon jetzt: Alexander wird der Lehrer im Leben meiner Tochter gewesen sein. Was, wenn er sich vor elf Jahren, als meine Tochter zum ersten Mal zu ihm kam, ans Überwältigungsverbot gehalten hätte? Er hätte sie begrüsst: «Guten Tag, ich bin Alexander, und es ist gut, dass ich dein Geigenlehrer bin, denn ich habe von dieser Sache so wenig Ahnung wie du, so dass wir sie nun gemeinsam demokratisch erarbeiten können.» Ratlos wären beide um das hölzerne Ding geschlichen. Alexander hätte vorsichtig draufgeklopft oder hineingerufen, meine Tochter hätte ein paar Münzen in die geschwungenen Schlitze geworfen oder etwas Wasser eingefüllt. Sie hätten zusammen Flügel aus Papier gebastelt, sie auf den seltsamen Korpus geklebt und das Fenster geöffnet. Und dann hätten sie ausprobiert, ob es fliegen kann, das hölzerne Ding. Katja Oskamp, 44, ist Schriftstellerin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Roman «Hellersdorfer Perle». Weltwoche vom 3.2. 2016 Bildungswelten SEITE 6 · DO NNER S TAG , 1 4 . JANUAR 2 0 1 6 · N R . 1 1 F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G „Wann machen Sie wieder Frontalunterricht?“ Länder in der Pflicht Moderne Methoden können die Substanz des Schulunterrichts untergraben. Sie kommen und gehen. Der Sinn von Schule bleibt derselbe. Ein Erfahrungsbericht. Von Michael Kretschmer Von Rainer Werner K luge Schüler helfen Lehrern manchmal auf die Sprünge. Als ich an einer Berliner Gesamtschule unterrichtete, öffnete mir eine Schülerin die Augen darüber, was im Unterricht dieser Schule im Argen liegt. Sie fragte mich zum Beginn der Stunde: „Müssen wir heute schon wieder das machen, was wir machen wollen?“ Hintergrund dieser erstaunlichen Frage war die Angewohnheit einiger Lehrer, schwierige Klassen dadurch „ruhigzustellen“, dass sie ihnen eine „stille Selbstbeschäftigung“ – natürlich mit dem laufenden Stoff – gestatteten. Dieser gönnerhafte Verzicht auf Unterricht war in Wahrheit eine Form der Kapitulation vor den disziplinarischen Schwierigkeiten, die in Schulklassen immer wieder auftreten – auch am Gymnasium. Die Lehrer gingen selbstverständlich von der Annahme aus, den Schülern dadurch einen Gefallen zu tun, dass sie ihnen die Konfrontation mit dem anstrengenden Stoff ersparten. Allzu oft erweckt das aufmüpfige Gebaren der Schüler, der Gestus des hinhaltenden Widerstandes den Anschein, sie wollten nur eines: das Lernen vermeiden. Das mag für einige Schüler in einer Klasse durchaus zutreffen, keineswegs aber für die Mehrheit. Die aufgeweckte Schülerin, die diesen bemerkenswerten Satz sagte, sprach für diejenigen, die etwas lernen wollten und die von der Lehrkraft zu Recht erwarteten, dass sie in der Lage ist, eine ruhige Lernatmosphäre herzustellen, auch wenn es einer Kraftanstrengung bedarf und mit Konflikten verbunden ist. Mir wurde durch die Frage der Schülerin auch klar, dass Schüler oft hellsichtige Beobachter dessen sind, was sie täglich im Unterricht erleben. Es ist ihnen keineswegs egal, was die Lehrer vor ihren Augen veranstalten. Sie haben ein feines Gespür dafür, ob sie beim Geschichtslehrer etwas lernen oder ob er nur mit ihnen plaudert, ob der Mathelehrer die Rechenoperationen, die er an die Tafel schreibt, auch verständlich erklären kann. An einem Berliner Gymnasium durften Schüler in altersgerechten Fragebögen ihre Lehrer bewerten. Ein häufig geäußerter Kommentar lautete: „Bei Herrn X / Frau Y lernt man nichts.“ Die Schüler wollen also lernen, und wenn sie erleben, dass der Lernstoff unverstanden an ihnen vorbeirauscht, empfinden sie das als echte Strafe. Schüler unterhalten sich sehr gern über ihre Lehrer. Wenn die jugendtypischen Themen wie die neueste Mode oder die gerade angesagte Musik abgehakt sind, reden die Schüler ausgiebig und mit Hingabe über die Vorzüge und die Nachteile ihrer Lehrer. Dabei spielen oft die Aspekte eine Rolle, die mit der Persönlichkeit des Lehrers zusammenhängen. Denn die Akzeptanz, die Schüler einem Lehrer entgegenbringen, macht sich vor allem an Persönlichkeitsmerkmalen fest, wozu Kleidung, Sprechweise und die Körpersprache gehören. Bei einem neuen Lehrer erkennen sie blitzschnell, ob eine selbstsichere Person vor ihnen steht oder ein „schwankendes Rohr im Wind“. Die Ausstrahlung, die eine Person besitzt, wird von den Schülern spontan und intuitiv wahrgenommen. Nach meiner Erfahrung unterschätzen Lehrer gerne diese „weichen Faktoren“ ihrer Profession, weil sie auf die Kraft der Regeln und auf ihre Autorität vertrauen, die schon alles richten werden. Diesem Irrtum kommen „schülerzugewandte“ Lernmethoden entgegen, die eine Abkehr von lehrerdominierten Lehrformen im Sinn haben, vor allem vom Frontalunterricht. Auch hier gab mir eine Schülerin zu denken. Nach einer längeren Phase der Gruppenarbeit im Deutsch-Leistungskurs fragte mich die aufgeweckte Abiturientin: „Wann machen Sie denn mal wieder Ihren Frontal- Fragt der Schüler den Lehrer: „Müssen wir heute schon wieder das machen, was wir machen wollen?“ unterricht?“ Das klug geführte Unterrichtsgespräch wird von den Schülern als besonders effektive, informative, sie keineswegs bevormundende Lernform wahrgenommen. Die Gruppenarbeit erleben sie hingegen oft als ineffektiv und chaotisch. Vor allem dann, wenn im Kurs oder in der Klasse zuvor nicht eisern an den Spielregeln der Gruppenarbeit gefeilt worden ist. Vor allem gute Schüler hadern mit der Gruppenarbeit, weil sich dabei häufig die Gewohnheit einschleicht, dass sie die Hauptlast der Arbeit zu tragen haben, während die schwächeren Schüler als Trittbrettfahrer an ihren Ergebnissen partizipieren. Ich habe deshalb mitunter die leistungsstarken Schüler in einer Gruppe versammelt und ihnen auch anspruchsvollere Aufgaben gegeben. Dies hat mir allerdings von einigen Kollegen den Vorwurf der sozialen Selektion eingebracht. Es ist ein gern gepflegtes Vorurteil, das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch sei identisch mit dem notorischen Monologisieren, mit dem die Studienräte in den 1950er und 1960er Jahren ihre Schüler traktiert haben. Weit gefehlt. Das Unterrichtsgespräch ist eine anspruchsvolle Lernmethode, die, wenn sie vom Lehrer beherrscht wird, zu spannenden und lehrreichen Unterrichtsstunden führen kann. Die Betonung liegt durchaus auf dem Wort „Gespräch“. Der Lehrer muss die Schüler im Dialog an den Lernstoff heranführen, sie an den Überraschungen und Zumutungen teilhaben lassen, die er bereithält. Für den großen Germanisten Eberhard Lämmert ist das Gespräch die „menschenbildende und menschenbindende Wechselrede“. Die beiden Adjektive kann man ruhig wörtlich nehmen: Ein klug geführtes Unterrichtsgespräch „bildet“ und „(ver)bindet“. Wissen und Sozialverhalten gehen dabei Hand in Hand. Ich kann mich noch gut an eine Deutschstunde in einem Oberstufenkurs erinnern. Ich präsentierte den Schülern das Gedicht „Der Mensch“ von Matthias Claudius. Die Schüler tauchten ein in die für sie befremdliche Welt von Empfindsamkeit und naiver Frömmigkeit: „Empfangen und genähret / Vom Weibe wunderbar“. Das Wunder der Entstehung eines Kindes kommt zur Sprache. Ist die Retortenzeugung von Kindern auch noch ein Wunder? Darf der Mensch eigentlich in die Geschehnisse der Schöpfung eingreifen? Der Text von Claudius verstört durch seine unerschütterliche Ruhe und Glaubensgewissheit: „Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder / Und er kömmt nimmer wieder.“ Der Blickwinkel der Diskussion weitet sich. Die letzten Dinge kommen zur Sprache. Schüler im Alter von 17 und 18 Jahren lieben den spekulativen Diskurs. Sie bringen alles vor, was zum Thema Tod gerade in Umlauf ist: Fernöstlich-Esoterisches, Naturwissenschaftliches, Christliches, auch Persönliches. Das Gedicht hat den Horizont geöffnet für eine Diskussion mit philosophischem Gehalt. Glaubt jemand im Ernst, dieses Lehrer-Schüler-Gespräch hätte die Schüler „dominiert“, sie gar „bevormundet“? Lehrer haben nun einmal einen großen fachlichen Vorsprung. Es kommt darauf an, ihn im Sinne der Schüler einzusetzen. Dafür ist das Unterrichtsgespräch sehr gut geeignet. Hätte man die Schüler, wie es bei der Methode des „individuellen Lernens“ üblich ist, mit diesem Gedicht und einigen Erschließungsfragen allein gelassen, hätte die Mehrzahl der Schüler die oben geschilderte Tiefenschicht des Gedichts gar nicht erschließen können. Was sich in einem Gespräch oder einer Diskussion an gemeinsam gewonnenen Erkenntnissen ergibt, lässt sich durch die schriftliche Beantwortung von Fragen zum Text nie erreichen. Es gehört zu den traurigen Folgen dieser vermeintlich schülerfreundlichen Methode, dass sie die Schüler um die Bildungserlebnisse betrügt, die sich nur im Gespräch gewinnen lassen. Mit einem Referendar, den ich als Mentor betreute, hatte ich einmal eine interessante Diskussion. Er fragte mich, ob ich ihm für seine Deutsch-Lehrprobe in einer zehnten Klasse einen guten Text empfehlen könne. Ich meinte, „Der Nachbar“ oder „Eine kaiserliche Botschaft“ von Franz Kafka seien gute, altbewährte Texte, die bei Schülern wegen ihres existentiellen Gehalts gut ankommen und mit denen man auch ihr Textverständnis herausfordern kann. Der Referendar blickte mich etwas verzagt an und meinte dann, der Fachseminarleiter wolle von ihm „Lernen an Stationen“ sehen. Darauf sagte ich ironisch, dann könne er Kafka vergessen. Kafkas Texte ließen sich nicht an Stationen lernen, dazu brauche man einen soliden Bahnhof. Es ist modisch geworden, die Methode des Unterrichtens wichtiger zu nehmen als die zu vermittelnden Inhalte. Früher fragte ein Lehrer, wenn er eine Deutschstunde für eine 8. Klasse plante: „Welcher Text ist für Schüler, die sich gerade in der Pubertät befinden, geeignet, um ihnen ein wenig Orientierung zu geben?“ Heute fragt man: „Welche Kompetenzen sind im Kompetenzraster noch abzuarbeiten?“ In der Pädagogikabteilung von Buchhandlungen stößt man zuhauf auf Titel wie „Methodentraining“, „Lerntraining“, „Abiturtraining“, „Kompetenzen trainieren“. Man fragt sich, ob man nicht aus Versehen in der Sportabteilung gelandet ist. Nach meiner Erfahrung verändert die Kompetenzorientierung die Sicht auf den zu planenden Unterricht. Die Stoffe, die schwierig zu erschließen sind, werden gerne „geopfert“, wenn sie sich nicht mit einer der gängigen Kompetenzen vermitteln lassen. Leider gehen dabei auch die Stoffe verloren, die bei den Schülern auf Begeisterung stoßen könnten. Schüler für den Lernstoff zu entflammen ist das Erfolgsrezept eines guten Unterrichts. Ein langweiliger Unterricht ist für Schüler oft das Schlimmste, was sie in der Schule erleben. Sie leiden darunter und fangen an, den Lehrer als „Schlafpille“ zu hassen. Deshalb ist es bedauerlich, dass das formale Prinzip der Kompetenzorientierung dazu beiträgt, die Spannungsmomente im Unterricht, die durch den Lehrstoff gegeben sein könnten, abzutöten. Damit sich gute Unterrichtskonzepte in der Schule verbreiten, führte das oben schon erwähnte Gymnasium eine „revolutionäre“ Neuerung ein: das offene Klassenzimmer. Lehrer wurden angehalten, spannende Stunden im Lehrerzimmer anzukündigen und die Kollegen dazu einzuladen. So erlebte ich – fachfremd – eine besonders pfiffige Physikstunde, 8. Klasse: das Prinzip des Auftriebs, demonstriert an Ostereiern. Die Lehrerin stellte drei mit Flüssigkeit gefüllte Glaszylinder auf das Lehrerpult. Dann gab sie unterschiedlich gefärbte Ostereier hinein. Das rote Ei sank bis auf den Grund, das gelbe verharrte in der Mitte, und das blaue blieb an der Oberfläche schweben. Die Schüler rätselten, warum sich die Eier so verhielten. Nach vielen Irrwegen („Es liegt an der Farbe“) kam ein Schüler auf die richtige Idee: Es liegt an dem unterschiedlichen Zustand der Flüssigkeiten. Der Rest der Stunde war klassische Physik mit Formeln und Rechenoperationen. Die fünf „Gäste“ aus dem Kollegium waren begeistert, weil sie etwas erlebt hatten, was jeden Unterricht bereichert: eine originell aufbereitete Problemstellung und ein klug geführtes Unterrichtsgespräch. Nach meiner Erfahrung schlummert das größte Qualitätspotential unserer Schulen in der fachlich-methodischen Verbesserung des Unterrichts. Dazu brauchen wir keine neuen Schulformen und keine didaktischen „Erfindungen“. Wir brauchen nur leidenschaftliche und kreative Lehrer. Guter Unterricht lebt aber nicht nur von seinen spannenden Momenten. Schü- Foto dpa ler lieben es auch, mit geistigen Herausforderungen konfrontiert zu werden. Sie dabei zu überfordern ist allemal besser, als sie mit flauen Inhalten abzuspeisen. In meinem Deutschunterricht habe ich gerne solche Texte besprochen, von denen ich annahm, dass sie für die geistige Reifung junger Menschen unverzichtbar sind. Dabei ließ ich mich von dem Vorsatz leiten: Inhalt vor Methode, geistiger Mehrwert vor Kompetenz. Das Gedicht „An den Mond“ von Johann Wolfgang von Goethe („Füllest wieder Busch und Tal / Still mit Nebelglanz . . .“) war für mich immer erste Wahl. Zum einen ist es eines der wertvollsten Gedichte Goethes aus seiner klassischen Periode, erfüllt also einen hohen literarischen Anspruch. Zum anderen ist es makellos schön, vollendet in Gehalt, Form und sprachlicher Gestalt – es hat also eine ästhetische Qualität. Zum dritten enthält es eine Botschaft, die jungen Menschen auch in unserer modernen Zeit etwas Wichtiges vermitteln kann: Ein erfülltes Leben gibt es auch jenseits des großen Weltgetriebes („Selig, wer sich vor der Welt / Ohne Hass verschließt . . .“). Das Gedicht bietet also Sinnstiftung und geistige Orientierung. Wäre es wirklich vertretbar, eine solche Kostbarkeit unter den Tisch fallenzulassen, weil sie wegen ihrer schwierigen Erschließbarkeit den „schülerzugewandten Lehrmethoden“ und der „Kompetenzorientierung“ widerstrebt? Man muss es sich vergegenwärtigen: Gerade das, was die Qualität unserer klassischen Texte ausmacht, ihre poetische Codierung, erweist sich als Hindernis für ihre Behandlung im Unterricht „moderner“ Prägung. Wenn man als Lehrer schon länger im Geschäft ist, hat man viele didaktische Moden kommen und gehen sehen. Dabei stellt man immer wieder beruhigt fest, dass das eigentliche Anliegen der Lehrertätigkeit sich nie verändert: Schulische Erziehung und Bildung dienen dazu, dem Kind die wunderbare Welt des Wissens zu erschließen und ihm das Tor zur Welt der Erwachsenen zu öffnen. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass der Lehrer authentisch und glaubhaft für das steht, was er den Schülern vermittelt. Ich habe mich gerne von der „Erlaubnis“ des Pädagogen Jochen Grell leiten lassen: „Du darfst direkt unterrichten, auch die ganze Klasse auf einmal. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du Schüler belehren willst. Die Schule ist ja erfunden worden, damit man nicht jedes Kind einzeln unterrichten muss.“ Rainer Werner ist Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte in Berlin. Ein Cluster für die Kleinen Universitäten und Forschungseinrichtungen warten in diesen Tagen gespannt auf die Vorschläge der sogenannten Imboden-Kommission zur Fortsetzung der Exzellenzinitiative und die daraus folgende Bund-Länder-Initiative. Es ist noch keineswegs ausgemacht, ob es bei dem wissenschaftsgeleiteten Verfahren einer Förderung der Spitzenforschung bleibt oder ob die Exzellenzinitiative durch andere Kriterien verwässert wird, wofür es derzeit Anzeichen gibt. Das wäre etwa dann der Fall, wenn die zweifellos notwendige Nachwuchsförderung und die Qualität der Lehre mitberücksichtigt würden. Für die Nachwuchsförderung seien längst die Länder in der Pflicht, heißt es beim Hochschulverband, und zur Förderung der gu- Foto Deutscher Hochschulverband Warum der Präsident des Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, eine Reform der Exzellenziniative erreichen will / Von Heike Schmoll Bernhard Kempen lehrt Staatsrecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht in Köln, er ist Präsident des DHV. ten Lehre müssten andere Förderinstrumente auf den Weg gebracht werden. Auf Initiative der Hochschullehrer, die er vertritt, hat der Deutsche Hochschulverband nun seine Überlegungen zur Zukunft der Exzellenzinitiative vorgelegt, die dieser Zeitung vorliegen. Er plädiert darin entschieden für eine Fokussierung auf die universitäre Spitzenforschung. Den strukturellen Kern sollten die Exzellenzcluster bilden, allerdings in einer durchaus erweiterten Form. Bisher war die Kooperation einer außeruniversitären Forschungseinrichtung mit einer Universität das Konstruktionsmerkmal der meisten Exzellenzcluster. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, plädierte dieser Zeitung ge- genüber dafür, dass auch einzelne Institute oder Professoren einen Cluster bilden könnten. Auf diese Weise, so Kempen, kämen auch kleine Fächer in den Genuss der Förderung. „Warum sollten sich nicht herausragende Historiker an einem Standort mit exzellenten Kollegen an anderen Universitäten zusammentun, um ein außergewöhnliches Forschungsprojekt von internationalem Rang auf den Weg zu bringen?“, sagte Kempen. Für solche Förderkonzepte gebe es auch neben den Fördermöglichkeiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) noch genügend Raum. Die sogenannten „Zukunftskonzepte“, die im Wesentlichen auf „Antragsexzellenz“ beruhten, also auf Forschungsvorha- ben, die den Realitätstest erst noch bestehen mussten oder müssen, hält Kempen für völlig überschätzt. Die Graduiertenschulen indessen hätten sich bewährt. Künftige Exzellenzuniversitäten sollten also mindestens eine Graduiertenschule, einen Exzellenzcluster alten Stils (Kooperation mit außeruniversitärer Forschung oder Wirtschaft) und einen Cluster nach DHV-Konzept aufweisen. Für realistisch hält Kempen etwa zehn Standorte. Allerdings plädiert er im Namen des DHV dafür, das durchschnittliche Fördervolumen von 385 Millionen Euro zu erhöhen. Mit den bisherigen Mitteln könnten deutsche Universitäten nicht in die Spitzenliga britischer und amerikanischer Universitäten vorstoßen. Wer den Föderalismus ernst nimmt, muss akzeptieren, dass es unterschiedliche Kompetenzen zwischen Bund und Ländern gibt und dass unterschiedliche politische Entscheidungen in den Ländern zu unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen führen können. Die Unterschiede lassen sich nicht durch immer neue, durchaus kreative Vorschläge für finanzielle Ausgleichszahlungen des Bundes an die Länder kompensieren. Mit ihrer Forderung nach einer „Bundesergänzungszuweisung für Forschungsförderung“ stellt die SPD das bewährte, an Leistungs- und Wettbewerbsgesichtspunkten orientierte Prinzip der Forschungsförderung des Bundes an die Länder auf den Kopf. Ihre Forderung nach einer neuen Zuweisung begründen die SPD-geführten Länder damit, dass die Forschungsförderung des Bundes sich „nicht nach den Kriterien einer gleichmäßigen Verteilung“ richte. Über das Konstrukt einer „Bundesergänzungszuweisung“ will die SPD deshalb leistungsschwachen Ländern, die in den wettbewerblich orientierten Verfahren der Forschungsförderung des Bundes unberücksichtigt bleiben, „über die Hintertür“ einen finanziellen Ausgleich verschaffen. Eine solche Ergänzungszuweisung konterkariert jeden Leistungs- und Wettbewerbsgedanken zwischen den Bundesländern, der ein Wesensmerkmal des funktionierenden Föderalismus ist. Das „Exzellenzprinzip“ in der Forschungsförderung des Bundes, das dem deutschen Wissenschaftssystem in den vergangenen Jahren eine enorme internationale Sichtbarkeit beschert hat, würde durch ein tristes „Gießkannenprinzip“ ersetzt. Allein das zeigt, wie sich bei der SPD – trotz der parteiübergreifend anerkannten Erfolge der Exzellenzinitiative – ideologisch geprägte gegenüber lösungs- und zielorientierten Erwägungen durchsetzen. Ein weiteres Beispiel für die wenig einfallsreichen, dafür aber ideologiebehafteten Vorschläge der SPD ist die in der Flüchtlingsdebatte abermals erhobene Forderung nach einer vollständigen Abschaffung des Kooperationsverbotes. Nachdem der Bund über die vollzogene Änderung des Artikels 91b Grundgesetz bereits größere Gestaltungsmöglichkeiten bei der Förderung von Forschung und Lehre an Universitäten und Hochschulen erhalten hatte, soll er nach den Vorstellungen der SPD zukünftig auch bei den schulpolitischen Aufgaben der Länder mitwirken. Der SPD geht es dabei jedoch weder um die Sicherung eines (bundes-)einheitlichen Qualitätsniveaus in der Schulbildung noch um eine Entflechtung und Vereinfachung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, sondern vorrangig um weitere Bundesmittel für die Länder. Das ist in der Sache nicht akzeptabel. Wenn der Bund sich finanziell beteiligt, muss er auch inhaltlich mitreden können. Das ist bislang an den Widerständen der Bundesländer gescheitert. Noch nie hat der Bund so viel Geld an die Länder gegeben. Allein in dieser Wahlperiode hat er durch die Übernahme der vollen Bafög-Finanzierung die Länder dauerhaft um 1,15 Milliarden Euro pro Jahr entlastet und den Ländern neue finanzielle Spielräume für die Hochschulfinanzierung eröffnet. Auch in den beiden vorangegangenen Legislaturperioden hat sich der Bund bereits überdurchschnittlich an der Finanzierung von Forschung und Lehre beteiligt: Fast jeder fünfte öffentliche Euro für die Hochschulen kommt mittlerweile vom Bund. Dies zeigt der am 17. Dezember von Statistischen Bundesamt vorgelegte „Bildungsfinanzbericht 2015“. Die Bildungsausgaben des Bundes steigen nach den Haushaltsansätzen im Jahr 2015 auf 9,1 Milliarden Euro und liegen damit gut 80 Prozent über dem Wert von 2008 (5,1 Milliarden Euro). Die massive Steigerung der Bildungsausgaben des Bundes kommt dabei insbesondere den Hochschulen zugute. Das haben die Länder zum Anlass genommen, ihre Anstrengungen in Bildung und Forschung zu reduzieren und sich schrittweise aus der Verantwortung für ihre originären Zuständigkeiten zurückzuziehen. Die Ursache für die von der SPD als mangelhaft gesehene Ausstattung von Forschung und Lehre liegt darin, dass einige Länder ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe nicht nachkommen, den Hochschulen eine ausreichende Grundfinanzierung zu sichern. Es darf deshalb bezweifelt werden, dass die über den Hochschulpakt pauschal zur Verfügung gestellten Bundesmittel von den Ländern zweckentsprechend eingesetzt werden und der Verbesserung von Bildung und Forschung in der Fläche zugutekommen. Weder die Forderung nach einer Aufhebung des Kooperationsverbotes für den Schulbereich noch die Einführung einer „Bundesergänzungszuweisung für Forschungsförderung“ werden diesen Widerspruch aufheben. Die Länder sind gefordert, ihre Verantwortung für ihre Schulen und Hochschulen wahrzunehmen. Der Bund steht zu seiner Verantwortung für die überregionale Förderung des Wissenschaftssystems und hält an den exzellenzorientierten Kriterien der Mittelzuweisung unverbrüchlich fest. Diesem Grundsatz wird die Union auch bei den im Jahr 2016 anstehenden Verhandlungen über die Fortsetzung der Exzellenzinitiative und über die zukünftige Architektur unseres Wissenschaftssystems folgen. Der Autor ist Generalsekretär des CDU-Landes- verbandes Sachsen und stellvertretender CDUBundesvorsitzender. WOZ Nr. 04/2016 vom 28.01.2016 Der Umbruch kam auf leisen Sohlen In den letzten 25 Jahren hat sich die Schule stark verändert. Viele LehrerInnen kritisieren neue Hierarchien, fehlende Mitsprache und überbordende Bürokratie. Wie ist es dazu gekommen? Und was lässt sich dagegen tun? Von Bettina Dyttrich Georg Geiger ist seit bald zwanzig Jahren Gymnasiallehrer in Basel. Und er ist es gerne: Literatur, Philosophie und Geschichte faszinieren ihn, und er mag die Arbeit mit Jugendlichen. In diesem Beruf kann er beides verbinden. Dennoch findet Geiger die Arbeit in der Schule zunehmend frustrierend: «Man hat einen immer grösseren administrativen Aufwand und immer weniger zu sagen.» Standardisierte Vergleichstests im ersten Gymijahr, immer wieder Fragebögen, die akribisch ausgewertet werden müssen, MitarbeiterInnengespräche, an denen «Zielvereinbarungen» formuliert werden, Formulare für die Absenzen und die Praktika, Prüfungsdokumentationen … Gleichzeitig schwinde die Mitsprache: «In unserer Schule wird ein neuer Rektor gewählt. Bisher hatte das Kollegium ein Anhörungsrecht. Wer Rektor werden wollte, stellte sich vor, und es gab eine strukturierte Diskussion. Jetzt wird das abgeschafft. Der Mittelschulleiter des Basler Erziehungsdepartements sagt, Hearings seien aus Personenschutzgründen nicht rechtens und könnten zu unzumutbaren Blossstellungen führen. Dabei ist das nie passiert!» Gremien erfinden sich selbst Auf vielen Ebenen sei die Schule hierarchischer geworden, sagt Geiger: «Man hat immer mehr Funktionsstellen über sich. Gremien entstehen, indem sie behaupten, sie seien zuständig. Zum Beispiel treffen sich in Basel die Gymirektoren regelmässig mit dem kantonalen Mittelschulleiter – dieses Gremium hat nie jemand offiziell eingeführt. Vielleicht ist diese Entwicklung nötig, weil die Strukturen grösser und komplexer werden. Aber als Lehrer erlebe ich sie als Entdemokratisierung.» Es sei schwierig, sich zu wehren, da viele Reformen mit hehren Absichten verkauft würden: «Man nimmt einen guten Gedanken – etwa die Inklusion behinderter Kinder in die Regelklassen – und setzt ihn bürokratisch von oben nach unten um. Das Ergebnis ist oft schlechter und teurer als das, was vorher war. Jetzt zwängt man diese Kinder in den Regelunterricht, aber es darf nicht mehr kosten. Sie sind heillos überfordert.» Georg Geiger ist nicht der Einzige. Viele LehrerInnen aller Stufen berichten Ähnliches: Die Schule werde hierarchischer, verbunden mit einer überbordenden Bürokratie, sie fühlten sich nicht mehr ernst genommen und hätten immer weniger Zeit für ihre Kernaufgabe – das Unterrichten. Auch die LehrerInnen, die sich im letzten Herbst der Debatte «Was läuft schief in der Bildungspolitik?» des linken Thinktanks Denknetz im Liestaler Kulturzentrum Palazzo zu Wort melden, sind sich weitgehend einig: «Man will nicht mehr, dass die Basis die Schule gestaltet.» Ein Lehrer erzählt, er habe gekündigt, weil er sich so entmündigt gefühlt habe: «Das Schulhaus wurde renoviert, und unsere Bedürfnisse wurden null berücksichtigt, nicht einmal bei den Waschbecken. Dasselbe bei der Abschaffung der Kleinklassen: Es gab keine Mitsprache, es wurde einfach befohlen.» Ein anderer berichtet von Bewerbungsgesprächen für eine Schulleitungsstelle: «Die Bewerber wurden gefragt: ‹Sind Sie bereit, Entscheidungen gegen den Willen Ihrer Lehrpersonen durchzusetzen?›» Globalisierung fördert Kantönligeist Die aktuelle Diskussion entzündet sich am Lehrplan 21 (vgl. «Das Misstrauen der LehrerInnen»). Doch die Gründe für den Unmut liegen tiefer. In den letzten zwei Jahrzehnten blieb in den Schulen kaum ein Stein auf dem anderen. Die Laiengremien, die in der föderalistischen Schweiz seit dem 19. Jahrhundert eine grosse Rolle in der Schulverwaltung und -aufsicht spielten, haben an Bedeutung verloren: Ausser in Appenzell Innerrhoden sind Schulleitungen heute in der ganzen Deutschschweiz Standard. Aus der Lehrerseminarausbildung, die direkt nach der Sekundarschule begann, ist ein Masterstudium geworden. Gleichzeitig wälzte der Bologna-Prozess die universitäre Bildung um – auch die LehrerInnenbildung. Und spätestens seit den ersten Pisa-Tests im Jahr 2000 hat die Debatte über schulische Standards und schulübergreifende Tests die Schweiz erreicht. Es sind internationale Entwicklungen, auf die die Schweiz reagiert. Aber weil hierzulande die Kantone für die Schulbildung zuständig sind, trifft die internationale Ebene direkt auf die kantonale – Globalisierung vermischt sich mit Kantönligeist. Oder fördert ihn sogar: «Die Globalisierung hat zu viel mehr Wettbewerb zwischen den Kantonen geführt», sagt der ehemalige Aargauer SP-Nationalrat Hans Zbinden. «Alle sehen sich als ‹Standortkantone›. Dieser Wettbewerb fördert den Lernaustausch nicht. Es ist wie früher im Klassenzimmer: Man stellt ein Mäppchen auf, damit der Banknachbar nichts sieht.» Zbinden sass bis 2002 im Nationalrat, er hat auf allen Stufen der Schweizer Bildung gearbeitet – als Kindergärtner, Primarlehrer, Rektor, Hochschuldozent – und war vielleicht der letzte linke Bildungspolitiker mit gesamtschweizerischem Blick. «In der Bildung ist die Schweiz bis heute ein Staatenbund, kein Bundesstaat», sagt er heute. Entsprechend steht an der Spitze der Schweizer Volksschule kein Bundesamt, sondern die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), das Gremium der zuständigen Regierungsräte. «Weil die Arbeitsbedingungen kantonal sind, fokussiert sich die Bildungspolitik stark auf die kantonale Ebene, auch in der SP», sagt Zbinden. Grosse Veränderungen – wie die geleiteten Schulen – kamen schleichend: Ein Kanton nach dem anderen führte sie ein, und am Ende war die Schule eine andere, ohne dass eine gesamtschweizerische Diskussion stattgefunden hatte. Genauso diskussionslos hat die Schweiz 1999 die Bologna-Deklaration unterzeichnet. Hingegen verursachen viel weniger grundlegende Fragen wie die erste Fremdsprache riesige Kontroversen. «Laute Kleinreformen – leise Grossreformen» hat Zbinden dieses Paradox schon vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht. Hans Zbinden hat den neuen Bildungsverfassungsartikel entworfen, über den 2006 abgestimmt wurde. Damit sollten die Dauer von Primar- und Sekundarschule, die Bildungsinhalte und die Übertritte von einer Stufe in die andere vereinheitlicht werden – so weit, dass Kinder problemlos den Kanton wechseln können, ohne den Anschluss zu verlieren. Der Bildungsartikel war ein grosser Schritt weg vom Kantönligeist – nur interessierte er damals niemanden: Ein Abstimmungskampf fand nicht statt, die Stimmbeteiligung lag bei gerade einmal 27 Prozent, davon stimmten 86 Prozent Ja. «Es gab keine Diskussion und deshalb auch keine Verankerung in der Öffentlichkeit», sagt Zbinden heute. Umso heftiger brach die Diskussion um das Harmos-Konkordat los, das den Verfassungsartikel umsetzen sollte. Rechte und freikirchliche Kreise fürchteten eine «Verstaatlichung der Kindheit», ergriffen in vielen Kantonen das Referendum und gewannen es teils auch, etwa in Schwyz, Luzern und im Thurgau. Seither folgt eine Volksschulkontroverse auf die andere. Alle Macht den Schulleitungen? Die Schule ist hierarchischer geworden – doch das liegt weniger an Harmos oder an Beschlüssen der EDK als an der neuen Hierarchiestufe in jedem Schulhaus: den SchulleiterInnen. Sie beurteilen den Unterricht der Lehrkräfte, stehen im Kontakt mit staatlichen Stellen, Heilpädagoginnen, Schulpsychologen und Eltern und planen Projekte, die das ganze Schulhaus betreffen. «Die Einführung der Schulleitungen war eine viel tiefgreifendere Änderung als der Lehrplan 21», sagt Christina Rothen. «Aber es gab nirgends einen Aufschrei.» Rothen war Primarlehrerin, danach studierte sie Erziehungswissenschaften, dozierte an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, schrieb ihre Dissertation über die Primarschulverwaltung im Kanton Bern und arbeitet jetzt an der Universität Zürich. Gute Voraussetzungen, um die unübersichtliche Deutschschweizer Bildungslandschaft zu verstehen. Die Schulleitungen sieht sie kritisch: «Ihre Einführung war mit den New-Public-Management-Verwaltungsreformen verbunden. Es ist widersprüchlich, die Lehrerausbildung professionalisieren zu wollen und gleichzeitig eine neue Hierarchiestufe einzuführen, die die Selbstbestimmung der Lehrerinnen und Lehrer untergräbt. Sie können ihre Arbeit nicht selbst gestalten, wenn sie einer Hierarchie gegenüber loyal sein müssen.» Sie vertrete die Philosophie, dass man Macht bändigen müsse, indem man sie verteile, sagt Christina Rothen. Mit den Schulleitungen sei das Gegenteil geschehen: «Wir geben Einzelpersonen sehr viel Macht. Damit das gut geht, braucht es unglaublich gute, integre Leute auf diesen Posten.» Was nicht immer der Fall ist. Schulleitungen könnten «sowohl rational als auch irrational handeln», schreibt Christina Rothen lakonisch in ihrer Dissertation. Wer im Alltag mit LehrerInnen zu tun hat, kennt die Geschichten von SchulleiterInnen, denen persönliche Machtkämpfe wichtiger sind als das Wohl der Schule. «Eine gute Schulleitung gibt den Lehrpersonen Freiheiten, eine schlechte ist der Horror», fasst die Erziehungswissenschaftlerin zusammen. «Ich denke, dass sich als Folge dieser Entwicklung auch andere Leute für den Lehrerberuf entscheiden als früher. Solche, die sich in Hierarchien wohlfühlen.» Auch das New Public Management (NPM) war und ist eine internationale Entwicklung – aber eine, die bestens zur geschäftstüchtigen Schweizer Mentalität passt. Vorreiter des NPM in der Schule war der Zürcher CVP-Regierungsrat Ernst Buschor, bei der Umsetzung der Verwaltungsreformen arbeiteten vielerorts SozialdemokratInnen und Neoliberale zusammen – es hat mit solchen Allianzen zu tun, dass viele linke LehrerInnen das Gefühl haben, mit ihrer Kritik gegen eine Wand anzurennen. Er habe oft mit SP-KollegInnen gestritten, weil sie zusammen mit der FDP das New Public Management am stärksten unterstützt hätten, sagt Hans Zbinden. Georg Geiger erwähnt die gleichen Verbindungen: «FDP- und SP-Leute treiben die Hierarchisierung und Normierung in den Schulen voran – die einen aus ökonomischen Gründen, die anderen, weil sie denken, das mache die Schule gerechter.» Wer New-Public-Management-Literatur liest, wundert sich nicht mehr, dass kritische LehrerInnen manchmal leicht paranoid klingen. Zum Beispiel «Die teilautonome Schule» (2011) von Wirtschaftspädagoge Rolf Dubs, einem ehemaligen Rektor der Universität St. Gallen: Zu den Merkmalen des New Public Management zählt Dubs explizit den «Widerstand gegen Forderungen der Gewerkschaften». Um die Lehrkräfte weniger misstrauisch zu machen, solle man statt von NPM lieber von «wirkungsorientierter Verwaltungsführung» sprechen. Das Buch liest sich wie ein Ratgeber im Umgang mit widerspenstigen LehrerInnen. Ein dicker Kompass Und jetzt also der Lehrplan 21. Er listet auf, was SchülerInnen alles können müssen: 363 «Kompetenzen», aufgeteilt in über 2000 «Kompetenzstufen». Solche Wirtschaftsjargonbegriffe machen KritikerInnen misstrauisch. Sie befürchten, Bildung werde auf messbare Tätigkeiten reduziert und damit ihres kritischen Potenzials beraubt. Wer den Lehrplan liest, stösst allerdings auf viele «Kompetenzen», die in bester Tradition der Aufklärung stehen und sich kaum messen lassen: Die SchülerInnen sollen sich etwa mit Geschlechterrollen auseinandersetzen, die Menschenrechte kennen oder ihr Konsumverhalten reflektieren. Hans Zbinden versteht die Aufregung um den Kompetenzbegriff nicht ganz: «Er wurde auch früher schon in der Pädagogik verwendet. Ich finde ihn nicht so schlimm, weil sowieso niemand genau weiss, was er bedeuten soll.» Trotzdem sieht er den Lehrplan 21 kritisch – dieser sei von Anfang an falsch konzipiert worden: «Nicht von den Betroffenen her, sondern top-down.» Die Erziehungsdirektorenkonferenz habe den Verfassungsartikel falsch verstanden: «Ich habe ihn bewusst Bildungsrahmenartikel genannt: Oben setzt man einen Rahmen, aber lässt darin viel Gestaltungsspielraum, Raum für kreative Lösungen. Mir schwebte das so vor: Ein Drittel legt der Bund fest, ein Drittel die Kantone, ein Drittel die Schulen vor Ort. Mit einem solchen Konzept hätte man die Bevölkerung hinter sich, da bin ich überzeugt. Und man könnte sprachregionale und regionale Spezifika belassen. Partnerschaftlich statt top-down.» Ein Lehrplan müsse ein Alltagswerkzeug sein, ein Kompass. Aber dafür sei der Lehrplan 21 viel zu umfangreich. «Viele gute Leute aus der Praxis waren bei der Planung dabei, aber man sieht, dass alle versuchten, ihre Interessen reinzubringen. Welcher Lehrer hat im Alltag Zeit, ein solches Buch zu lesen?» Wochenlang testen Viel beunruhigender als der Lehrplan ist allerdings eine andere Entwicklung: das überbordende Testwesen. Einige Kantone setzen auf standardisierte «Checks», die ausserhalb der Schule von Universitätsinstituten oder Firmen entwickelt und ausgewertet werden. In der Nordwestschweiz sind sie bereits üblich. Die Kantone Basel-Stadt und Baselland, Aargau und Solothurn arbeiten in Bildungsfragen zusammen, koordinieren die LehrerInnenbildung und haben nun auch gemeinsam Checks in der Volksschule eingeführt – in Natur und Technik, Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik. Geprüft wird in der dritten und der sechsten Primar, in der zweiten und der dritten Sek. Die Checks dienten «der Förderung und der Standortbestimmung» und seien «kein Prüfungsinstrument», heisst es in einem Elternbrief der Baselbieter Bildungsdirektion vom Sommer 2014. Die Idee tönt ja gut: Mit einem Test, den alle machen müssen, bekommt das Kind eine objektive Beurteilung seiner Leistung, unabhängig von den Besonderheiten seiner Klasse oder den Sympathien der Lehrerin. Danach kann es gezielt dort gefördert werden, wo es Mühe hat. Doch Florence Brenzikofer, grüne Baselbieter Kantonsrätin und Sekundarlehrerin in Liestal, ist skeptisch. Sie wird ihre Klasse 2017 erstmals prüfen müssen; miterlebt hat sie die Tests bereits bei ihrem Sohn, der die sechste Primarklasse besucht. «Für gute Schülerinnen und Schüler sind die Checks kein Problem, aber für Kinder mit Prüfungsangst eine enorme Belastung. Sie dauern über einen Zeitraum von mehreren Wochen», sagt sie. «Die Checks führen zu einer verschärften Konkurrenz unter Kindern, Schulklassen und Lehrpersonen. Es heisst zwar, die Resultate würden nicht veröffentlicht, ein Schulranking sei ausgeschlossen. Aber wer weiss, ob das so bleibt?» Vor allem befürchtet Brenzikofer, dass die Tests den Unterricht verändern und statt vertiefter Bildung die kurzfristige Vorbereitung auf die Prüfungen in den Vordergrund rückt – «teaching to the test» nennt man das im angelsächsischen Raum. Ist die Nordwestschweiz der erste Dominostein in einer Entwicklung, die die ganze Schweiz erfassen wird? Der Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver kann sich das nicht vorstellen: «Was die Nordwestschweiz macht, nehmen die anderen Kantone eher aus Distanz zur Kenntnis. Für uns in Bern ist es undenkbar.» Allerdings plant die EDK eine eigene Überprüfung der «Grundkompetenzen» – als Ersatz für die Pisa-Tests, an denen die Schweiz nur noch sehr reduziert (letztes Jahr mit 5000 Jugendlichen) teilnimmt. Dieses Jahr sollen rund tausend NeuntklässlerInnen pro Kanton eine dreistündige Mathematikprüfung absolvieren, nächstes Jahr kommt dann die Muttersprache dran. Bernhard Pulver nimmt die Gefahr von Schulrankings ernst. «In kleinen Kantonen, wo alle Schulen mitmachen müssen, damit es statistisch relevante Daten gibt, werden wir mit technischen Massnahmen dafür sorgen, dass keine Rankings möglich sind – die EDK wird nur das Schlussergebnis pro Kanton erhalten.» Keine Ranglisten zwischen einzelnen Schulen also – aber Ranglisten zwischen Kantonen? Das sei ein Problem, räumt Pulver ein. «Wichtig ist, dass der Kanton Bern weiss: Erreichen wir die Ziele – gut, knapp oder gar nicht? Aber ich will nicht wissen, ob der Kanton Freiburg im gleichen Fach fünf Punkte besser abschneidet. Sonst reden alle nur noch davon, das führt zu politischem Aktionismus und sinnloser Reformitis.» Wild arbeitende Lobbys Warum wächst die Bürokratie ausgerechnet in einem politischen Klima, in dem fast alle sparen wollen? Diese Frage treibt Beat Ringger, den Sekretär des Denknetzes, schon lange um. Inzwischen hat er Antworten: «Neoliberale Bürokratie» heisst ein Text, den er zusammen mit dem Sozialwissenschaftler Bernhard Walpen für das neuste «Denknetz-Jahrbuch» geschrieben hat. Der Titel überrascht: Schliesslich werden die Neoliberalen nicht müde, die Staatsbürokratie als ineffizient und aufgebläht anzuprangern. «Davon haben auch wir uns lange blenden lassen», sagt Ringger. «Dabei fördert der Neoliberalismus die Bürokratisierung massiv: weil Dienstleistungen zu Waren umgeformt werden. Dafür muss man sie quantifizieren. In der Bildung macht man das mit Tests. Dann kann man das System deregulieren und private Elemente reinbringen.» Aber Bildung lasse sich genau wie Pflege schlecht quantifizieren: «Der innere Gehalt wird verändert, wenn man zu messen anfängt.» Die Messung verändert das Gemessene – was für die Quantenmechanik gilt, gilt auch für die Schule. Lehrer Georg Geiger gibt ein Beispiel: «Prüfungen werden grundsätzlich schlechter, wenn man sie standardisiert; normieren heisst immer vereinfachen. In Österreich wird Literatur an der Matura nicht mehr geprüft – weil sie nicht beurteilbar sei.» Und Standardisierung führt wiederum zu mehr Bürokratie, wie Beat Ringger ausführt: «Man muss sicherstellen, dass alle die gleichen Tests machen, und dann muss man sicherstellen, dass niemand geschummelt hat …» Ein Blick in die USA zeigt, wohin das führen kann: Dort sind Schulvergleichstests zu einem enormen Druckmittel geworden. In manchen Schulen hängt der Lohn oder sogar der Job der LehrerInnen von den Ergebnissen ab – ein klarer Anreiz, Ergebnisse zu manipulieren. Im Denknetz-Text analysiert Ringger das Phänomen im Gesundheitswesen, wo es – mit Fallpauschalen und der Zerstückelung der Pflegezeit in Tarifminuten – schon viel weiter fortgeschritten ist als in der Bildung. Doch viele Tendenzen liessen sich auf die Bildung übertragen, sagt Ringger: «Sobald sich eine starke privatwirtschaftliche Lobby in einem Bereich des Service public festgesetzt hat, arbeitet sie wie wild und verteidigt ihre Privilegien. Wir müssen verhindern, dass es so weit kommt.» Die Suche nach dem Schulkonsens Was ist die Aufgabe der Schule? Soll sie mündige, kritische Menschen bilden oder «Humankapital» für die Wirtschaft bereitstellen? Der Druck, die Schule auf Letzteres zu reduzieren, ist gross – von rechten Parteien, WirtschaftsvertreterInnen, aber auch von vielen Eltern. Die Bildung sei zum Seitenwagen der Wirtschaft geworden, sagt Hans Zbinden. «Und es ist nicht der Seitenwagen, der Gas gibt.» Wie kann sich die Linke gegen diese Entwicklungen wehren? Der Föderalismus ist auch hier Chance und Hindernis zugleich: Einerseits erschwert er zentralistische Top-down-Reformen. Andererseits behindert er den Austausch, weil kaum jemand den Überblick hat, was in anderen Kantonen gerade geschieht. Sich den rechts-christlich und SVP-dominierten Initiativkomitees gegen den Lehrplan 21 anzuschliessen, die in vielen Kantonen entstanden sind, kann es jedenfalls nicht sein. Beat Ringger schlägt einen «linken Schulgrundkonsens» vor: «Gemeinsame Forderungen könnten sein: Keine Checks, kein Schulranking, Methodenfreiheit, Mitbestimmung der Basis. Dann gäbe es auch keine Allianzen mit der SVP.» Und Erziehungswissenschaftlerin Christina Rothen sagt: «Wir sollten von Pisa gelernt haben, dass es unglaublich schwierig ist, Daten zu vergleichen. Und dass solche Vergleiche immer ein Druckmittel sind. Ich wünsche mir mehr Aufmüpfigkeit im Umgang mit den neuen Evaluationsinstrumenten.» Literatur zum Thema: Christina Rothen: «Selbstständige Lehrer, lokale Behörden, kantonale Inspektoren. Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule im Kanton Bern 1832–2008». Chronos Verlag. Zürich 2015. Fitzgerald Crain: «Anpassung und Wettbewerb: Leistungsvergleiche als Kontrollmittel». In: «VPOD Bildungspolitik», Nr. 194, Dezember 2015. vpod-bildungspolitik.ch/?p=2095 (link is external) Beat Ringger, Bernhard Walpen: «Neoliberale Bürokratie». In: «Denknetz-Jahrbuch 2015». www.denknetzonline.ch/grundlagen/neoliberale-buerokratie (link is external) Diane Ravitch: «The Death and Life of the Great American School System. How Testing and Choice Are Undermining Education». Basic Books. New York 2010. Bildungspolitik Politik der pädagogischen Aufmerksamkeits-Verschiebung Die Schule wird mehr und mehr als Beitrag zur Produktion von Humankapital beurteilt. Bildung wird dabei auf ihre Funktionalität reduziert. Gastkommentar von Walter Herzog 7.12.2015, 05:30 Uhr Zu sehr unterscheidet sich die pädagogische Arbeit von einem industriellen Fertigungsprozess, als dass ethischen Ansprüchen ausgewichen werden könnte. In einer seiner letzten Abhandlungen nannte Sigmund Freud das Erziehen einen jener «unmöglichen» Berufe, in denen man sich «des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann». Die Äusserung steht in einem Kontext, in dem sich Freud mit der Persönlichkeit des Analytikers auseinandersetzt. Diese kann sich als Hindernis einer erfolgreichen Therapie erweisen, lässt sich aber nie so weit aufdecken, dass sie als therapeutischer Wirkfaktor genutzt werden könnte. Kein Mensch wird jemals die Vollkommenheit erreichen, deren es bedürfte, um die eigene Person als Mittel zum Zweck einzusetzen. Im Binnenraum der Schule Zwar wird gerade von Lehrpersonen gerne erwartet, dass sie Vorbild sind, um gezielt auf ihre Zöglinge einzuwirken. Aber Vorbild kann man nicht sein wollen, als Vorbild muss man gewählt werden. Genau so, wie sich Aktivität und Passivität in einer Psychoanalyse nicht einseitig auf Analytiker und Analysand verteilen, sind Bildung und Erziehung interaktive Prozesse. Kinder sind an ihrer Erziehung ebenso beteiligt wie ihre Eltern, und ohne aktive Teilnahme der Schülerinnen und Schüler am Unterricht würde die Schule einer ihrer wichtigsten Ressourcen beraubt. Da in pädagogischen Situationen auf beiden Seiten Subjekte stehen, lassen sich Erziehung und Unterricht auch nicht auf Technologie reduzieren. Es gibt Ansprüche an das pädagogische Handeln, die unabhängig sind von seiner Zwecksetzung. In den Worten von Kant unterliegt, wer unterrichtet oder erzieht, dem Anspruch, die Adressaten seines Handelns nie bloss als Mittel zum Zweck, sondern jederzeit als Selbstzweck zu behandeln. Selbst wenn sich herausstellen würde, dass strenge Strafen das effektivste Mittel sind, um Schüler zum Lernen anzuhalten, wäre es moralisch verwerflich, dieser Erkenntnis Folge zu leisten. Des Weiteren haben es Lehrpersonen im Unterschied zum Arzt oder Psychotherapeuten in der Regel nicht mit einem individuellen Gegenüber zu tun, sondern mit einem Kollektiv. Das klassische Modell des pädagogischen Verhältnisses mag für die familiäre Erziehung seine Berechtigung haben, auf den Unterricht übertragen, führt es in die Irre. Weil Schülerinnen und Schüler keine passiven Objekte sind, ihre Beteiligung am Unterricht den Intentionen der Lehrkraft aber oft entgegenläuft, erweisen sich Schulklassen als äusserst komplexe Gebilde, die in ihrer Dynamik schwer vorhersehbar sind. Wenn man sich im Lehrerberuf «des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann», dann erklären diese drei Wahrheiten über den schulischen Unterricht, weshalb dem so ist. Zu viele Bedingungen pädagogischer Wirksamkeit entziehen sich der Kontrolle durch die Lehrperson, zu komplex ist das soziale Gefüge des Unterrichts, als dass das Lehrerhandeln technologisch abgesichert werden könnte, und zu sehr unterscheidet sich die pädagogische Berufsarbeit von einem industriellen Fertigungsprozess, als dass ethischen Ansprüchen ausgewichen werden könnte. Die Schule, von aussen betrachtet Es scheint, als würde die Einsicht in die «Unmöglichkeit» des Lehrerberufs vor unseren Augen in Vergessenheit geraten. Dafür verantwortlich ist eine Bildungspolitik, die – gewollt oder nicht – die Aufmerksamkeit vom schulischen Binnengeschehen zunehmend auf die Aussenwirkungen der Schule lenkt. Begonnen hat es mit den Pisa-Studien, die beanspruchen, das Wissen und Können 15-jähriger Schülerinnen und Schüler zu erfassen, dabei aber ausdrücklich davon absehen, nach welchem Lehrplan sie unterrichtet wurden. Die Schule wird gemäss ihrem Beitrag zur Produktion von Humankapital beurteilt, Bildung auf ihre Funktionalität für die erfolgreiche Bewältigung einer sich schnell verändernden Gesellschaft reduziert. Entlarvend ist die Terminologie, die sich für die Pisa- und ähnliche Studien eingebürgert hat. Man spricht von Schulleistungsstudien, als ob die erfassten Leistungen nicht den Schülerinnen und Schülern, sondern der Schule zuzuschreiben wären. Das Input-OutputDenken, das auch vielen Modellen der Schulevaluation zugrunde liegt, verbannt das komplexe Bedingungsgefüge des schulischen Lernens in eine Black Box, deren Existenz zwar nicht geleugnet wird, die in ihrem Wirkungsgefüge aber unaufgeklärt bleibt. Bezeichnenderweise geht der Begriff der «guten Schule» auf eine Forschungstradition zurück, die im Englischen mit dem Etikett der «effective school» belegt wird. Das moralisch Gute der Schule, dem man im Binnenraum begegnet, fällt in deren Aussenbetrachtung dem technisch Guten gänzlich zum Opfer. Nicht nur Harmos, auch das jüngste Reformprojekt der EDK, das den Gymnasien gewidmet ist, folgt dieser Logik zweckrationalen Denkens. Auch wenn betont wird, dass sie mehr als nur Zubringer der Universitäten sind, erscheinen die Gymnasien ausschliesslich im Lichte ihrer Leistungen für die «Langfristige Sicherung des prüfungsfreien Hochschulzugangs» (so der prätentiöse Titel des Projekts). Den Gymnasien wird gleichsam die Garantie abverlangt, dass künftig ausnahmslos alle Maturandinnen und Maturanden gewisse Stoffe in gewissen Fächern (noch beschränkt sich das Projekt auf Mathematik und Unterrichtssprache) lückenlos beherrschen. Ein weiteres Beispiel ist das Bildungsmonitoring, das dem Bildungsbericht Schweiz zugrunde liegt. Es folgt einem simplen kybernetischen Schema, bei dem die Politik Ziele vorgibt, deren Erreichung von der Bildungsforschung überprüft wird, worauf die Politik entweder korrigierend eingreift oder neue Ziele setzt. Als Zielkriterien gelten Effektivität, Effizienz und Bildungsgerechtigkeit (Chancengleichheit) des Systems. Wie den Pisa-Studien wird dem Bildungsbericht eine Steuerungsfunktion zugewiesen. Daten, die sich nicht für Steuerungszwecke nutzen lassen, werden ausdrücklich nicht in den Bericht aufgenommen. Indem die Aufmerksamkeit vom Inneren der Schule auf deren Aussenwirkung verschoben wird, entschwinden die Erfolgsbedingungen des Lehrerhandelns dem politischen Blick. Ein lineares Verständnis pädagogischer Wirksamkeit rückt an die Stelle des kommunikativen und kooperativen Charakters pädagogischer Praxis. Ein technologisches Verständnis pädagogischen Handelns überdeckt die nicht eliminierbare moralische Basis pädagogischer Interaktionen. Und ein irreführendes Verständnis der Lehrer-Schüler-Beziehung lenkt von der eminenten Komplexität und Dynamik des Unterrichtsgeschehens ab. Die Folgen sind in mindestens dreierlei Hinsicht gravierend. Erstens folgt auf den Entzug der Aufmerksamkeit ein Entzug der Ressourcen. Statt vermehrt in den Binnenbereich der Schule zu investieren, werden die knapper werdenden finanziellen Mittel dazu verwendet, die Schule mit einem Schwarm von Expertinnen und Experten zu umgeben, die Evaluationen durchführen, Schülerleistungen messen und Output-Daten sammeln, oft ohne Nutzen für die pädagogische Praxis. Zweitens geht die Verschiebung der pädagogischen Aufmerksamkeit mit einer Entmündigung der Bürgerinnen und Bürger einher. In dem Masse, wie das Bildungssystem einer Steuerung über den Output unterworfen wird, erweist sich die demokratische Kontrolle des Systems als obsolet. Nicht nur Harmos und der Lehrplan 21, auch die vielenorts geplante oder schon vollzogene Abschaffung der lokalen Schulaufsicht zeigen, dass ein wesentliches Element unserer Schule, nämlich deren öffentlicher Charakter, in Gefahr steht, klammheimlich abgeschafft zu werden. Drittens führt die Ablenkung von den Realbedingungen pädagogischer Wirksamkeit zur Überschätzung der Möglichkeiten schulischer Bildung. Bildung scheint machbar zu sein, wenn nur die richtigen Massnahmen getroffen werden. Ein Steuerungswahn macht sich breit, der suggeriert, durch Intensivierung der Kontrolle lasse sich erreichen, was durch Vertrauen in die Professionalität des Lehrerhandelns nicht erreichbar sei. Damit wird Tendenzen Vorschub geleistet, die in Standardisierung und Zentralisierung den Königsweg zur Qualitätssicherung im Bildungswesen sehen. Doch die Erfolgsaussichten pädagogischen Handelns liegen nicht in der Nivellierung lokaler und partikularer Gegebenheiten. Letztlich sind es die konkreten Umstände, die Rücksichtnahme auf die heterogenen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler sowie die Fähigkeit der Lehrperson, den oft widersprüchlichen Anforderungen pädagogischen Handelns gerecht zu werden, die darüber befinden, ob Bildungsprozesse gelingen oder nicht. Eine Politik, die versucht, ihr zweckrationales Verständnis von Schule im Inneren der Schule zu etablieren, wie es tendenziell mit dem Lehrplan 21 geschieht, trägt nicht dazu bei, den Lehrerberuf zu stärken. Das Gebot der Stunde ist daher, der Politik bewusst zu machen, dass ihre Aussensicht der Schule in verarmtes Abbild der pädagogischen Realität der Schule darstellt, und ihr in Erinnerung zu rufen, was ihre eigentliche Aufgabe wäre. Diese liegt nicht im Durchgriff auf den Binnenbereich der Schule, sondern in der Schaffung von Rahmenbedingungen, die es den Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen, ihrer Arbeit professionell, d. h. unter optimaler Ausnutzung der Erfolgsbedingungen pädagogischen Handelns und im Wissen um die «Unmöglichkeit» ihres Berufs, und verantwortungsvoll nachzugehen. Walter Herzog ist em. Professor für Pädagogik, Pädagogische Psychologie, Didaktik und Schulforschung an der Universität Bern Schweiz. | Donnerstag, 11. Februar 2016 | Seite 4 Deutlich weniger Asylgesuche Ein Viertel weniger Anträge als noch im Dezember Bern. Die Zahl der Asylgesuche ist im Januar in der Schweiz um ein Viertel gegenüber dem Vormonat gesunken. Insgesamt wurden 3618 Asylgesuche eingereicht. Vor allem die Zahl der Gesuche von afghanischen und syrischen Staatsangehörigen ist gegenüber dem Vormonat stark zurückgegangen, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM)gestern mitteilte. Dennoch blieben Afghanistan mit 1224 Gesuchen und Syrien mit 488 die wichtigsten Herkunftsländer von Asylsuchenden. Ihre Gesuche nahmen um 759 respektive 308 ab. Es folgten Personen aus dem Irak, die 367 Gesuche eingereicht haben, 107 weniger als im Vormonat. Um 63 auf insgesamt 233 Gesuche zugenommen haben dagegen die Anträge von Menschen aus Eritrea. Angespannte Lage Obwohl im Winter etwas weniger Asylsuchende in der Schweiz eingetroffen seien, bleibe die Situation auch 2016 angespannt. Insgesamt wurden in der Schweiz 2015 knapp 40 000 Asylgesuche eingereicht. Das waren fast 16 000 mehr als im Jahr 2014. Das SEM erledigte im Januar 2400 Asylgesuche in erster Instanz. Dabei erhielten 466 Personen Asyl, 537 Personen wurden vorläufig aufgenommen. Auf 848 Gesuche wurde nicht eingetreten. Zudem seien 715 Personen ausgereist oder rückgeführt worden. Foto Keystone Genf. Der genfer generalstaatsanwalt Olivier Jornot muss sich bei der Justizaufsicht für eine ausschweifende afterParty nach der Jahresendfeier im Januar seiner Behörde verantworten. Dabei wird untersucht, ob sich Jornot seines amts würdig verhielt. gemäss Le Temps soll sich Jornot mit einer Staatsanwältin bei der after-Party in einem nachtclub ein laszives Spektakel geliefert haben. Der generalstaatsanwalt bestätigte die eröffnung einer administrativuntersuchung. SDA Parmelin vertritt Schweiz an Sicherheitskonferenz Bern. Verteidigungsminister guy Parmelin vertritt die Schweiz an der Münchner Sicherheitskonferenz. ab Freitag wenden sich dort Politiker und experten aus aller Welt zentralen Konflikten der Welt zu. Der Chef des eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) werde an der Konferenz bilaterale gespräche führen, teilte das VBS mit. So sind laut VBS unter anderem Treffen mit den Verteidigungsministern von Deutschland, Frankreich, italien, Schweden, Singapur und Österreich geplant. SDA Von Thomas Dähler Frauenfeld. Der Wechsel zum kompetenzorientierten Lehrplan 21 soll bei der Lehrerschaft durchgesetzt werden. Die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) hat ein Online-Tool entwickelt, mit dem kontrolliert werden kann, ob die Lehrerinnen und Lehrer den angeordneten Paradigmenwechsel zum nutzungsorientierten Lehrplan auch vollziehen. Im Kanton Thurgau wurden die Schulleitungen bereits mit dem neuen Kontrollinstrument ausgerüstet. Der neue Kompetenzmanager sei «ein einfaches, sinnvolles Ergänzungsinstrument für den kompetenzorientierten Unterricht», heisst es in einer von Bildung Thurgau verbreiteten Medienmitteilung von Ende Januar. Mit dem Tool und dem dazugehörigen Kärtchenset lassen sich Einschätzungen und Leistungsausweise für jede Lehrerin und jeden Lehrer online fichieren. Aus den persönlichen Profilen lässt sich dann «der Entwicklungsbedarf für die Einführung des Lehrplans» feststellen, wie in der Mitteilung ausgeführt wird. Bildungsbürokratische Kriterien Ähnliches hat auch schon Christian Amsler, Schaffhauser Regierungsrat und Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz, angekündigt. «Wenn es Lehrer gibt, die renitent sind und sich weigern, den Lehr- plan umzusetzen, darf die Behörde keinen Millimeter zurückweichen», sagte er in einem Interview mit der Sonntagszeitung vom Dezember. Eine Beschreibung des neuen Kontrollinstruments des Thurgauer Amts für Volksschule liegt der BaZ vor. Es basiert auf bildungsbürokratischen Qualifikationskriterien, die nur Lehrerinnen und Lehrer erfüllen, die ihren gesamten Unterricht auf die nutzungsorientierten neuen Bildungsziele umstellen. Wer sich an Wissensvermittlung und traditioneller Allgemeinbildung oder am ganzheitlichen Ansatz der Pädagogik von Johann Heinrich Pestalozzi orientiert, fällt durch. Gemessen werden die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer an einer Reihe neuer Anforderungen wie «Kompetenzstand erfassen», «Kompetenzerwartungen überprüfen», «Kooperatives Lernen fördern», «Lernziele als Bezugspunkt nutzen», «Lebensweltbezüge schaffen», «Kompetenzkultur aufbauen» und Ähnlichem mehr. Online erhält die Schulleitung aus den einzelnen Einschätzungen einen Überblick über die Neuorientierung der einzelnen Lehrkräfte, etwa über eine «Matrix Kompetenzrad», die grafisch darstellt – den politischen Spinnendiagrammen von Smartvote ähnlich –, wie linienförmig sich die einzelnen Lehrkräfte bei der Umsetzung des Lehrplans 21 verhalten. Wer die Krite- rien nicht genügend erfüllt, soll an entsprechenden Weiterbildungsangeboten die neue Philosophie zusätzlich vermittelt erhalten. «Verantwortung übernehmen» Zur Philosophie des Qualifikationsinstruments gehört auch eine Selbsteinschätzung, welche die Lehrerinnen und Lehrer vornehmen sollen. «Es ist wichtig und gehört zu einer funktionierenden Kompetenzkultur, dass die Lehrpersonen Verantwortung für ihren eigenen Kompetenzerwerb übernehmen», heisst es in der Anleitung. Schulleitung und Lehrer könnten dann auf der Grundlage die «Weiterentwicklung der Kompetenzen gemeinsam planen» und dies «verbindlich festhalten». Die Parallele zum Geist des Lehrplans 21 ist augenfällig. Dort wird etwa im Kompetenzenkatalog Deutsch für Primarschüler festgehalten: «Die Schülerinnen und Schüler können im Austausch mit anderen eine Distanz zum eigenen Text aufbauen und ihn mithilfe von Kriterien einschätzen.» Und: «Die Schülerinnen und Schüler können problematische Textstellen finden und alternative Formulierungen vorschlagen.» Der neue Kompetenzmanager für Lehrerinnen und Lehrer ist die Grundlage für deren Aus- und Weiterbildung, die ebenso nutzungsorientiert ist wie der Lehrplan 21 für die Schülerinnen und Schüler. «Das Gespräch mit Lehranzeige Bern. In der Pflege und Betreuung führten der Spardruck und das Renditedenken zu Fliessbandarbeit, kritisiert die Gewerkschaft Unia. Sie fordert in einer gestern lancierten Kampagne, dass die Politik mehr Personal bewilligt und diesem auch bessere Anstellungsbedingungen gewährt. Denn der Druck im Bereich der Pflege und Betreuung sei enorm, sagte Udo Michel von der Gewerkschaft Unia gestern in Bern. Das Kostenkorsett sei eng, die Arbeitsbedingungen seien prekär. Das zeige auch die hohe Berufsausstiegsquote. Diesen Eindruck bestätigten Angestellte verschiedener Heime und Institutionen. Durch die Ökonomisierung sei die Pflege ins tiefe Mittelalter zurückgeworfen worden, sagte etwa Pflegefachfrau Monika Beck, die im Kanton Aargau tätig ist. Von individueller Betreuung und Pflege könne kaum mehr die Rede sein. Auch der langjährige Pflegefachmann Uwe Ruländer kritisiert die Zustände. Es gebe weniger Personal, aber zusätzliche Aufgaben. Da bleibe die individuelle Betreuung auf der Strecke. Die Unia will diese Ökonomisierung stoppen. Derzeit werde nur honoriert, was gemessen und abgerechnet werden könne, sagte Udo Michel, der UniaBranchenleiter Pflege und Betreuung. Aus diesem Grund hat die Unia mit betroffenen Angestellten ihr «Manifest für gute Pflege und Betreuung» aktualisiert und vorgestellt. Zudem hat sie eine entsprechende Petition lanciert. SDA Carla del Ponte ehem. Chefanklägerin UN-Tribunal in Den Haag «Das Tessin ist ein Teil der Schweiz. Wir können es nicht drei Jahre lang durch die Schliessung der wichtigsten Strassenverbindung vom Rest des Landes abhängen.» gotthard-tunnel-ja.ch Überparteiliches Komitee «Gotthard Tunnel sicher JA», 3001 Bern Verdauliche Häppchen für die Medien Auch in der Forschung ist gutes Marketing mittlerweile die halbe Miete. Der stille Schaffer im Elfenbeinturm hat ausgedient, was übrigens durchaus seine guten Seiten hat. Heute werden vor allem politikwissenschaftliche Studienergebnisse in gut verdaulichen Häppchen den Medien zugetragen, die diese dann als Primeur «verkaufen». So schaffen es immer wieder Forschungsergebnisse, die kalter Kaffee sind, in die Schlagzeilen sogar des Boulevards. Neuestes Beispiel: Der Blick stellte am 8. Februar fest, die SVP sei «die neue Büezer-Partei» und die SP keine Arbeiterpartei mehr. Zwei «SPnahe Wissenschaftler», so berichtete der Blick, belegten dies in einer neuen Studie. Was als überraschender Befund präsentiert wird, ist wissenschaftlich längst bestens belegt. Was als überraschender Befund präsentiert wird, ist wissenschaftlich längst bestens belegt. Schon vor mehr als fünfzehn Jahren wurde für die Schweiz empirisch nachgewiesen, dass es einerseits in der neuen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft weniger klassische Arbeiter gibt. Andererseits fühlt sich die verbliebene Arbeiterschaft, die traditionelle Kernklientel der Sozialdemokratie, kaum noch mit der Sozialdemokratischen Partei verbunden. Dieser Trend begann schon in den 1970er-Jahren und setzte sich während der 1980er- und 1990er-Jahre fort. Fühlten sich zu Beginn der 1980erJahre noch rund 25 Prozent der Arbeiter mit linken Parteien verbunden, waren es Mitte der 1990er-Jahre nur noch fünf Prozent. Bei den einfachen Angestellten war der Trend nicht ganz so dramatisch, aber ähnlich. Hier ging die Bindung an linke Parteien von rund 25 Prozent am Anfang der 1980erJahre auf knapp über zehn Prozent Mitte der 1990er-Jahre zurück. Keine Schweizer Besonderheit Die Bindung an linke Parteien erklärte sich bereits 1998 nicht (mehr) durch die Zugehörigkeit zur Arbeiteroder unteren Angestelltenschicht. Vielmehr fühlten sich nun die sogenannten soziokulturellen Spezialisten, zum Beispiel Lehrer, Akademiker, Sozialarbeiter und mittlere und höhere Angestellte, mit der SP verbunden. Die SP wurde die Partei der meist durchaus vermögenden staatsnahen Angestellten, der Beschäftigten des wohlfahrtsstaatlichen Komplexes und der Postmaterialisten. Der lange und nachhaltige Abschied der SP vom Mythos der Arbeiterpartei ist übrigens keine schweizerische Besonderheit. Überall in Europa vollzog sich ein ähnlicher Wandel. Die Schweizer Arbeiter wurden politisch entweder heimatlos oder sie Lehrplan 21 ein Kurswechsel Dass mit dem Lehrplan 21 nicht nur eine kantonale Harmonisierung der Schulsysteme eingeleitet, sondern ein Kurswechsel durchgesetzt wird, halten die Verantwortlichen im Kanton Thurgau ausdrücklich schriftlich fest: «Die Arbeit an Kompetenzen impliziert einen Kurswechsel und braucht bestimmte Rahmenbedingungen und angepasste Strukturen.» Die Thurgauer Pläne, die eine Einführung des neuen Lehrplans Mitte 2017 vorsehen, stehen im Widerspruch zu den Beteuerungen, die Christoph Eymann,PräsidentderErziehungsdirektoren-Konferenz, abgegeben hat. Der Basler Erziehungsdirektor, der auf erste Erfahrungen mit dem in Basel-Stadt bereits eingeführten Lehrplan 21 verweisen kann, will diesen als «Kompass» und «nicht als Bibel» verstanden haben. «Es gibt bei uns keine Kontrollinstanz, die prüft, ob sich jeder sklavisch daran hält», diktierte Eymann dazu der deutschen Wochenzeitung Die Zeit. Antibiotikum gegen Feuerbrand darf nicht eingesetzt werden Kalter Kaffee – oder der Mythos von der SP als Arbeiterpartei Von Simon Geissbühler personen über ihre persönlichen Profile und beruflichen Entwicklungspläne ermöglicht der Schulleitung eine ressourcen- und entwicklungsorientierte Personalführung, mit welcher die individuelle Entwicklung der Lehrpersonen geplant und durchgeführt werden kann», steht in der Anleitung des Thurgauer Amts für Volksschule. Streptomycin ist 2016 tabu Unia kritisiert Anstellungsbedingungen im Pflegebereich Fall Ritzmann kommt vor das Bundesgericht Untersuchung gegen Generalstaatsanwalt Der Kanton Thurgau führt ein neues Kontrollinstrument für Lehrkräfte ein Mehr Zeit, Personal und Geld Nachrichten Zürich. Das Bundesgericht muss sich erneut mit der affäre Mörgeli befassen: es wird entscheiden, ob im Verfahren gegen iris Ritzmann, ehemalige Mitarbeiterin des Medizinhistorischen instituts der Uni zürich, die von der Staatsanwaltschaft erhobenen Beweise verwendet werden dürfen. Die Staatsanwaltschaft hat einen Beschluss des zürcher Obergerichts weitergezogen. Ritzmann wird beschuldigt, dem Tages-Anzeiger zwei vertrauliche Berichte über die arbeit des damaligen SVP-nationalrates Christoph Mörgeli als Museumskurator zugespielt zu haben. SDA Wie der Lehrplan 21 durchgesetzt wird wandten sich der SVP zu. Die politische Neuausrichtung der Arbeiterschaft ist gemäss Blick für «die Autoren überraschend». Überraschend ist daran eigentlich nichts. Arbeitermilieu hat sich aufgelöst Dass die SVP heute bei den Arbeitern und den unteren Angestellten stark verankert ist, hat zuerst mit strategischen Entscheidungen der Partei zu tun und mit einem politischen Angebot, das für diese Gruppen attraktiv ist – auch wenn dies den «SP-nahen» Dass die SVP bei den Arbeitern verankert ist, hat mit dem politischen Angebot zu tun. Forschern nicht einleuchtet. Darüber hinaus hat sich das klassische Arbeitermilieu aufgelöst, in dem die Bindung an die SP über Generationen hinweg gewissermassen vererbt wurde. Die SP umgekehrt hat sich strategisch ebenfalls längst neu positioniert. Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Politik ist Marketing heute eben die halbe Miete. Simon geissbühler ist Politologe und Diplomat und autor des Buches «zwischen Klassenkampf und integration. Die soziopolitischen einstellungen von arbeitnehmern in der Schweiz im internationalen Vergleich (1971–1998)» (2001). er vertritt hier seine persönliche Meinung. Bern. Die Schweizer Obstbauern dürfen im Kampf gegen den Feuerbrand kein Streptomycin mehr einsetzen. Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) hat die Verwendung für dieses Jahr untersagt. Damit setze man die Grundsätze des integrierten Pflanzenschutzes um, teilte das BLW gestern mit. Nach diesen Grundsätzen wird die Verwendung von chemischen Pflanzenschutzmitteln nur als Ergänzung und als letztes Mittel angesehen. In den vergangenen acht Jahren hatte das BLW Streptomycin jeweils befristet und mit Auflagen zugelassen. Allerdings sei die Anwendung keine ideale Lösung, da wie bei allen Antibiotika die Gefahr von Resistenzbildung bestehe. Obstbauern befürchten Schäden Das BLW setzt nun auf andere Massnahmen. In der Saison 2016 habe man fünf andere Pflanzenschutzmittel als Alternativen regulär zugelassen. Zudem gelte es, bei den Präventivmassnahmen das Potenzial noch vermehrt auszuschöpfen, heisst es weiter. Eine andere Möglichkeit sind feuerbrandrobuste Sorten. Agroscope hat etwa die Tafelapfelsorte Ladina gezüchtet. Aus europäischen Züchtungsprogrammen gibt es gemäss BLW ebenfalls Alternativen. Georg Bregy vom Schweizer Obstverband kritisiert den Entscheid des BLW. Der Entscheid sei rein fachlich nicht nachzuvollziehen. «Man hätte Streptomycin weiterhin als letztes Mittel zulassen sollen», sagte er auf Anfrage der Nachrichtenagentur SDA, «und den Einsatz wie bisher nur unter Einhaltung von strengen Auflagen bewilligen können.» Die Obstbauern seien verantwortungsvoll mit dem Einsatz des Pflanzenschutzmittels umgegangen. Deshalb bedauert er den Entscheid und befürchtet je nach Witterung und Infektionsbedingungen während der Blüte grosse Schäden an den Kulturen. Die Alternativen alleine seien zurzeit noch kein Ersatz. «Die neuen Sorten sind noch im Versuchsstadium und im Anbau noch kaum verbreitet», sagt er. «Und mit den alternativen Pflanzenschutzmitteln haben wir noch zu wenig Erfahrung.» Mit dem mittelfristigen Ausstieg aus Streptomycin sei man an sich schon auf dem richtigen Weg. «Nur ist der Zeitpunkt jetzt noch zu früh», betont er. Den Entscheid des BLW müsse man akzeptieren, werde jedoch das Gespräch nochmals suchen. SDA Von schulischen Trojanischen Pferden und anderen Ungeheuern Ein Kommentar eines Schulmeisterleins zu den Kommentaren von anderen Schreiberlingen Endlich ist auch in der WoZ ein Dossier von Bettina Dyttrich erschienen, das sich kritisch mit der aktuellen Bildungspolitik auseinandersetzt. Die Bilanz am Schluss des Textes scheint mir politisch sinnvoll und richtig zu sein, wo Beat Ringger vom Denknetz einen „linken Schulgrundkonsens“ vorschlägt: Keine Checks, kein Schulranking, Methodenfreiheit, Mitbestimmung der Basis, wobei die letzte Forderung unbedingt noch konkretisiert werden müsste. Leider hat die Autorin die vehemente Kritik am Lehrplan 21 und vor allem am höchst ideologischen Kompetenzbegriff nicht aufgenommen. Schade! Denn dieser Begriff ist das Trojanische Pferd des Neoliberalismus in der Schule von heute. Die Kritik am Lehrplan 21 wurde von führenden Bildungspolitikern bisher immer damit abgetan, dass Lehrpläne ja eigentlich gar nicht so wichtig seien und sich die LehrerInnen eh nur begrenzt daran orientieren würden. Dass jetzt aber mit rigiden, von der FHNW entwickelten Online-Tools bereits die Thurgauer Lehrkräfte bei der konsequenten Umsetzung des kompetenzbasierten Lehrplanes kontrolliert werden sollen, lässt aufhorchen. (Vgl. BaZ vom 11.2.2016) Genau so tönt es auch beim Kompetenzbegriff: Keiner wisse ja so genau, worum es da eigentlich gehe, und jeder könne darin etwas Eigenes erkennen. Und mantrahaft betonen die Bildungsverwaltungen, es sei nun endlich Schluss mit dem Nürnberger Trichter und dem sinnlosen Stoff-Pauken, denn angesichts der Vierten Industriellen Revolution mache das überhaupt keinen Sinn mehr. Als ob nicht seit Jahrzehnten die LehrerInnen wissen, dass stures Stoff-Büffeln alleine nicht reicht! Seit Jahrzehnten unterscheiden deshalb die meisten Lehrpläne Fähigkeiten/Fertigkeiten, Wissen und Haltungen. Doch die Versprechungen klingen verführerisch: „Die Schule wird locker, kreativ, individuell. Klingt gut? In Wahrheit siegt nur die neoliberale Ideologie, und es entsteht ein neues Zwangssystem.“ So fasst der deutsche Philosoph Christoph Türcke in der Süddeutschen Zeitung vom 10.Februar 2016 die aktuelle Schulentwicklung treffend zusammen. Der Kompetenzbegriff ergreift zunehmend inhaltsleer den ganzen Menschen: Dieser soll nicht nur lernen, sondern auch zeigen, dass er ständig mit grosser Freude auch lernen will. So freudig, dass er alles ganz alleine machen kann und der Lehrer sich diskret in die Coaching-Ecke zurückziehen soll. Die Angst vor den Folgen der Digitalisierung und der neoliberal geprägten Globalisierung treibt die Bildungspolitiker immer mehr voran. Nochmals Christoph Türcke: „Nur die Länder, deren Schul- und Hochschulabsolventen für den digitalisierten Kapitalismus gerüstet sind, werden international mithalten können – so lautet die Befürchtung. Und die überstürzte Folgerung daraus heisst: Am besten werde gerüstet sein, wer von klein auf in die zukunftsträchtigen Soft Skills eingeübt ist und von all dem Ballast, für den es intelligente Software gibt, befreit wird.“ Es ist absehbar, wohin die Inflationierung der Matur und der Akademisierungsdruck führen werden: „In der flexibilisierten Bildungswelt ist das Abitur ein Auslaufmodell.“ So die Bilanz des Philosophen. Eigentlich erstaunlich, dass die WoZ diese politökonomischen Zusammenhänge im Zusammenhang mit dem Kompetenzbegriff nicht aufgreift. Mit einem simplen „Zurück zum Frontalunterricht“ aber ist es nicht getan, auch wenn ich dem Berliner Gymnasiallehrer Rainer Werner (FAZ) auf Grund meiner eigenen Unterrichtserfahrung durchaus zustimme, dass das „klug geführte Unterrichtsgespräch von den Schülern als besonders effektiv, informativ, sie keineswegs bevormundende Lernform wahrgenommen wird.“ Doch in einem anregenden Mail zu diesem Artikel bringt ein Fachdidaktiker eine meiner Ansicht nach sinnvolle Differenzierung in die Debatte mit ein, wenn er schreibt: „Methoden generieren keine Schülerorientierung. Lehrervorträge oder Klassengespräche sind nicht per se schlecht und Schülerorientierung ist nicht das Gegenteil von Lehrerzentrierung (und de facto Lehrerverantwortung), sondern im Gegenteil Zuwendung zu den SchülerInnen in ihrem Bedürfnis, den Schulstoff zu verstehen. Dass guter Unterricht ein gemeinschaftliches Erlebnis ist, zu dem auch SchülerInnen beitragen dürfen und müssen, scheint mir dabei ebenso klar wie der Umstand, dass die Lehrpersonen eine klare Vorstellung davon entwickeln müssen, wie sie ihre SchülerInnen in die Lage versetzen können, wirklich etwas zu lernen. Da die meisten SekII-LehramtskandidatInnen von der Uni kommen und ohnehin einen leichten Hang zum „Dozieren“ haben, finde ich daher das explizite Lob des Frontalunterrichts (und die implizite Forderung danach, dass dieser mehr Raum erhält) etwas problematisch. Ein gutes Unterrichtsgespräch zu führen ist nämlich sau-schwierig - und die meisten scheitern daran (nicht nur AnfängerInnen). Und Gründe dafür sind vielfältig: der Stoff selbst, die fachlichen Kenntnisse oder die Tagesform der Lehrperson, Wille oder Unwille der SchülerInnen etc. Und ich ärgere mich, wenn Studierende sich entweder der Auseinandersetzung mit anderen Methoden verweigern oder einfach schlechten Unterricht abliefern mit dem Hinweis darauf, es sei ja jetzt belegt, dass der Frontalunterricht eben doch besser sei (Hattie und Co, oder eben dieser Artikel von Rainer Werner). Aus diesem Grund machen mich diese Beiträge nicht so happy, weil sie ja meistens nur oberflächlich rezipiert werden.“ Dem Weltwoche-Artikel misstraue ich. Der Schüler als selbstorganisierter Kleinunternehmer des eigenen Lernens, diese Hybridkonstruktion des Konstruktivismus: Sie entspringt nicht nur dem sozialdemokratischen Gutmensch-Pädagogen, sie ist auch und vor allem - wie bereits oben dargelegt - ein Produkt des Neoliberalismus. Das reflektiert der Weltwoche-Artikel in keiner Weise - geschweige denn die Weltwoche-Redaktion. Und dass man sich über die Genderanliegen und das Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit lächerlich macht, das kommt den Herren Blocher und Köppel natürlich sehr gelegen. Denn nichts fürchten sie so sehr wie die Verbreitung der simplen Tatsache, dass unser aller ökologischer Fussabdruck in der Schweiz zwei- bis dreimal zu gross ist. Nachhaltigkeit gehört meiner Ansicht nach in Zeiten der Klimaerwärmung zu den Fundamenten eines Lehrplans, wie auch die Menschenrechte oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es geht nicht darum, den Jugendlichen irgendeine Ideologie überzustülpen, aber zum aufklärerischen Charakter unserer Kultur sollen wir stehen, und das soll auch in unseren schulischen Lehrplänen erkennbar sein: Gebrauche Deinen Verstand! Uebe Dich darin, alles kritisch zu hinterfragen! Und verhalte Dich dabei nach dem Kantschen Imperativ: Wenn die Maxime des eigenen Handelns sich danach richten soll, ob sie auch ein allgemeines Gesetz werden könne, dann gehört dazu auch die kollektive Ebene der Generationenabfolge, und nicht nur das Einzelsubjekt. Bezeichnenderweise waren der Genderaspekt und die Nachhaltigkeit dann die zwei Dinge, die von den Lehrplan-21-MacherInnen nach der kritischen Vernehmlassung am massivsten redimensioniert wurden. Angst vor der Kritik der rechten, der ‚Weltwoche‘-Ecke also? Es gibt kein Zurück in die autoritäre Gotthelf-Schule, wie sie Anker so schön gemalt hat und wie sie Blocher so gerne melancholisch betrachtet, während er gleichzeitig die Welt mit seinen reaktionären neoliberalen Taten in eine ganz andere Richtung treibt. Es wird in den diversen kantonalen bildungspolitischen Abstimmungen der nächsten Zeit, was die Parolen anbetrifft, wohl immer wieder unheilige, aber notwendige Allianzen von ‚rechts‘ und ‚links‘ geben. Aber zu mehr soll es nicht kommen, denn die SVP will nicht die selbe Schule wie ich – und wie wir vom FACH! Georg Geiger, 11.Februar 2016 "Geleitete Schulen" oder Der ganz normale Flachsinn War neulich in der PHBern bei einer Mini-Tagung zum Thema "Geleitete Schulen". Was wurde serviert? Lauter heisse Luft, seichtes Geschwätz, Platitüden, Sottisen, verstaubte Gleichnisse und scheingebildetes Metapherngestöber. Inhaltlich nichts, aber auch wirklich NICHTS Brauchbares. Unerträgliche Leere, mit einer stupenden Selbstverständlichkeit und lässigem Selbstvertrauen vorgetragen, musikalisch nett umrahmt und vom Publikum freundlich beklatscht... Einzige Ausnahme: Bernhard Pulver, der ein klares Bekenntnis abgelegt hat, und zwar zur Geleiteten Schule und zur Führung der LehrerInnen. Pulvers peppige Parole: Selbstverwaltung war einmal, der Schulleiter als "Primus inter pares" ist passé. Aber natürlich sind die Freiräume der LehrerInnen unbedingt zu erhalten; aber natürlich sind die LehrerInnen zu führen, pädagogisch zu führen durch die Schulleitung; aber natürlich ist das Ganze partizipativ auszuhandeln; aber natürlich muss die Schule unter der Führung ihrer Leitung eine gemeinsame Vision verfolgen... Und Martin Schäfer, der Rektor der PHBern, versicherte seinem Dienstherrn pflichteifrigst und vor dem ganzen versammelten Volke: Die jungen Lehrerinnen und Lehrer, die jetzt aus der PH in die Schulen gingen, seien alle bestens auf den (glückverheissenden? segensreichen?) Umstand vorbereitet, dass sie in der Schule einen Vorgesetzten haben werden. Mit anderen Worten: Die künftigen SchulmeisterInnen lernen an der PH von Anfang an, dass sie Untergebene, wenn nicht gar Untertanen sein werden. Und wie es an der PH heisst, freuen sie sich gar inniglich über die enorme Entlastung, welche sich aus diesem Umstand ergibt. Brave Schafe lieben es halt, einem guten Hirten hinterherlaufen zu dürfen, auch wenn er manchmal den Stab oder den Hund einsetzen muss, um die Herde beisammenzuhalten. Ich sass am Ende der Veranstaltung offenen Mundes da und fragte mich, in welchen surrealistischen Film ich da geraten war. Im Kopf summte mir etwas herum wie der Gedanke: "So sieht also das Ende der Aufklärung aus." Lehrerbildung heute: Mit Eiapopeia, mit Sang und Klang und New Public Management zurück ins Ancien Régime, zurück in die selbstverschuldete Unmündigkeit - und dabei ein verzücktes "I'm loving it" auf den Lippen. HILFE...!!! Roger Hiltbrunner. PS: Der Apéro riche im Nachgang zum Geschilderten soll aber nicht unerwähnt bleiben - der glanzvolle Abschluss eines grauen, glanzlosen und ernüchternden Abends.
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