Sjaak van der Velden (Sperrfrist: 08.05.2015, 16.30 Uhr – Übersetzung der vorläufigen Version; befindet sich noch in Überarbeitung –) Vortrag zur Veranstaltung am 8. Mai in Aalten 1. Einführung .......................................................................................................................... 1 2. Hitler kommt an die Macht ................................................................................................ 2 3. Wie reagierte man in den Niederlanden? ........................................................................... 3 4. Aufnahme deutscher Flüchtlinge, 1933-1940 .................................................................... 5 5. Aufnahme deutscher Flüchtlinge, 1940-1945 .................................................................... 7 6. Aalten ist bekannt als die Gemeinde, in der relativ die meisten Flüchtlinge aufgenommen worden sind ............................................................................................................................ 7 7. Schluss ................................................................................................................................ 8 1. Einführung Zunächst möchte ich zum Ausdruck bringen, dass es für mich eine große Ehre ist, zu dieser Veranstaltung eingeladen worden zu sein. Zwar befasse ich mich bereits seit Jahren mit der Geschichte der niederländischen (und internationalen) Gewerkschaften. Darüber hinaus habe ich einige Jahre für das Joods Digitaal Monument (digitales Jüdisches Mahnmal) gearbeitet, eine Website, auf der die Namen und persönlichen Daten aller niederländischen Juden erfasst sind, die während des Zweiten Weltkrieges ermordet wurden. Aber hier stehen zu dürfen, bei einer Veranstaltung, bei der die deutschen Gewerkschaften den niederländischen Helden danken, die im Krieg ihr Leben auf Spiel gesetzt haben, um deutsche Gewerkschafter zu retten, betrachte ich als eine große Ehre. Es handelt sich hier nämlich um Leute, die Taten vollbracht haben, die ich als Nachkriegskind hoffentlich niemals werde vollbringen müssen. Und dann auch noch ohne auf die Staatsangehörigkeit zu achten. Denn wir dürfen trotz allem nicht vergessen, dass es zwar Gewerkschafter waren, aber auch Deutsche. In diesen Jahren war Deutschland nun einmal der größte Feind des niederländischen Volkes. Es erfordert unter solchen Umständen einen außerordentlichen Weitblick, um über die Staatsangehörigkeit von jemandem hinweg zu sehen und vor allem seine oder ihre Bedürfnisse als Mensch im Blick zu haben. Während der nächsten 20 Minuten werde ich versuchen, dasjenige, was damals passiert ist, zu erläutern. Dabei werde ich Ihnen nach jedem allgemeinen Teil das Schicksal eines Menschen aus Fleisch und Blut vortragen, denn das ist es, um das es sich heute handelt. Richtige Menschen und nicht nur allgemeine Geschichten und Zahlen. Zunächst jedoch möchte ich einen Exkurs in meine eigene Vergangenheit machen. Im Jahr 1976 interviewte ich gemeinsam mit meinem Kommilitonen Huub Sanders den alten Rotterdamer Kommunisten Gerrit Sterkman. Dieser war damals, selbst bereits über siebzig, nachdem er aus der kommunistischen Partei ausgeschieden war, immer noch sehr aktiv in seiner eigenen Nachbarschaft als Verfechter der Rechte der Nachbarschaftsbewohner. Als wir ihn nach der Krise der dreißiger Jahre befragten, erzählte er, dass er zwei Jahre lang einem geflüchteten deutschen Kommunisten Unterschlupf gewährt habe. Dieser Mann, der einiges an Essen gebraucht habe, war ihm nur unter dem Namen Klaus oder Klaas bekannt. Und so 1 war das des Öfteren bei den Flüchtlingen; sie waren bei den Leuten, die ihnen halfen, nur unter einem Decknamen bekannt. Und das war verständlich, denn das Regime, vor dem sie geflüchtet waren, hatte gezeigt, wie brutal es gegen Staatsfeinde vorging und wer gefasst wurde, musste mit schweren Strafen oder sogar mit der Todesstrafe rechnen. 2. Hitler kommt an die Macht Am 22. Januar 1933 wurde Adolf Hitler als Deutscher Reichskanzler vereidigt, wonach er – oft unter Duldung durch offizielle Gegner, die hofften, ihn günstig stimmen zu können – seine Macht allmählich ausbreitete, bis er im August alleine die Staatsmacht innehatte als Führer und Reichskanzler. Das war eine unheimliche Machtkonzentration in einer Person. Mit dieser Machtübernahme wurde ein Zeitraum von Unruhe seit dem verlorenen Weltkrieg abgeschlossen. Revolution, Staatsstreiche, Massenstreiks und politisch motivierte Straßenkämpfe sind beispielhaft für den deutschen Staat bis zu dem Zeitpunkt, als Hitler für Ordnung sorgen wollte. Ab Mitte der zwanziger Jahre hatte es kurze Zeit den Anschein, die politische Unruhe würde sich legen, als jedoch die Wirtschaftskriese des Jahres 1929 immer weiter um sich griff und die Arbeitslosigkeit erschreckende Ausmaße annahm, war die ersehnte Ruhe wieder dahin. Arbeitslose, frustrierte Mittelständler, ein Teil der Reichswehr und Großindustrielle verhalfen dem Mann zur Macht, der bereits 1924 in seinem Buch Mein Kampf seinen Hass gegen Demokratie, Sozialismus, Kommunismus und das Judentum ausführlich dargelegt hatte. Einige Großindustrielle überwiesen Millionen Reichsmark in der Hoffnung, Hitlers Partei würde die unaufhörlichen Arbeitskämpfe beenden und aus Angst, Deutschland würde Russland in der Zerstörung des Kapitalismus folgen. Es hatte 1919 nämlich schon bereits einmal eine Bayrische Räterepublik gegeben, und dies könnte ohne weiteres erneut passieren. Die Arbeitslosen und Mittelständler gingen auf die Straße, aber die Heeresführung und die Industriellen unterstützten an anderer Stelle. Der bekannteste Industrielle aus diesem Kreis war wahrscheinlich Fritz Thyssen, der später in sein Buch Ich finanzierte Hitler einräumte, Unrecht gehabt zu haben.1 Es gab viele, die hofften, dass die Ruhe zurückkehren und die Arbeitslosigkeit verschwinden würde, dass eine lebenswerte Gesellschaft entstehen werde nach dem Chaos der Weimarer Republik. Bei den Gewerkschaftlern war das nicht der Fall. Sollten dort noch Illusionen vorhanden gewesen sein, so wurden diese von dem autoritären Regime alsbald zerstört. Bereits am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften zerschlagen und verschiedene Gewerkschaftsführer verhaftet. Sie wurden gefoltert und einige wurden bei der gewalttätigen Übernahme der Gewerkschaftsorganisationen getötet. Die gesamte Gewerkschaftsbewegung wurde eine Woche später in ein Einheitssystem überführt (die Deutsche Arbeitsfront), die gewissermaßen in Analogie zum italienischen Faschismus versuchte, den Klassenkampf zu ächten. Ein von oben auferlegter Korporatismus sollte die Wirtschaft aus der Krise führen und die Arbeitslosigkeit zurückdrängen. Das geschah auch so, da die neuen Machthaber mit großem Tempo das Militär ausbauten und dazu wurden Arbeitskräfte und eine Militärproduktion gebraucht, eine Arte terroristischer Keynesianismus. Nach einigen Jahren kehre die Unruhe dennoch wieder zurück, wie aus einer Streikwelle von etwa 100 Streiks in der zweiten Jahreshälfte von 1936 hervorgeht. Aber die Entwicklung war nicht mehr aufzuhalten, der Nationalsozialismus ließ nicht mit sich reden. 1 Niederländische Übersetzung: Ik financierde Hitler. Verbijsterende onthullingen door den grootindustrieel Fritz Thijssen, Roman-, Boek- en Kunsthandel H. Nelissen: Amsterdam 1947 (Übers. G. Borg) 2 3. Wie reagierte man in den Niederlanden? Da die Nationalsozialisten versprachen, die Ruhe in der Gesellschaft werde wiederhergestellt, reagierten relativ viele Niederländer gelassen oder sogar gemäßigt begeistert auf die Machtübernahme von Hitler. Sozialisten und Kommunisten waren nicht erfreut, aber dennoch kaum beunruhigt. So schrieb Het Volk, die Zeitung der Sozialdemokraten, die von sehr vielen Gewerkschaftern gelesen wurde, dass es nur die Frage sei, „wie Hitlers Herrschaft am schnellsten zusammenbrechen werde: Durch die Wut der enttäuschten Massen oder durch die Intrigen seines Kollegen Hugenberg“, eines Ministers, von dem erwartet wurde, dass er Hitler würde in Schach halten können. Die niederländischen Kommunisten betrachteten die Machübernahme auch als einen Vorboten des Zusammenbruchs gerade der Hitler-Partei. Denn, so schrieb De Tribune, die kommunistische Tageszeitung: „der Kommunismus marschiert und wird die Arbeiterklasse zu einem freien, sozialistischen, zu seinem SowjetDeutschland führen“. Auch wenn sie die Machtübernahme durch Hitler verabscheuten, trotzdem würde die Suppe nicht so heiß gegessen werden. In katholischen und protestantischen Blättern aus jener Zeit konnte man hingegen vor allem lesen, dass man sogar froh sein müsse, dass Hitler den Marxismus in einem Kampf auf Leben und Tod schlagen werde. Und sein Kampf gegen die Juden sei zwar nicht gerade fein, aber dass es ein immenser Unterschied zwischen Christen und Juden gebe, müsse man doch anerkennen. Und dabei sollten wir nicht vergessen, dass das erste Konzentrationslager in Dachau bereits vom Frühling 1933 an von politischen Gefangenen bevölkert wurde, die bis auf die Knochen misshandelt und von SA und SS Schergen erniedrigt wurden. Das alles war den vorsichtigen Optimisten offensichtlich entgangen. Dr. L. de Jong, der Geschichtsschreiber der Niederlande im Krieg, schlussfolgerte im Jahr 1969: „Es führt inzwischen nicht zu weit, wenn man feststellt, dass im Jahr 1933 der verbrecherische und auch gegenüber dem Ausland aggressive Charakter des Nationalsozialismus nur von wenigen erkannt wurde; dass die bewegten Ereignisse in Deutschland, wenn man ihre Bedeutung schon unterschätzte, im Allgemeinen nur in sozialistischen und kommunistischen Kreisen mit Abscheu und Entsetzen beobachtet wurden, und dass bei den konservativen und konfessionsorientierten Gruppen, auch wenn sie den Nationalsozialismus grundsätzlich ablehnten, die von Kurzsichtigkeit zeugende Neigung vorherrschte, in Hitlers Auftritt, vor allem gegen die linke Arbeiterbewegung, etwas Positives zu sehen.“2 Innerhalb der Gewerkschaften gab es große Verwirrung. Das galt im Übrigen nicht für die linke Gewerkschaft NAS, denn diese wurde nahezu unmittelbar nach dem Überfall verboten. Ebenso übrigens das Streikrecht. Vorstandsmitglieder des Nederlands Verbond van Vakverenigingen (niederländischer Gewerkschaftsbund), der sozialdemokratischen und größten Einzelgewerkschaft, zweifelte, was sie tun sollten. Ihr Ziel war nämlich, die Interessen ihrer Mitglieder und der Arbeiter im Allgemeinen zu vertreten. Sollten sie denn jetzt, unter den schwierigen Umständen einer Besatzung, die Mitglieder ihrem Schicksal überlassen? Darüber wurde sehr unterschiedlich gedacht, aber die vorherrschende Meinung war dennoch, die Organisation solle aufrecht erhalten bleiben. Ein gewisser OrganisationsFetischissmus war manchen Funktionären dabei übrigens nicht fremd. Ein Vorfall, der diese Denkart der Gewerkschaftsfunktionäre treffend verdeutlicht, ist folgender. Nach dem Februarstreik des Jahres 1941 wurde der frühere NVV-Vorsitzende Kupers verhaftet und ins Gefängnis gebracht. „Als er nach einer Vernehmung einmal weggeführt wurde, kam einer der L. de Jong, Het koninkrijk der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog. Teil 1. Vorspiel, Staatsuitgeverij: ’sGravenhage 1969, S. 155 2 3 Kollegen und Schicksalsgenossen an ihm vorbei. –„Und wie war es dort?“, fragte der Kollege. Kupers war aufgebracht. Da er gefangen gehalten wurde? Da man ihn lange Zeit verhört hatte? Nein: es stimmt überhaupt nichts in der Organisation. Man muss hier stundenlang warten. Einfach eine Schande!3 Kann man dazu noch lachen, schlimmer ist es, dass den Mitgliedern des niederländischen Vereins des Eisenbahn- und Straßenbahnpersonals, die ausschieden, mit dem Rechtsanwalt gedroht wurde.4 Selbstverständlich kann man nicht alle Gewerkschaften und Gewerkschaftszentralen über einen Kamm scheren, aber der Wunsch, die Organisation aufrecht zu erhalten, war überall vorhanden. Der NVV durfte zunächst weiterhin existieren, wurde jedoch unter die Aufsicht der Besatzungsmacht gestellt, wobei ein Strohmann, H.J. Woudenberg, ernannt wurde. Nachdem Woudenberg den NVV bereits mit einer kleineren Gewerkschaft hatte verschmelzen lassen, zwang er im Juni 1941 die drei noch existierenden Gewerkschaften zur Fusion. Innerhalb dieser anderen Gewerkschaften tat man sich auch schwer mit der Frage, wie man mit der neuen Situation nach dem deutschen Überfall umzugehen habe. Zunächst gab es innerhalb der katholischen Gewerkschaft, des Rooms Katholiek Werklieden Verbond, noch eine gewisse Sympathie für die Vorgehensweise der Nazis im Hinblick auf die Wirtschaftspolitik in Deutschland. Hatte das nämlich nicht große Ähnlichkeit mit dem von den Katholiken jahrelang propagierten Korporatismus? Der Vorsitzende De Bruijn äußerte sich positiv zur Wirtschaftspolitik Deutschlands und nach einem Studienbesuch in diesem Land im November 1940. Diese positiven Äußerungen entlockten anderen Funktionären keine positiven Reaktionen. Darüber hinaus erklärte der RKWV, dass die Mitgliedschaft in einer katholischen Gewerkschaft nicht mit der Mitgliedschaft im NSB zu vereinbaren sei. Im Januar 1941 wurde in allen katholischen Kirchen eine Erklärung verlesen: Das heilige Sakrament der kirchlichen Bestattung musste einem „Katholiken, von dem bekannt war, dass er den Nationalsozialismus unterstützt hatte, versagt bleiben“. Die katholischen Gewerkschaften verloren viele Mitglieder und weigerten sich mitzuarbeiten, als Woudenberg auch die Führung ihrer Gewerkschaft übernahm. Dadurch sah sich die Besatzungsmacht gezwungen, den RKWV aufzuheben. Am 12. August 1941 war es soweit. Woudenberg übernahm die Gewerkschaftskasse und die Liegenschaften; und manche NVVFunktionäre hatten nichts Besseres zu tun, als sich schnell des neuen Besitzes zu bemächtigen. Dann waren Sie endlich diese Katholiken los. Diese Haltung spielte Jahre später während der Fusionsverhandlungen Ende der siebziger Jahre bei manchen katholischen Gewerkschaftsfunktionären noch eine Rolle, als man sich nur zögerlich zu einer Fusionierung mit den Sozialdemokraten durchringen konnte. Die Funktionäre der christlichen Gewerkschaft CNV waren in den ersten Tagen der Besatzung auch verwirrt. Sie hofften auf eine „selbständige Volksexistenz“ unter der aufgezwängten deutschen Führung.5 Das wurde jedoch beendet, als die deutschen Pläne immer deutlicher zutage traten. Auch CNV-Mitglieder wurden unter Druck gesetzt, dem gleichgeschalteten NVV beizutreten. Dieser Druck war vergeblich, denn unter den Protestanten herrschte die grundsätzliche Einstellung „Wir sind eine christliche Gewerkschaft oder wir sind nicht‟6 und nahezu alle Vorstandsmitglieder traten zurück und über achtzig Prozent der Mitglieder kündigten die Mitgliedschaft auf. Viele ehemalige Mitglieder des RKWV und des CNV standen jetzt außerhalb der Gewerkschaften, des gleichgeschalteten 3 S. Witteboon, Evert Kupers. Werker, strijder, bouwer, J.J. Kuurstra: Amsterdam 1949, S. 141 A.J.C. Rüter, Rijden en Staken. De Nederlandse spoorwegen in oorlogstijd, Martinus Nijhoff: Den Haag 1960, S. 92-3 5 Ger Harmsen en Bob Reinalda, Voor de bevrijding van de arbeid. Beknopte geschiedenis van de Nederlandse vakbeweging, SUN: Nijmegen 1975, S. 205 6 A. Bornebroek, De strijd voor harmonie. De geschiedenis van de Industrie- en Voedingsbond CNV 1896-1996, IISG: Amsterdam 1996, S. 231 ff. 4 4 NVV, was die deutsche Besatzungsmacht als Niederlage betrachtete. Dann müsse man die Sache halt anders angehen. 1942 wurden die verbliebenen Reste der Gewerkschaftsbewegung in die Nederlands Arbeids Front (NAF) umgewandelt. Zwischenzeitlich erfreuten sich nicht alle Funktionäre innerhalb des NVV über die Haltung des geschäftsführenden Vorstands. In Twente beispielsweise weigerten sich einige örtliche Funktionäre, die zentrale Politik auszuführen und weiter zu arbeiten. Sie wurden entlassen und Gerrit Visser hat dies mit dem Tod bezahlen müssen. Er wurde festgenommen und verstarb in einem Konzentrationslager. Bei den zwei großen Streiks gegen die Besatzungsmacht, dem Februarstreik des Jahres 1941 und dem April-, Maistreik von 1943 fielen verschiedene Funktionäre dadurch auf, dass sie sich aktiv beteiligten. Darüber hinaus hielten die Funktionäre nach der Gleichschaltung ihrer Zentrale die gegenseitigen Kontakte aufrecht. In der Hoffnung auf bessere Zeiten. Darüber hinaus versuchte man, die vertriebenen und entlassenen Funktionäre möglichst finanziell zu unterstützen. Wir müssen allerdings feststellen, dass die zentralen Vorstände der drei großen niederländischen Gewerkschaftsverbände zunächst eine zögerliche Haltung gegenüber Hitler einnahm. Diese Haltung dauerte an bis zu Besatzung und verschwand vor allem bei konfessionsgebundenen Gewerkschaften, als die Pläne der Nazis klarere Konturen annahmen. Innerhalb des NVV waren die Kräfte, die die Organisation, koste was es wolle, aufrechterhalten wollten, am stärksten. Und dies obwohl man hätte wissen können, wie die Nazis mit denen verfuhren, die eine andere Meinung hatten. Sie hätten nur über die Grenze zu schauen brauchen. 4. Aufnahme deutscher Flüchtlinge, 1933-1940 Trotz der positiven Erwartungen, die es hier und da gab, zeigte das Nazi-Regime bereits kurze Zeit später sein wahres Gesicht, wie bereits gesagt. Alsbald stellte sich somit auch ein Flüchtlingsstrom von Deutschen ein, die sich ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Sie flüchteten u.a. in die Niederlande. Zunächst waren das natürlich die Juden, die ausschließlich aufgrund der Tatsache, dass sie existierten, nach Auffassung der Nazis kein Existenzrecht hatten und sich bereits ab April 1933 Sanktionen ausgesetzt sahen, um sie wirtschaftlich auszumerzen, nach dem Motto: Deutsche, kauft nicht bei Juden! Und darüber hinaus die politischen Flüchtlinge, die Gewerkschaftsmitglieder, die sich dem Zugriff hatten entziehen können, die Mitglieder der sozialistischen und kommunistischen Parteien, die um ihr Leben fürchteten. Im August 1933 wurde die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die in den Niederlanden Unterschlupf gefunden hatten, bereits auf sechstausend geschätzt, von denen die meisten (etwa 5.000) jüdischer Herkunft waren. Das ging der Regierung-Colijn zu weit; bereits im Jahr 1934 beschloss man, die Zuwanderung aufzuhalten, indem man ‘Ostjuden’ und ‘die nicht-jüdischen roten Elemente’ zurückzuweisen und möglichst auszuweisen versuchte. Dennoch sind etwa 40.000 jüdische Deutsche über unsere Ostgrenze gekommen zwischen der Machübernahme Hitlers und dem deutschen Überfall am 10. Mai 1940. Die Anzahl der politischen Flüchtlinge war erheblich geringer, aber für sie galt noch stärker die Regierungspolitik, dass man sie möglichst zurückschicken wollte. Die bereits seit Längerem bestehende Zusammenarbeit mit der deutschen Polizei lief, was das anbetraf, einfach weiter, denn beide Parteien wollten sich der Unruheherde am liebsten entledigen. Ein trauriges Beispiel dieser Zusammenarbeit ist die Laren-Sache. In Laren fand Ende Februar eine Konferenz der links-sozialistischen Jugend- und Studentengruppen statt. Die 5 ausländischen Anwesenden wurden verhaftet, einschließlich der acht Deutschen. Da es im Polizeirevier von Laren nur Platz für vier dieser östlichen Nachbarn gab, wurden sie in Handschellen zur deutschen Grenze gebracht und dort der deutschen Grenzpolizei ausgeliefert! Die vier wurden in ihrem Heimatland zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, der Hamburger Lehrer Franz Bobzien verstarb dort. Und so wurden mehrere Deutsche erneut ihren Unterdrückern ausgeliefert. Um noch ein weiteres Beispiel zu geben: Johann Schwittay, der aus dem Konzentrationslager Papenburg entkommen war, fiel in die Hände der niederländischen Behörden, die ihn an die Gestapo auslieferten. Diese Aufnahme politischer Flüchtlinge steht in einem schrillen Kontrast zur Hilfeleistung durch niederländische Geistesverwandte. Die SDAP und der NVV gründeten ein Komitee für politische Deutsche Flüchtlinge (CPDV), die Links-Sozialisten von RSAP und der Gewerkschaft NAS hatten einen Internationalen Solidaritätsfonds und die Kommunisten fingen ihre Kameraden über die internationale Rote Hilfe auf. Da die IRH bei den Niederländischen Behörden keinen guten Stand hatte, wodurch Anträge für Aufenthaltsgenehmigungen erschwert wurden, gründeten die Kommunisten im Jahr 1938 eine weniger offensichtlich kommunistische Hilfsorganisation, das Allgemeine Flüchtlingskomitee. Wie erging es den Einzelpersonen, die flüchteten und hier Unterschlupf suchten? Selbstverständlich können wir jetzt nicht all diese Leute nennen, aber für einige von ihnen möchte ich doch eine Ausnahme machen, um die allgemeine politische Geschichte etwas persönlicher zu gestalten. Das ist möglich, da Bart de Cort, ein Kollege von mir, der früher auch bei dem IISG gearbeitet hat, eine ausführliche Übersicht der deutschen politischen Emigration in den Jahren 1933 bis 1945 erstellt hat.7 In seiner Untersuchung treffen wir Johann Luhr Ernst Ackermann an. Dieser im Jahre 1895 in Geestdorf geborene Glasbläser war in der Gewerkschaft tätig geworden aus Unfrieden mit den schlechten Arbeitsbedingungen in der Glasindustrie. Nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, flüchtete er nach Groningen, wo er den späteren Vorsitzenden des NVV H Oosterhuis kennenlernte. Aufgrund seiner Flucht verhaftete die deutsche Polizei seine Frau und Tochter, da er jedoch einen Bruder hatte, der innerhalb der NSDAP aktiv war, ließen die Justizbehörden sie frei. Sie flüchteten ebenfalls, um sich Johann anzuschließen, der mittlerweile nach Amsterdam umgesiedelt war. Dort lebte er zunächst im Haus von De Jonge und später bei H. Kumsk. Johann gründete eine Kneipe, aber trennte sich nicht von der Politik. So schrieb er in „Het Volk“ einen Artikel, in dem er die Niederlande aufrief, sich gegen die deutsche Gefahr zu rüsten. Darüber hinaus war er weiterhin aktiv innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbunds. Als die deutsche Besatzung begonnen hatte, verließ ihn der Mut und seine Tochter musste ihn von einem Selbstmord abhalten. Er tauchte anschließend bei den Eltern seines Schwiegersohnes unter. Als ihn ein Aufruf erreichte, er solle sich melden, erhielt er eine gefälschte Bescheinigung, in der angegeben wurde, er habe eine schwere, ansteckende Krankheit. So schaffte es Johann Ackermann bis zur Befreiung, wonach er im Jahr 1949 verstarb. 7 Bart de Cort, Biographisches Verzeichnis der deutschsprachigen politischen Emigration in den Niederlanden (1933-1945), Amsterdam 2006 (nicht herausgegeben) 6 5. Aufnahme deutscher Flüchtlinge, 1940-1945 Allgemein (politisch, gewerkschaftlich und staatlich) Der 1880 geborene Maurer Karl Völker war als Mitglied des sozialistischen Bundes der Bergarbeiter im Kampf gegen den Krieg im Jahr 1914 tätig gewesen und war 1919 Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates in Essen. Bis zu seiner Flucht in die Niederlande im Jahr 1938 hat er stets gegen die Machthaber in seinem Heimatland gekämpft, was ihm auch während der Hitlerzeit Gefängnis- und Zuchthausstrafen einbrachte. 1937 flüchtete er nach Amsterdam. Unterwegs entdeckte er, dass der gefälschte Pass, mit dem er reiste, einem Mann gehörte, der ein blindes Auge hatte; Völker legte sich kurzerhand ein Taschentuch vor das entsprechende Auge und sagte, ihm sei sehr kalt. Der Zollbeamte ließ ihn passieren. Als 1938 die Ausweisung nach Deutschland drohte, setzte Edo Fimmen sich erfolgreich dafür ein, dass er bleiben durfte. Man hatte Völker zu verstehen gegeben, dass er innerhalb einiger Monate ausreisen müsse, ansonsten würde er den deutschen Behörden übergeben. Während des Krieges war Karl Völker (den man auch Ome Kees nannte) bei der Familie Dermout in Amsterdam untergetaucht, von wo aus er selbst noch in der Lage war, anderen Flüchtlingen zu helfen. Im Jahr 1949 verstarb er in Amsterdam, wo er auch beerdigt wurde. 6. Aalten ist bekannt als die Gemeinde, in der relativ die meisten Flüchtlinge aufgenommen worden sind Die Unterbringung von Flüchtlingen während der Nazizeit war nicht im ganzen Land gleichmäßig verteilt. Es gab Gegenden, in denen man mehr Menschen half und Gegenden, in denen die Bevölkerung zurückhaltender war. Alle sind jedoch einig in der Auffassung, dass Aalten die Gemeinde war, in der relativ die meisten Untertaucher einen sicheren Unterschlupf fanden. 2500 Untertaucher auf eine Bevölkerung von 13.000 Menschen, das ist eine unvorstellbare Anzahl. Es handelte sich dabei im Übrigen vor allem um Niederländer. Wie beispielsweise die über die Kirche nach Aalten geholten Kinder aus dem zerbombten Rotterdam. Oder die Männer, die sich dem Arbeitseinsatz, im Nazisystem eine Form der modernen Sklaverei, durch Untertauchen zu entziehen versuchten. Und 500 Bürger aus Scheveningen, die ihren Wohnort hatten verlassen müssen, da sie der Errichtung des Atlantikwalls weichen mussten. Und natürlich nicht zuletzt die Juden, die der Vernichtung ihrer nackten Existenz zu entkommen versuchten, indem sie untertauchten. Es sind umfangreiche Forschungsarbeiten bezüglich der Frage, weshalb in den Niederlanden verhältnismäßig wenige Juden den Krieg überlebt haben, durchgeführt worden und darüber hinaus auch bezüglich der Frage, weshalb es innerhalb der Niederlande solche großen regionalen Unterschiede gegeben hat. Vor einigen Jahren wurde die Forschungsarbeit zur Judenverfolgung ‘Gif laten wij niet voortbestaan’ (Gift lassen wir nicht weiter existieren) 7 veröffentlicht.8 Darin die Autoren u.a. zu der Schlussfolgerung, dass die Überlebenschancen in Gemeinden, in denen ein nicht-NSB Bürgermeister an der Macht war, größer war, die Juden besser integriert waren und - und das war eine überraschende Erkenntnis – die katholische Gemeinschaft größer als die protestantische war (S. 539). In Aalten überlebten 59% der hier zu Anfang des Krieges als Juden angemeldeten Personen den Holocaust. War das die Folge der Tatsache, dass der eigene Bürgermeister erst zu einem späten Zeitpunkt abgelöst und durch einen NSB-Vertreter ersetzt wurde? Oder waren die 78 Aaltener Juden gut in die Gesellschaft integriert? An den Katholiken kann es in Aalten auf jeden Fall nicht gelegen haben; die machten nur 18% der Bevölkerung aus (gemäß der Volkszählung des Jahres 1947). Gewerkschaftsmitglieder, die aufgrund ihrer Tätigkeiten aus Deutschland geflohen waren, bildeten überall nur eine sehr kleine Minderheit der Gesamt-Untertaucherzahl. Aber für die Menschen selbst war die Gastfreundschaft von lebensrettender Bedeutung. Wie viele es in Aalten gegeben hat, weiß ich nicht. Dieser Grenzort fungierte für ziemlich viele Flüchtlinge als Ort, in dem sie ihre Heimat hinter sich lassen konnten. Einer von ihnen benutzte den Ortsnamen sogar als Decknamen. Das war Albin Robert Werner Schröder, der Sohn eines Funktionärs der deutschen Eisenbahnergewerkschaft, der jedoch selbst Kunstmaler war und im Jahr 1933 in die Niederlande flüchtete aufgrund seiner Mitgliedschaft in der SPD und später in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland (SAP), der Partei, der auch der spätere Bundeskanzler Willy Brandt angehörte, tätig war Schröder überquerte bei Dinxperlo/Aalten die Grenze und nahm den Decknamen Aalten an. Er reiste weiter nach Den Haag. Dort fand er bei der Familie Van Tol Unterschlupf, von der einer der Familienmitglieder später erklärte: „Bei uns zu Hause gab es einen deutschen Jungen, wie er hieß, wussten wir nicht. Er war Maler, im deutschen verwendet man dafür das Wort „Pinsel“; also nannten wir ihn Pinsel. Pinsel war Mitglied einer abgespaltenen Sozialistengruppe in Deutschland. Er stand bei Hitler auf der Todesliste“.9 Später reiste dieser Aalten oder Pinsel nach Amsterdam, da ihm der Boden in Den Haag zu heiß unter den Füßen wurde. Da er nach dem Überfall in der niederländischen Armee mitkämpfen wollte, meldete er sich bei der Ausländerpolizei. Das hätte er besser sein lassen, denn er wurde verhaftet und später nach Münster ins Gefängnis gebracht. Dort wurde er in einer Strafbataillon untergebracht, die in Finnland kämpfen sollte. Durch einen Fehler jedoch kehrte er nach Deutschland zurück. Nachträglich dennoch zur Front geschickt, endete er in Kriegsgefangenschaft, wurde jedoch aufgrund seines politischen Hintergrunds von den Amerikanern freigelassen. Er setzte sich in der Sowjet-Zone für den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) ein, der schon bald zu einer übergeordneten Organisation der Kommunisten wurde. Schröder bekam schließlich eine Stelle im Kulturbereich der DDR wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1979 lebte. 7. Schluss Diese Veranstaltung und die Danksagung durch unsere deutschen Freunde ist eine tolle Geste ihrerseits, die man gar nicht zu hoch bewerten kann. Vielleicht könnte es ein Ansatz zu einem Marnix Croes en Peter Tammes, ‘Gif laten wij niet voortbestaan’. Een onderzoek naar de overlevingskansen van joden in de Nederlandse gemeenten, 1940-1945, Aksant: Amsterdam 2006 9 Bart de Cort, a.w., S. 106 8 8 dauerhaften, zugänglichen und weiteren Mahnmal für all die Niederländer sein, die ihren Mitmenschen unter - auch für ihr eigenes Leben - sehr bedrohlichen Umständen geholfen haben. Umgekehrt sollten wir jedoch auch denjenigen Deutschen Gewerkschaftlern Respekt zollen, die unter den Bedingungen der erdrückendsten Diktatur den Mut hatten, weiterhin zu ihrer Meinung zu stehen. Denn diese Helden beider Seiten dürfen nicht vergessen werden. Denn sie waren, das dürfen wir hier durchaus sagen, Helden. Sowohl die geflüchteten Deutschen, als auch die Unterschlupf gewährenden Niederländer. Wer kann voller Überzeugung behaupten, dass er unter ähnlichen Bedingungen in ihre Fußstapfen treten würde. Ich persönlich traue mich sicherlich nicht, eine solche Behauptung zu machen. Aber auch in diesem Moment verlassen Tausende Flüchtlinge überall auf der Welt ihre Heimat auf der Suche nach Orten, wo sie sich sicher fühlen können. Diktaturen, für die Menschenrechte keine allzu große Rolle spielen, gibt es auch jetzt noch und vertreiben auch jetzt noch viele Menschen. Hier in Westeuropa ist die Unterstützung dieser Menschen nicht lebensbedrohlich für die Hilfeleistenden, dennoch wenden sich viele Leute ab und schauen weg. Wie schwer ist diese Unterstützung in den Ländern selbst, in denen auch Gewerkschafter sich kaum noch am Leben halten können. Wussten Sie, dass letztes Jahr weltweit nach Angaben des übergeordneten internationalen Gewerkschaftsbundes, der International Trade Union Confederation, mit 168 Millionen Mitgliedern der größte Dachverband von Gewerkschaften, in Burma (Myanmar), Bahrain, Fiji, Guatemala, Swasiland, Zimbabwe und Georgien die Rechte von Gewerkschaftlern auf überaus ärgerliche Art und Weise verletzt werden? In 24 Ländern werden Gewerkschafter körperlich bedroht, in 28 Ländern finden Festnahmen von Gewerkschaftern statt und im Jahr 2013 wurden alleine in Kolumbien 26 aktive Gewerkschafter ermordet. Das passiert hier und jetzt vor unseren Augen. An der Vergangenheit können wir nichts ändern, aber in unserer heutigen Welt können wir durchaus einschreiten. Womöglich die heutigen Opfer von gewerkschaftsfeindlichen Vorgängen unterstützen und als Zeichen des Respekts gegenüber den Helden von damals, das ebenfalls als Warnung an diejenigen, die die Gewerkschaftstätigkeit heutzutage bedrohen, dienen kann. Vielleicht könnte dieser Tag der Auftakt zu einem solchen großen Mahnmal und zu Respekt sein, welches ich mir in Form eines digitalen Mahnmals vorstelle, in dem all diejenigen Menschen von beiden Seiten aufgeführt werden. Aber das ist eine Sache für später. Bevor ich es vergesse, Sie sind natürlich neugierig, wie die Geschichte mit Claus ausgegangen ist, wissen Sie noch, der Mann, der zwei Jahre lang im Haus von Gerrit Sterkman wohnte. Einige Jahre nach der Befreiung wurden Sterkman Grüße von Professor Alfred Lemnitz übermittelt, vom Minister für Kultus der DDR. Das war ‘Claus’ bzw. Klaas. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 9
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