Ausgetrickste Schwerkraft. Predigt zu 2. Könige 6,1-7 am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr, 8. November 2015 Kirchgemeinde Kleinbasel, Theodorskirche Vikarin Lea Scherler 1Und die Prophetenjünger sagten zu Elischa: Sieh doch, der Raum, in dem wir vor dir wohnen, ist zu eng für uns. 2Wir würden gern an den Jordan gehen und uns von dort jeder einen Balken holen, damit wir uns dort einen Ort herrichten können, um dort zu wohnen. Und er sagte: So geht! 3Einer aber sagte: Ich bitte dich, geh doch mit deinen Dienern. Und er sagte: Ich werde mitgehen. 4Und so ging er mit ihnen. Und sie kamen an den Jordan und schnitten das Holz zu. 5Als einer aber seinen Balken fällte und das Eisen ins Wasser fiel, schrie er auf und sagte: Ach, mein Herr, es ist geliehen! "Ein Wunder!" - "Wo?", frage ich mich. "Ein Wunder", flüstert irgendwer wieder. "Was für eines?", möchte ich wissen. Ich kann jetzt aber nicht laut sprechen. Wüsste auch gar nicht, an wen ich mich wenden sollte. Rund um mich sind Menschen. Jeder könnte es gewesen sein. Aber ich bin ein unglaublich neugieriger Mensch. Also drehe ich langsam den Kopf nach links und dann nach rechts. Aber es bleibt still. Einmal abgesehen vom Rascheln, Hüsteln und den verklingenden Tönen im Saal des Theaters. "Ein Wunder!" Diesmal bin ich aufmerksam genug und entdecke den so verzückt Flüsternden: Ein älterer Mann, zwei Reihen vor mir. Er ist angespannt vorgebeugt in seinem Sitz, den Blick hat er unverwandt nach vorne gerichtet. Dort gehen gerade zwei Tänzer von der Bühne. Aber der Mann hat wohl mehr als zwei Menschen gesehen. Wie sonst kommt er dazu von "Wunder" zu sprechen? Ein Wunder, das ist etwas Grossartiges, oder? Etwas, das es eigentlich gar nicht geben kann! Etwas, das wir sehen und nicht glauben können. Und es dann doch glauben müssen, weil es so Gross-artig, so absolut nicht unter den Teppich zu kehren ist. Was also ist für diesen Mann, zwei Reihen vor mir, gerade geschehen? Die Musik setzt wieder ein, neue Tänzer und Tänzerinnen springen auf die Bühne, bewegen sich im Rhythmus der Instrumente. Und jetzt suche ich. Nach diesem Wunder. Vielleicht ist es ja eines, das sich wiederholt! Und ich ahne es auf einmal. Die Füsse der Tanzenden berühren immer nur kurz den Boden. Es scheint, als heben sie ab. Aber immer nur für einen winzigen Augenblick. Dann ist da wieder der Boden. Dann wieder heben sie ab. Das ist doch 1 mühsam, denke ich. Der Mann vor mir sieht aber wahrscheinlich etwas anderes. Die Leidenschaft, die diese Menschen auf der Bühne fast fliegen lässt. Ein Wunder eben. Was würdet ihr als Wunder bezeichnen? Sind es kleine oder grosse Erlebnisse? Kleine oder grosse Menschen? Ja, gibt es sie überhaupt? Wunder? Manchmal beten wir darum, dass eines geschieht. Wenn wir Angst haben oder uns Sorgen machen. Um uns und andere. Wie wäre es z.B. mit einem Wunder, das den Welthunger verschwinden lässt? Dagegen würde wahrscheinlich niemand von uns sich wehren. Wieso auch? Ein Wunder ist doch das ultimative Geschenk. Gratis und franko. Wirklich? Ganz gratis? In der heutigen Zeit und unserer Gesellschaft gibt es kaum mehr etwas gratis. Ich erinnere mich an die selbstverständliche Frage, was das koste, als wir rund um Erntedank mit unserem Soup'mobil unterwegs waren. Nichts. Die Suppe, das Brot und der Most sind gratis. Und Wunder gibt es eben auch geschenkt. "Ach, mein Herr, es ist geliehen!" Nicht geschenkt, sondern geliehen war dieses Eisenbeil. Der Ausruf des Prophetenjüngers muss sehr verzweifelt geklungen haben. Vielleicht hat er die Hände verworfen und den Blick nicht von der Wasseroberfläche wenden können, wo das geliehene Eisenbeil verschwunden ist. "Ach, mein Herr!" Er richtet seine Worte sofort an Elischa, das Haupt der Prophetenjünger. Von ihm erwartet er Hilfe. Aber die Situation scheint aussichtslos. Ist Eisen erst einmal im Wasser, dann sinkt es sehr schnell. Eisen ist schwer und Wasser nachgiebig. Das weiss auch der Jünger. Er überlegt sich vielleicht bereits, wie er sich erklären soll, wenn er ohne Eisenbeil zurückkommt. Solche Gegenstände waren zu der Zeit in Israel sehr wertvoll und lange nicht jeder besass ein Beil. Vielleicht bereute er seine Entscheidung, mit den anderen an den Jordan gekommen zu sein. Was kümmert ihn schon der Dichtestress im Prophetenhaus? Seine Aufgaben liegen nicht in solch irdischen Dingen. Er will Gott und dem Propheten Elischa dienen mit seinem Geist. Aber dann musste ja einer der anderen Jünger die Idee haben, das Haus auszubauen. "Sieh doch, der Raum, in dem wir vor dir wohnen, ist zu eng für uns. Wir würden gern an den Jordan gehen und uns von dort jeder einen Balken holen, damit wir uns dort einen Ort herrichten können, um dort zu wohnen.", hatte dieser zu Elischa gesagt. Eigentlich hatte er ja auch Recht. Es wurde tatsächlich viel zu eng. Und wenn jeder einen Balken holt, dann ist ein weiterer Raum schnell gebaut. Ein anderer schien zum Glück zu ahnen, dass sich ein Unglück anbahnt. Denn er bat den Propheten Elischa darum mitzugehen an den Jordan. "Ich bitte dich, geh doch mit deinen Dienern." Elischa war, anders als sein Vorgänger Elija kein Einzelgänger, sondern Haupt von 2 mehreren Prophetenschulen. Er hat sich also auch als Begleitung der Prophetenjünger in den verschiedensten Lebenssituationen verstanden. Trotzdem musste ein Jünger ihn zuerst darum bitten, bevor Elischa entschied: "Ich werde mitgehen." Ich kann mir vorstellen, dass dieses Mitgehen von Elischa eine zusätzliche Motivation war für die Prophetenjünger. Mit Elischa war gleichzeitig Gottes Segen über dem Projekt Hausausbau. Doch als jeder für sich mit einem Baum beschäftigt ist, stellt sich einer etwas ungeschickt an. Sein Beil fällt in den Fluss. "Ach, mein Herr, es ist geliehen!" Schwer wiegt das Eisen, nachgiebig ist das Wasser. Wäre ein leichterer Gegenstand ins Wasser gefallen, vielleicht würde er schwimmen. Aber nicht Eisen. "Auf der Erde bewirkt die Gravitation, dass alle Körper nach unten fallen, sofern sie nicht durch andere Kräfte daran gehindert werden." Steht bei Wikipedia unter dem Stichwort Gravitation. Das Wasser ist eine Kraft, die Körper erstaunlich leicht erscheinen lassen kann. Aber nicht Eisen. Es fällt und fällt. Immer nach unten, in Richtung Erdmittelpunkt. Alle Körper fallen nach unten, sofern sie nicht durch andere Kräfte gehindert werden. Manchmal auch unser eigener Körper. Leib und Geist. Sie fühlen sich manchmal erschreckend schwer an. Gedanken erdrücken, lassen Menschen gebeugt gehen. Arbeit ermüdet Glieder, lässt die Freude am Tun der Resignation weichen. Krankheiten halten uns vor Augen, wie schwach uns die menschliche Schwere macht. Immer wieder spüren wir die Schwerkraft. Eisen fällt, auch durch die Kraft des Wassers hindurch. Bis zum Grund. "Ach, mein Herr, es ist geliehen!" "6Der Gottesmann aber sagte: Wohin ist es gefallen? Und jener zeigte ihm die Stelle. Da schnitt er ein Stück Holz ab, warf es dort hinein und brachte das Eisen zum Schwimmen. 7Dann sagte er: Hol es dir heraus! Da streckte jener seine Hand aus und holte es." Nicht geliehen, sondern geschenkt war dieses Wunder. Gratis und franko. Der Jünger musste Elischa nur zeigen, wo das Eisenbeil im Wasser verschwunden ist. Und dann folgt kein grosser Zauber, keine Applaus heischende Szene. Elischa bringt mit einem Stück Holz das Eisen zum schwimmen, hebt die Schwerkraft auf, verändert die Kraft des Wassers. Was jetzt wirkt, ist die Kraft eines Wunders. Nicht irgendeines, sondern ein göttliches Wunder. Das Eisen schwimmt. Der Prophetenjünger muss den letzten Teil dann aber doch selbst tun. Er greift mit seiner Hand nach dem Eisenbeil und holt es aus dem Jordan. Ein gratis Wunder, das nicht ohne den auf das Wunder Hoffende, geschehen kann. Ein Wunder, das aber vor allem ein Geschenk ist. Einfach so. Vielleicht hat der Prophetenjünger auch geflüstert "ein Wunder", als Elischa das Eisen 3 schwimmen liess. Er hat vielleicht gar nie auf ein Wunder gehofft. Oder nur ganz im Stillen. Aber es ist trotzdem oder gerade deswegen geschehen. Ganz leise, ohne grosse Worte. Nur ein Stück Holz brauchte es, um leicht zu machen, was unüberwindbar schwer schien. Menschen tanzen, als ob sie fliegen könnten. Kinder machen ihre ersten Schritte, obwohl ihnen nie jemand erklärt hat, wie es geht. Männer und Frauen feiern Feste, als ob sie das Gute damit festhalten könnten. Menschen verlieben sich und spüren, dass die Schwerkraft gar nicht so schwer ist. All das sind Wunder, die wir nicht erzwingen können. Aber wir können ihnen Platz in unserem Leben einräumen. Und wenn sie sich dann zeigen, darauf hoffen, dass sie Spuren hinterlassen. Im Wasser, auf dem Tanzparkett, in den Herzen. Gottes Wunder gibt es gratis. Und trotzdem nicht so ohne weiteres. Wir dürfen unser Bestes geben. Wir dürfen unsere Leidenschaft bedingungslos leben. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott uns immer wieder leicht werden lässt in all der Schwere. Dann werden uns Wunder geschenkt. AMEN 4
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