Beschwerdenvalidierung bei neuropsychiatrischen Erkrankungen

Bezirkskrankenhaus Günzburg
Akademisches Krankenhaus
für die Universität Ulm
Beschwerdenvalidierung
bei neuropsychiatrischen
Erkrankungen
Bernhard Widder
Problem „nicht authentischer“ Beschwerden
2/57
Arch Orth Unfallchir
1932; 31: 267-274
Simulation, Aggravation und ….
Begriff
Definition
Symptomerzeugung
Motivation
Simulation
Bewusste, zielgerichtete
Vortäuschung von Beschwerden
Absichtlich
Bewusst
Aggravation
Bewusste, zielgerichtete Übertreibung
oder Ausweitung von Beschwerden
Absichtlich
Bewusst
Unabsichtlich
Unbewusst
Absichtlich
Unbewusst
(Un)absichtlich
(Un)bewusst
Somatoforme
Befindlichkeits- und Verhaltensstöund dissoziative rungen, die sich als körperliche
Störungen
Symptome präsentieren
Artifizielle
Störung
Zielgerichtete Vortäuschung oder
Erzeugung von Symptomen mit
primärem Krankheitsgewinn
Dissimulation
Herunterspielen oder Verbergen von
Beschwerden
modifiziert nach Merten, Fortschr Neurol Psychiatr 2002; 70: 126-138
Ohne Wertung …
Beschwerdenvalidität (symptom validity)
Authentizität der von einem Probanden im Rahmen
der Begutachtung geschilderten Beschwerden,
demonstrierten Symptome und Testergebnisse
Deutscher Psychologen Verlag
2009
Genügt nicht …
Kein Anhalt für Simulation
oder Aggravation
Beschwerdenvalidierung durch Bildgebung ?
Beschwerdenvalidierung durch Bildgebung ?
Beschwerdenvalidierung durch Bildgebung ?
Lumbale MRT-Befunde bei schmerzfreien Personen
Bandscheibenvorfall
Protrusion
Degeneration
nach Boden et al., 1990
Probleme der neuropsychiatrischen Begutachtung
Unzureichende oder sogar völlig fehlende Korrelation zwischen
„harten“ klinischen / bildgebenden/ elektrophysiologischen Befunden
und Funktionsstörungen bei
Schmerzen
funktionellen neurologischen Ausfällen
Fatigue-Symptomen
neuropsychologischen Defiziten
psychischen Störungen
!
Derartige Störungen machen die überwiegende Zahl neuropsychiatrischer Begutachtungen aus.
Warum Beschwerdenvalidierung ?
„Die Zweifel …bestätigen nur das auf allen Rechtsgebieten der Entschädigung bestehhende allgemeine Problem, dass für Krankheiten - anders als für Verletzungen - kaum
je überzeugend festgestellt werden kann, dass der … entschädigungspflichtige Vorgang
die entscheidende medizinisch wirkende Ursache war. … Das gilt besonders für seelische Krankheiten ….
In solchen Fällen hat der Senat schon wiederholt darauf hingewiesen, dass medizinische Gutachten im Einzelfall regelmäßig nichts Überzeugendes zur Ursachenfrage
aussagen können … Die als Gutachter bestellten Psychiater und Psychologen äußerten
sich zwar regelmäßig auftragsgemäß entschieden zur Kausalität. Dass diese Äußerungen aber nur Lehrmeinungen oder private Meinungen waren, zeigt sich daran, dass die
Gutachter außerordentlich oft zu gegensätzlichen Ergebnissen kamen, die auch durch
weitere Gutachten nicht miteinander in Einklang gebracht werden konnten.
BSG Urteil vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92
11/50
„Handwerkszeug“ der Beschwerdenvalidierung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Aktenlage
Anamnese
Beobachtung
Neurologische Befunderhebung
Psychopathologische
Befunderhebung
Elektrophysiologische
Diagnostik
Fragebögen und
Selbstbeurteilungsskalen
Neuropsychologische Tests
Medikamentenmonitoring
1.
Beschwerdenvalidierung
anhand der Aktenlage
„Handwerkszeug“ Aktenlage
37jähriger technischer Zeichner, PKW-Kollision von links an einer Kreuzung
D-Arzt-Bericht Unfalltag: Keine Bewusstlosigkeit eruierbar, wach und orientiert.
Schmerzen in der oberen HWS und paravertebral mit Druckschmerzen.
5 Monate später: Er sei initial bewusstlos gewesen, sei erst im Krankenhaus wieder
aufgewacht. Dort sei er nach 2 Stunden wieder entlassen worden. Direkt nach dem Unfallereignis sei er beschwerdefrei gewesen.
2 Jahre später: Durch den Aufprall sei er nach rechts aus seinem Fahrzeug herausgeschleudert worden. Er sei erst im Krankenhaus nach 1-2 Stunden wieder zu sich gekommen. Er habe auch eine Erinnerungslücke an die Zeit vor dem Unfall. Von Anfang
an habe er ein Instabilitätsgefühl an der Halswirbelsäule verspürt.
!
Eine chronologisch und thematisch getrennte Aufarbeitung der Aktenlage vermittelt Hinweise auf mögliche Ungereimtheiten in der Vorgeschichte
14/36
2.
Beschwerdenvalidierung
anhand der Anamnese
„Handwerkszeug“ Anamnese
54jährige Arzthelferin, Gutachten zu beruflichen Leistungsfähigkeit
Ihr Hauptproblem sei, dass sie seit vielen Jahren an einer chronifizierten Depression
und Angststörung leide. Diese habe sich seit der Scheidung verstärkt und den nachfolgenden Arbeitsplatzverlusten, weswegen sie sich nicht mehr für leistungsfähig erachte.
Auf Frage, dass sie gemäß Unterlagen in ihrem Leben nie voll leistungsfähig war,
meint sie, sie sei ja als junge Frau schon immer krank gewesen, weswegen man ihr
schon damals die Überforderung einer vollen Tätigkeit nicht habe zumuten wollen. …
Auf Frage, dass sie die stationäre Behandlung in S. nach 2 Tagen wieder abgebrochen habe, erklärt sie, es sei allen schon vorher bekannt gewesen, dass sie furchtbare
Angst gehabt habe von zu Hause weg zu müssen. Sie wisse von vielen, dass sich,
wenn sie in der Reha seien, ihr Zustand verschlechtere. …
!
• Konfrontation mit auffälligen Angaben in den Akten
• Anamnese von Alltags- und sozialen Aktivitäten aufgrund von „InternetBriefing“ inzwischen zunehmend weniger aussagekräftig
16/36
3.
Beschwerdenvalidierung
anhand der Beobachtung
„Handwerkszeug“ Beobachtung
1. Gangbild
beim Eintreten
↔
bei der Verabschiedung
2. Verhalten
am Anfang der
Exploration
↔
beim Abschlussgespräch
3. Erscheinungsbild
berichteter familiärsozialer Rückzug
↔
erkennbare Selbstpflege
4. Bewegungsmuster
Spontanbewegungen
während der Exploration
↔
Bewegungsmuster während
der Untersuchung
5. Sitzfähigkeit
berichtete Schmerzstärke
↔
(VAS)
!
Erfordernis entlastender
Bewegungen
Stimmen Beschwerdenangaben und Beobachtung überein ?
4.
Beschwerdenvalidierung bei der
neurologischen Untersuchung
„Handwerkszeug“ klinische Untersuchung
Handkraft-Test
Passen die Messwerte zur
ersichtlichen Muskulatur?
Hoover-Test
Werden Antagonisten (ipsi/kontralateral) betätigt?
Motorik
Sensibilität
Propriozeptions- Liegt die Trefferquote über
Test
oder unter 50 %?
Koordination
Finger-NaseVersuch
Zeigt eine Dysmetrie bei Wiederholung eine Adaptation?
Gleichgewicht Romberg-Test
Verschwindet einer Standunsicherheit bei Ablenkung?
Schmerz
Verbleibt ein positiver Befund
auch bei alternativer Prüfung?
Lasègue-Zeichen
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5.
Beschwerdenvalidierung anhand des
psychopathologischen Befundes
„Handwerkszeug“ AMDP-System
100 Symptome
S
F
Selbstbeurteilung
Fremdbeurteilung
(22 Symptome)
Sf Selbstbeurteilung im
Vordergrund
sF Fremdbeurteilung im
Vordergrund
Arbeitsgemeinschaft für Methodik und
Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP)
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Subjektive vs. objektive Ebene
Subjektive Ebene
(Beschwerdenebene)
Objektive Ebene
(Befundebene)
Grübeln
Ängste
Innere Unruhe
Schlafstörungen
Morgentief
Rückzug
Suizidgedanken
Leistungsminderung
usw.
Affekt
Antrieb
Psychomotorik
Denkablauf
Auffassungsvermögen
Konzentrationsfähigkeit
Umstellungsfähigkeit
Orientierung
usw.
Klare Trennung zwischen subjektiven Angaben und objektiven Befunden
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Med Sach 2009; 105: 100-106
6.
Elektrophysiologische
Beschwerdenvalidierung
„Handwerkszeug“ Elektrophysiologie
Eine Nervenbahn, die elektrophysiologisch (NLG, SEP, MEP)
!
• reproduzierbar bei guten Untersuchungsbedingungen (!) und
• nachweislich (konkrete Werte einschl. Amplituden dokumentiert)
unauffällige Werte zeigt, ist nicht relevant geschädigt
7.
Beschwerdenvalidierung mit
Interviews, Fragebögen und
Selbstbeurteilungsskalen
„Handwerkszeug“ klinische Skalen
Selbstbeurteilungsskala
Cut off
Pain Disability Index (PDI)
> 31 Pkte
Beeinträchtigung
Beck Depressionsinventar (BDI)
> 29 Pkte
schwere Depression
Hamilton Depressionsskala (HAM-D)
> 30 Pkte
schwere Depression
Impact of Event Scale (IES-R)
>0
Bewertung
PTBS
…..
!
• Errechnete Punktwerte in Selbstbeurteilungsskalen sind in der Begutachtungssituation nicht valide
• Entscheidend ist die Korrelation mit dem klinischen Bild
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„Handwerkszeug“ Simulationsskalen/-interviews
PTBS
Simulation
„Handwerkszeug“ Simulations-Fragebogen
Strukturierter Fragebogen Simulierter Symptome (SFSS)
Cima et al., Nervenarzt 2003; 74: 977-986
Cut Off 16 Punkte
aber …
Ursache z.B.
Manchmal verliere ich alles Gefühl in meiner Hand, so als ob ich
einen Handschuh anhätte
Karpaltunnelsyndrom
Das Essen schmeckt mir nicht mehr so wie früher
Lediglich Bewertung „absurder“ Angaben
Ich lache selten
Gastritis
Depression
Ich habe
bemerkt,
mein Schatten wild um mich dreht, auch
wenn ich
Mein größtes
Problem
ist dass
mein sich
Gedächtnis
Hirnkontusion
still sitzen bleibe
Meine Stimmung ist nachts schlechter
Alpträume
Mein bisheriges Leben und bedeutende Ereignisse erscheinen mir oftmals von
Es passiert mir häufiger als dreimal pro Tag, dass ich aufstehe um
Demenz
einem Moment auf den anderen schleierhaft
etwas zu holen, dann aber vergesse, was es war
ja
nein
ja
nein
Wenn ich mich an etwas nicht mehr erinnern kann, dann helfen auch keine Tips
ja
nein
Seit einiger Zeit fällt mir auf, dass ich Kopfschmerzen bekomme und mir
schwindelig wird, kurz bevor ich etwas vergesse
ja
nein
8.
Neuropsychologische
Beschwerdenvalidierung
Methodik Beschwerdenvalidierungstests (1)
Scheinbar schwere Tests
Leichte vs. schwere Aufgabe
Methodik Beschwerdenvalidierungstests (2)
Alternativwahlverfahren
Abweichen von der Zufallswahrscheinlichkeit bei Wahlzwang zwischen
2 Alternativen
Vorlagen
Alternativauswahl
Adäquate
Leistung
Ratewahrscheinlichkeit
Vortäuschung
Hund
Hund
Hase
Hund
Hund
Hase
Fahrrad
Reifen
Fahrrad
Fahrrad
Reifen
Reifen
Mann
Mann
Junge
Junge
Junge
Junge
Zug
Zug
Bus
Zug
Zug
Zug
Auto
Auto
Flugzeug
Auto
Auto
Flugzeug
Hütte
Scheune
Hütte
Hütte
Scheune
Scheune
5/6
3/6
1/6
„Handwerkszeug“ BVT
0%
erhöhte (!) Leistung zur
Vortäuschung von Defiziten
!
50%
verminderte Leistung adäquate
Bewertung ??
Leistung
100%
•
Neuropsychologische Beschwerdenvalidierungstests machen nur dann Sinn,
wenn (gleichzeitig) kognitive Beeinträchtigungen geklagt werden
•
Die Mehrzahl der Untersuchten liegt im Grenzbereich oberhalb der Ratewahrscheinlichkeit
•
“Auffällige” Befunde im Grenzbereich finden sich auch bei Depressionen,
Schmerzen und Medikamentennebenwirkungen
9.
Beschwerdenvalidierung durch
Medikamentenmonitoring
Problem der unterschiedlichen CYP-Aktivität
„Handwerkszeug“ Medikamentenspiegel
60
Geretsegger, Akt Neurol 2008; 35: 10.1055/s
50
%
40
30
20
10
0
0,0 ng/ml
!
grenzw.
Ref.
•
Nicht der Blutspiegel, sondern nur der Nachweis der Substanz ist
entscheidend (cave “ultrarapid metabolizer)
•
Bestimmung nur von Substanzen, die in den letzten 12-15 Stunden vor der
Blutentnahme als sicher (!) eingenommen angegeben wurden
„Handwerkszeug“ der Beschwerdenvalidierung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Aktenlage
Anamnese
Beobachtung
Neurologische Befunderhebung
Psychopathologische
Befunderhebung
Elektrophysiologische
Diagnostik
Fragebögen und
Selbstbeurteilungsskalen
Neuropsychologische Tests
Medikamentenmonitoring
Begutachtung ist Überzeugungsbildung
Der Antragsteller ist überzeugt, dass er aufgrund seiner
Beschwerden beeinträchtigt ist und dafür entschädigt werden muss
Der Gutachter ist überzeugt, dass
die geklagten Beschwerden
bestehen und zu relevanten
Funktionsstörungen führen
Der Gutachter ist nicht überzeugt,
dass die geklagten
Funktionsstörungen tatsächlich in
dem geklagten Umfang bestehen
Der Gutachter übermittelt seine
Überzeugung anhand möglichst
vieler objektiver Befunde an den
Auftraggeber
Der Gutachter übermittelt seine
fehlende Überzeugung mittels
eingehender Begründung an den
Auftraggeber
39/37
Überzeugungsbildung
erfolgt durch
Beschwerdenvalidierung
Neuropsychiatrische
Begutachtung
=
(überwiegend)
Beschwerdenvalidierung
… und erinnert (nicht selten) an Fingerhakeln
Reaktion von psychiatrischer Seite
Wir stehen dabei nicht nackt da …
Peter Lenk *1947