Dem Schrecken der Nazis entronnen

6 Mindener Tageblatt
Minden
Nr. 221 · Mittwoch, 23. September 2015
Dem Schrecken der Nazis entronnen
Hans Bradtmüllers Erinnerungen aus der Zeit bis 1945 erscheinen als Buch. Als Sohn einer jüdischen
Mutter und eines christlichen Vaters überlebte er die Verfolgung nur mit Glück und dank Hilfe.
würdigte der Gerettete sein Leben lang
die Hilfe.
Neben all den angsterfüllenden Situationen schilderte Hans Bradtmüller im hohen Alter auch die kleinen
Freuden seiner Jugend. So erfahren die
heutigen Leser, dass sein – christlicher
– Cousin Oswald mit anderen den ersten Jazz-Club Mindens, den „Pennsylvania Club“, gründete. Und natürlich
machte der Jüngling auch Erfahrungen mit dem schönen Geschlecht –
was für ihn als „Halbjuden“ nach den
Nürnberger Gesetzen lebensgefährlich werden konnte.
Von Jürgen Langenkämper
Minden (mt). Die Nazi-Zeit war auch in
Minden das dunkelste Kapitel der jüngeren Geschichte. Hans Bradtmüller
(1927-2010), Sohn einer christlich-jüdischen Familie, durchlebte und überlebte die Schreckensherrschaft und
die antisemitische Verfolgung, der er
als getaufter, von den NS-Rassisten so
klassifizierter „Halbjude“ ebenso ausgesetzt war wie seine Mutter – viele
Freunde und Nachbarn aus der Stadt
jedoch nicht. Fünf Jahre nach seinem
Tod erscheinen, wie von ihm gewünscht, seine Lebenserinnerungen
in dem jungen Bergmann Verlag aus
Borgholzhausen.
Der Titel „Zwölf Jahre“ zeigt die Zeitspanne, die Hans Bradtmüller für den
Rest seines Lebens geprägt hat. In der
Mindener Altstadt wohnend – der Vater Hermann betrieb als Polsterer- und
Dekorateur-Meister in der Königstraße ein Geschäft, das der Sohn später
fortführte –, kam er früh mit unterschiedlichen Menschen in Kontakt. Zu
rassistischen Anfeindungen scheint es
– zumindest in der Rückschau im fortgeschrittenen Alter – selten gekommen zu sein. Doch an traurige Schicksale jüdischer Familien, die in Auschwitz, unter dem Henkerbeil oder auch
spurlos endeten, konnte sich Hans
Bradtmüller bis zuletzt im Jahre 2010
erinnern – und diese Erinnerung hält
er durch seine Memoiren wach.
Auch Hermann Bradtmüller, der
fest zu seiner Frau hielt, wollte sein
Geschäft verkaufen, um mit Frau und
Sohn auszuwandern – nach Bolivien.
Davon nahmen sie jedoch Abstand,
obwohl noch Zeit gewesen wäre.
Schließlich wurde Hans Bradtmüller
bei den Flugzeugwerken Peschke
dienstverpflichtet. „Dort gab es zum
Beispiel junge, stramme Nazis, aber
überwiegend gewesene Sozialdemokraten und Kommunisten“, stellte er
fest. Auch wenn viele keine Nazis wa-
„Mein Leben als Halbchrist“
wäre sein favorisierter Titel, um
Absurdität der Nazis zu zeigen
Familienbild: Hermann Bradtmüller stand in der Nazi-Zeit zu seiner jüdischen Ehefrau Frieda und rettete ihr und seinem Sohn Hans dadurch das
Leben.
Foto: Sammlung Marion Bradtmüller
ren, konnten sie es nicht offen zeigen.
Zwischenzeitlich kam er in ein Arbeitslager in Thüringen, aus dem er
sich jedoch absetzen und dann wieder
bei Peschke anfangen konnte. Über die
Arbeit dort bewertete er im Rückblick
und vor allem im Vergleich zu den
Torturen, die „Leidensgenossen wie Zigeuner, andere Halbjuden oder auch
politisch Unzuverlässige in Arbeitslagern oder beim Straßenbau und in
Steinbrüchen zwangsweise erlitten“,
als „so ziemlich das Beste, was mir widerfahren konnte“.
Ab 1944 mussten sich Frieda Bradt-
müller und ihr erst 17-jähriger Sohn
dann doch verstecken. Sie fanden bei
der Familie Finke in Stemmer Unterschlupf. „Frieda Finke war die Mutter
von Günter, mit dem ich eng befreundet war“, schrieb Hans Bradtmüller als
82-Jähriger nieder. „Sein Vater war
Drucker bei der Firma J. C. C. Bruns,
Mindener Tageblatt, und wie alle seine
Arbeitskollegen ein überzeugter Sozialist.“ Der Vater des Freundes war als
Soldat aus Russland nicht zurückgekehrt. „Zu dieser Zeit war die Gewährung von Asyl in so einer kleinen Dorfgemeinschaft äußerst gefährlich“,
Mutmaßlich hätte Hans Bradtmüller sein Werk gern „Mein Leben als
Halbchrist“ genannt, um humorvoll
die Absurdität des NS-Begriffs „Halbjude“ vor Augen zu führen. Die Herausgeber wählten dagegen die Zeitspanne als Titel: „Zwölf Jahre“.
Möglich wurde die Publikation dank
der Zusammenarbeit der Tochter Marion Bradtmüller, die das Manuskript
und Fotos aus ihrem Fundus zur Verfügung stellte, der jungen Verlagsbuchhändlerin Martina Bergmann,
Wolfgang Battermanns vom Arbeitskreis Alte Synagoge Petershagen, des
gebürtigen Mindeners Wolfgang
Hempel und der Gesellschaft für
Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
Der Hamburger Historiker Prof. Dr.
Arno Herzig schrieb ein Nachwort.
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Hans Bradtmüller, Zwölf Jahre, Borgholzhausen 2015, Bergmann Verlag,
ISBN 978-3-945283-09-7, 222 Seiten,
12,90 Euro.