Referat Hennemann

„Welche jugendamtlichen und gerichtlichen Verfahren nach § 1666
BGB können als gelungen/misslungen bewertet werden?“
Referentin: Heike Hennemann, Richterin am Kammergericht
I. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist in Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB
mittlerweile faktisch die Rechtsbeschwerdeinstanz geworden. Dies hat seine Ursache darin,
dass die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof durch das Oberlandesgericht (in Berlin:
Kammergericht) zugelassen werden muss, § 70 Abs. 1 FamFG. Dies verlangt eine
Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung oder aber die Notwendigkeit der Fortbildung
des Rechts oder der Vereinheitlichung der Rechtsprechung. Verfahren nach § 1666 BGB
sind
regelmäßig
Einzelfallentscheidungen,
so
dass
die
Voraussetzungen
für
die
Rechtsbeschwerde nicht gegeben sind. Von Maßnahmen nach § 1666 BGB betroffene
Eltern können daher dann nur noch Verfassungsbeschwerde einlegen. Dies könnte auch das
Kind, wenn es beschwert ist. Aber es benötigt einen Vertreter, der seine Rechte wahrnimmt.
In 2014 hat das BVerfG in mehreren Entscheidungen die Herausnahme von Kindern
verfassungsrechtlich zu beurteilen gehabt, wobei das BVerfG allerdings im Wesentlichen die
bis dahin bekannten Grundsätze nochmals bestätigt hat.
1. Eine Herausnahme ist nur bei einer konkreten Kindeswohlgefährdung zulässig
(Hervorhebungen durch die Verfasserin).
BVerfG, Bs. v. 27.08.2014 – 1 BvR 1822/14, FamRZ 2014, 1772:
„II.1…b) Nach Art. 6 Abs. 3 GG dürfen Kinder gegen den Willen der Sorgeberechtigten nur von der
Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus
anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Dabei berechtigen nicht jedes Versagen oder jede
Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
zukommenden Wächteramts die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten
oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen (vgl. BVerfGE 24, 119 <144 f.>; 60, 79 <91>). Es
gehört nicht zur Ausübung des Wächteramts, gegen den Willen der Eltern für eine
bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Das elterliche Fehlverhalten
muss vielmehr ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der
Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist (vgl.
BVerfGE 60, 79 <91>). Ihren einfachrechtlichen Ausdruck hat diese Anforderung in § 1666 Abs.
1 BGB gefunden. Die Annahme einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes setzt voraus, dass
bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefahr gegenwärtig in einem solchen
Maße besteht, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit
ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats
2
vom 24. März 2014 - 1 BvR 160/14 -, juris, Rn. 28; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom
7. April 2014 - 1 BvR 3121/13 -, juris, Rn. 18; BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2004 - XII ZB
166/03 -, juris, Rn. 11).
c) Maßnahmen, die eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ermöglichen, dürfen zudem nur unter
strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen (vgl. BVerfGE 60, 79 <89>). Art
und Ausmaß des staatlichen Eingriffs müssen sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und
danach richten, was im Interesse der Kinder geboten ist. Der Staat ist daher gehalten, sein Ziel durch
helfende, unterstützende und auf (Wieder-)Herstellung eines verantwortlichen Elternverhaltens
gerichtete Maßnahmen zu erreichen (vgl. BVerfGE 24, 119 <145>; 60, 79 <93>)…“
2. Es besteht keine Bindung des Familiengerichts an die Einschätzung des Jugendamts.
Vielmehr muss das Familiengericht selbständig prüfen, ob weitere ambulante Maßnahmen in
Betracht kommen. Teilt das Jugendamt diese Auffassung nicht, kann das Familiengericht
dem Jugendamt derzeit aber keine Weisung erteilen.
BVerfG, Bs. v. 24.03.2014 – 1 BvR 160/14, JAmt 2014, 223:
„…(1) Der Staat muss darum, bevor er Kinder von ihren Eltern trennt, nach Möglichkeit versuchen,
durch
helfende,
unterstützende,
auf
Herstellung
oder
Wiederherstellung
eines
verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu
erreichen (vgl. BVerfGE 24, 119 <145>; 60, 79 <93>). In Übereinstimmung mit diesen
verfassungsrechtlichen Anforderungen erklärt § 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB Maßnahmen, mit denen
eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, nur dann für zulässig, wenn der
Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann…
Die hier maßgebliche Frage, ob der Gefahr für die Kinder nicht auf andere Weise als durch Trennung
von den Eltern, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (§ 1666a Abs. 1 Satz 1
BGB), betrifft eine verfassungsrechtlich zentrale Tatbestandsvoraussetzung und muss darum vom
Familiengericht von Amts wegen aufgeklärt werden. Ob öffentliche Hilfen erfolgversprechend sind,
muss das Familiengericht letztlich in eigener Verantwortung beurteilen, wozu es sich eine
zuverlässige Entscheidungsgrundlage verschaffen und diese in seiner Entscheidung auch
darlegen muss (vgl. BVerfGK 13, 119 <127 f.>). Die eigene Ermittlungspflicht trägt dazu bei, zu
verhindern, dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden, ohne dass die Voraussetzungen des Art. 6
Abs. 3 GG vorliegen und schützt damit Grundrechte der Eltern und des Kindes.
Weil die Ermittlungspflicht grundrechtliche Schutzfunktion entfaltet, können sich die Gerichte ihrer
nicht ohne gesetzliche Grundlage entledigen - auch nicht im Wege der Annahme einer Bindung an
Feststellungen des Jugendamts. Ob eine gesetzliche Bindung des Familiengerichts an die
Feststellungen und Wertungen des Jugendamts besteht, ist - ungeachtet der Frage der Vereinbarkeit
einer solchen Bindung mit dem Grundgesetz - zunächst eine Frage der Auslegung des einfachen
Rechts. Aus §§ 1666, 1666a BGB oder den Vorschriften des SGB VIII über die Gewährung
öffentlicher Hilfen ist für die Annahme einer Bindung des Familiengerichts an die Feststellungen des
Jugendamts nichts erkennbar…
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Heike Hennemann
3
Das Amtsgericht durfte die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen auch nicht deshalb als denkbares
milderes Mittel außer Betracht lassen, weil die Durchführung einer vom Jugendamt bereits
abgelehnten Hilfemaßnahme praktisch nicht durchsetzbar wäre. Zwar ist ungewiss, ob das
Familiengericht befugt ist, das Jugendamt zur Gewährung öffentlicher Hilfen zu verpflichten. Jedoch
können die Personensorgeberechtigten den Anspruch auf Hilfen nach §§ 27 ff. SGB VIII grundsätzlich
vor den Verwaltungsgerichten durchsetzen…“
3. Besondere Anforderungen gelten zudem bei der Herausnahme des Kindes im Wege der
einstweiligen Anordnung, was praktisch nur noch bei körperlichen Misshandlungen,
sexuellen
Missbrauch
Vernachlässigung
oder
möglich
gravierenden
ist.
Insbesondere
gesundheitsgefährdenden
bei
seelischer
Formen
Misshandlung
der
dürften
einstweiligen Anordnungen mit dem Ziel der Herausnahme des Kindes nur noch in
Ausnahmefällen möglich sein. Dies wird mit der nur summarischen Prüfung im einstweiligen
Anordnungsverfahren erklärt.
BVerfG, Bs. v. 07.04.2014 – 1 BvR 3121/13, FamRZ 2014, 907 = JAmt 2014, 406:
„…[23] Weil bereits der vorläufige Entzug des Sorgerechts einen erheblichen Eingriff in die
Grundrechte der Eltern und des Kindes darstellt und weil schon die vorläufige Herausnahme des
Kindes aus der Familie Tatsachen schaffen kann, welche später nicht ohne Weiteres rückgängig zu
machen sind, sind grundsätzlich auch bei einer Sorgerechtsentziehung im Eilverfahren hohe
Anforderungen an die Sachverhaltsermittlung zu stellen. Sie sind umso höher, je geringer der
möglicherweise eintretende Schaden des Kindes wiegt und in je größerer zeitlicher Ferne der zu
erwartende Schadenseintritt liegt. So fehlt es regelmäßig an der gebotenen Dringlichkeit einer
Maßnahme, wenn sich die drohenden Beeinträchtigungen erst über längere Zeiträume entwickeln und
sich die Gefährdungslage im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht derart verdichtet hat, dass ein
sofortiges Einschreiten geboten wäre.
[24] Ohne weitergehende Sachverhaltsaufklärung können die Gerichte angesichts besonderer
Schwere und zeitlicher Nähe der dem Kind drohenden Gefahr eine Trennung des Kindes von seinen
Eltern allerdings dann veranlassen, wenn die Gefahr wegen der Art der zu erwartenden Schädigung
des Kindes und der zeitlichen Nähe des zu erwartenden Schadenseintritts ein sofortiges Einschreiten
gebietet. Ein sofortiges Einschreiten aufgrund vorläufiger Ermittlungsergebnisse kommt im
Eilverfahren
etwa
bei
Hinweisen
auf
körperliche
Misshandlungen,
Missbrauch
oder
gravierende, gesundheitsgefährdende Formen der Vernachlässigung in Betracht....“
4. Selbst wenn festgestellt wird, dass eine Kindeswohlgefährdung iS von § 1666 BGB
vorliegt und eine Herausnahme zur Abwendung der Kindeswohlgefahr erforderlich ist, ist der
Entzug der Sorge (oder Teilbereiche der Sorge) und Übertragung auf einen Vormund (bzw.
Pfleger) nicht verhältnismäßig, wenn der Vormund/Pfleger eine Fremdunterbringung nicht
veranlasst und dies bereits bei der Entscheidung absehbar ist.
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Heike Hennemann
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BVerfG, Bs. v. 17.03.2014 – 1 BvR 2695/13, FamRZ 2014, 1177, JAmt 2014, 403:
„… [33] (aa) Die (teilweise) Entziehung und Übertragung des Sorgerechts ist zur Beseitigung der
Gefahr für ein Kind grundsätzlich nur dann geeignet, wenn der Ergänzungspfleger oder Vormund
mithilfe der übertragenen Teilbereiche des Sorgerechts konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der
Situation des Kindes einleiten, das heißt den als gefährlich definierten Zustand beenden oder
wenigstens zu dessen Beendigung beitragen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 12. März 1986 - IVb ZB
87/85 -, juris, Rn. 17 ff.; BayObLG, Beschluss vom 8. Dezember 1994 - 1Z BR 147/94 -, juris, Rn. 15
ff.). Hält das Familiengericht eine Fremdunterbringung für geeignet, die Situation des Kindes zu
verbessern, und bestellt es das Jugendamt für Teilbereiche des Sorgerechts zum Ergänzungspfleger,
kann es zwar üblicherweise darauf vertrauen, das Jugendamt werde zeitnah zu einem
entsprechenden Gebrauch des Sorgerechts bereit und in der Lage sein. Eine genauere
Eignungsprüfung ist jedoch dann veranlasst, wenn deutlich erkennbar ist, dass das Jugendamt derzeit
keine
Maßnahmen
zur
Beseitigung
der
Kindeswohlgefahr
ergreift
-
sei
es,
weil
keine
Handlungsmöglichkeit besteht, sei es, weil das Jugendamt denkbare Maßnahmen nicht für angezeigt
hält (vgl. BayObLG, Beschluss vom 8. Dezember 1994 - 1Z BR 147/94 -, juris, Rn. 16 f.)…“
5. Bei jeder Herausnahme stellt sich zudem die Frage, ob und wie eine Rückkehr des Kindes
zu den leiblichen Eltern möglich ist. Das BVerfG betont nach wie vor die Bedeutung der
Rückkehroption, die insbesondere dann zu wahren ist, wenn die Einschränkungen in der
Erziehungsfähigkeit, die zur Herausnahme geführt haben, mittelweile entfallen sind.
a. BVerfG, Bs. v. 14.06.2014 – 1 BvR 725/14, JAmt 2014, 419:
„…II. 1. b)… [19] Begehren Eltern - wie hier - die Rückführung ihres bereits fremduntergebrachten
Kindes, kann eine solche Gefahr für das Kind gerade aus der Rückführung resultieren. In einem
solchen Fall ist es verfassungsrechtlich geboten, bei der Kindeswohlprüfung nach § 1666 BGB die
Tragweite einer Trennung des Kindes von seiner bisherigen Bezugsperson einzubeziehen und die
Erziehungsfähigkeit der Ursprungsfamilie auch im Hinblick auf ihre Eignung zu berücksichtigen, die
negativen Folgen einer eventuellen Traumatisierung der Kinder gering zu halten (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 22. August 2000 - 1 BvR 2006/98 -, FamRZ 2000,
S. 1489). Das Kindeswohl gebietet es, die neuen gewachsenen Bindungen des Kindes zu
seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen und das Kind aus seiner neuen Obhut nur
herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des
Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung
der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der
1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2014 - 1 BvR 2882/13 -, juris, Rn. 31). Allerdings
macht es einen Unterschied, ob das Kind bei Pflegeeltern, oder aber - wie hier - in einem
Waisenhaus untergebracht ist. Lebt ein Kind in einem Waisenhaus, entstehen zum einen an die
dortigen Bezugspersonen regelmäßig geringere Bindungen als an Pflegeeltern. Zum anderen
wird das Kind nicht langfristig in dem Waisenhaus leben, so dass ein Wechsel der
Betreuungspersonen und des Betreuungsumfelds ohnehin bevorsteht (vgl. BVerfGE 72, 122
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Heike Hennemann
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<141>). Bei dieser Sachlage kommt dem Bindungsabbruch grundsätzlich geringere Bedeutung
zu als bei der Rückführung aus einer Pflegefamilie.
[20] c)… Die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes schlagen sich insbesondere in
einer Verpflichtung nieder, Maßnahmen zu ergreifen, mit denen ein Zueinanderfinden von Kind und
Eltern gelingen kann. Stets ist zu fragen, ob sich die Kindeswohlgefahren durch eine behutsame,
insbesondere zeitlich gestreckte, Rückkehr ausräumen lassen. Sind die Eltern nicht ohne Weiteres in
der Lage, den erzieherischen Herausforderungen gerecht zu werden, vor die sie im Fall der - sei es
auch zeitlich gestreckten - Rückkehr eines über längere Zeit fremduntergebrachten Kindes gestellt
sind, sind sie hierbei durch öffentliche Hilfen zu unterstützen (§ 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB; vgl.
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. Mai 2014 - 1 BvR 2882/13 -, juris, Rn.
35, m.w.N.). Dies gilt erst recht, wenn nicht die Rückkehr aus einer Pflegefamilie, sondern - wie hier aus einem Waisenhaus in Rede steht. In einer solchen Situation steht dem Kind ohnehin ein weiterer
Wechsel der Bezugsperson bevor, so dass die Rückkehr zu den Eltern in dieser Hinsicht keine
Mehrbelastung des Kindes bedeutet. Zudem stehen einander in einer solchen Situation nur die
Grundrechtspositionen der Eltern und des Kindes gegenüber (vgl. Beschluss der 2. Kammer des
Ersten Senats vom 31. März 2010 - 1 BvR 2910/09 -, juris, Rn. 25; Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 23. August 2006 - 1 BvR 476/04 -, juris, Rn. 23), nicht aber die von Pflegeeltern.
Hier gilt daher umso mehr, dass vorrangig versucht werden muss, den Schutz des Kindes durch
helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten
Verhaltens der leiblichen Eltern gerichtete Maßnahmen zu erreichen (vgl. BVerfGE 24, 119 <145>)
und eine behutsame Rückführung zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB
68/11 -, juris, Rn. 29)…“
b. BVerfG, Bs. v. 22.05.2014 – 1 BvR 2882/13, FamRZ 2014, 1266 = JAmt 2014, 410:
„…[34] An die Verhältnismäßigkeit der Aufrechterhaltung der Trennung sind besonders strenge
Anforderungen zu stellen, wenn die Voraussetzungen des § 1666 Abs. 1 Satz 1 BGB bei der
Wegnahme des Kindes nicht vorlagen (vgl. BVerfGE 68, 176 <189>). Strengere Anforderungen
gelten auch dann, wenn die ursprünglich durch § 1666 BGB begründete Trennung des Kindes
von seinen Eltern nicht auf einer missbräuchlichen Ausübung der elterlichen Sorge, sondern
auf einem unverschuldeten Elternversagen beruhte (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2014
- XII ZB 68/11 -, juris, Rn. 22). Die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verschärfen
sich auch dann, wenn die Eltern (mittlerweile) grundsätzlich als erziehungsgeeignet anzusehen sind
und den Kindern in deren Haushalt für sich genommen keine nachhaltige Gefahr droht, sondern die
Kindeswohlgefährdung gerade aus den spezifischen Belastungen einer Rückführung resultiert.
[35] (2) Diese strengeren Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes schlagen sich
insbesondere in einer erhöhten Verpflichtung der beteiligten Behörden und Gerichte nieder,
Maßnahmen in Betracht zu ziehen, mit denen ein Zueinanderfinden von Kind und Eltern
gelingen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 68/11 -, juris, Rn. 29). Stets ist zu
fragen, ob sich die Kindeswohlgefahren durch eine behutsame, insbesondere zeitlich gestreckte,
Rückkehr reduzieren lassen. Sind die Eltern nicht ohne Weiteres in der Lage, den erzieherischen
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Herausforderungen gerecht zu werden, vor die sie im Fall der - sei es auch zeitlich gestreckten Rückkehr eines über längere Zeit fremduntergebrachten Kindes gestellt sind, sind sie hierbei in
besonderem Maße durch öffentliche Hilfen zu unterstützen (§ 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB). Die
Verpflichtung des Staates, die Eltern bei der Rückkehr ihrer Kinder durch öffentliche Hilfen zu
unterstützen, kann in einer solchen Konstellation nach Art und Maß über das hinausgehen, was der
Staat üblicherweise zu leisten verpflichtet ist…“
In Kindschaftssachen gewinnt zudem zunehmend der Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte an Bedeutung. In diesen Verfahren sind die Kinder verfahrensrechtlich aber
nicht vertreten und die Verfahren daher sehr elternzentriert. Zu den Auswirkungen vgl.
(dieselbe Familie betreffend): EGMR, Urt. v. 15.01.2015 - 62198/11 (Verhängung von
Ordnungsmitteln bei Umgangsverweigerung) und BVerfG, Bs. v. 25.04.2015 – 1 BvR
3326/14 (Ausschluss des Umgangs bei Weigerung des Kindes nicht zu beanstanden).
II. Daraus folgt für die Praxis und die Zusammenarbeit Familiengericht/Jugendamt:
1. Körperliche Gewalt
Aufgrund der massiven Kindeswohlgefahr muss unverzüglich gehandelt werden. Probleme
bestehen hier im Erkennen der Gefahr und im Umgang mit den Eltern. Mit der
Gewaltschutzambulanz bei der Charité ist die Möglichkeit der Feststellung von Gewalt gegen
Kinder geschaffen. Kinderärzte stehen allerdings häufig noch im Lager der Eltern.
Schwierigkeiten gibt es weiterhin bei der Abwägung, ob das Kindeswohl eine dauernde
Trennung verlangt oder ob das Kind unter welchen Bedingungen zu den Eltern zurückkehren
kann. Je kleiner das Kind und je gravierender die Verletzungen, umso restriktiver sollte eine
mögliche Rückkehr erwogen werden. Die körperliche Unversehrtheit des Kindes sollte
absoluten Vorrang haben.
Erläuterung am Fallbeispiel Kammergericht, Bs. v. 02.07.2013 - 13 UF 156/13, nicht
veröffentlicht (n.v.).
2. Sexueller Missbrauch
Hier bestehen noch größere Schwierigkeiten im Bereich der Tatsachenfeststellung. Es fehlt
eine zentrale Clearingstelle. Selbst wenn ein Kind sich äußern kann, bestehen häufig durch
die Vielzahl der Befragungen und die Art der Befragungen (Suggestivbefragung durch einen
Elternteil, regelmäßig die Mutter) Zweifel am Tathergang. Selbst wenn ein sexueller
Missbrauch feststeht, ist damit immer noch nicht geklärt, wer der Täter ist. Zudem bedarf es
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dann noch Feststellungen, ob die Eltern oder ein Elternteil das Kind zukünftig hinreichend
vor einem erneuten Missbrauch schützen kann.
3. Gesundheitsgefährdende Vernachlässigung
Im Regelfall sind hier Sofortmaßnahmen angezeigt, da eine konkrete Gefahr für das leibliche
Wohl besteht. Dies wird regelmäßig nur die Herausnahme des Kindes sein. Schwierigkeiten
bereitet auch hier die Einschätzung, ob eine Veränderungsbereitschaft und –fähigkeit der
Eltern besteht. Maßgeblich wird dafür sein, die Ursache des Versagens der Eltern zu klären
(psychische Erkrankung, Suchterkrankung, Überforderung, konkrete Ausnahmesituation).
Bei getrennt lebenden Elternteilen stellt sich bei einem Wechsel in den Haushalt des
anderen Elternteils auch die Frage, wieso dieser bislang seiner Verantwortung gegenüber
dem Kind nicht nachgekommen ist. Dies hat Einfluss auf die Beurteilung der
Erziehungsfähigkeit.
4. Psychische Misshandlung
Die Mehrheit der Fälle fällt nach Einschätzung der Referentin (aus der Sicht der
Beschwerdeinstanz) in den Bereich der seelischen (psychischen) Misshandlung. Die
Unfähigkeit der Eltern zur Erziehung oder ihre nur sehr eingeschränkte Erziehungsfähigkeit
führt beispielsweise zur emotionalen/sozialen Vernachlässigung, unzureichenden Förderung,
Verhaltensauffälligkeiten und/oder Schulschwierigkeiten des Kindes.
Hier gibt es folgende Probleme:
a. Wann ist § 1666 BGB gegeben?
Wann die Grenze zu § 1666 BGB erreicht ist, wird sich nie abstrakt fassen lassen.
Sprachentwicklungsstörungen, unordentlicher Haushalt und hoher Medienkonsum alleine
sind beispielsweise nicht ausreichend.
b. Bedeutung der Sprache
Immer wieder entsteht der Eindruck, die Eltern verstehen uns (= fachlich Beteiligte
einschließlich Richter/Richterinnen) nicht. Wissen sie was Familienhilfe ist? Kann man von
Eltern verlangen, dass sie in der Lage sind, Änderungsbedarf in ihrer Erziehung zu
formulieren? Müssen im Bereich der Hilfeplanung nicht eher strikte Vorgaben an die Eltern
weitergegeben werden (z.B. wie viele Stunden Medienkonsum, welche Computerspiele)?
Aus einer fehlenden bzw. fehlerhaften Kommunikation kann sich zu Lasten des Kindes eine
fatale Situation ergeben, wenn dies zu einer Fremdunterbringung der Kindes führt, die sich
nach Einholung eines Gutachtens nicht aufrechterhalten lässt, und eine Rückführung des
Kindes wegen der fehlenden Kommunikation und der restriktiven Handhabe des Umgangs
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mit den Eltern mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. Fachkräfte müssen zudem auf
die Eltern zu gehen, es kann nicht erwartet werden, dass beispielsweise die Eltern sich an
den Vormund zwecks persönlicher Kontaktaufnahme wenden, diese ansonsten aber
unterbleibt.
Fallbeispiel: KG, Bs. v. 30.12.2012 - 13 UF 295/11, n.v.
c. Gutachten
Gutachten werden in Fälle des § 1666 BGB häufig eingeholt, wenn die Trennung der Kinder
von den Eltern bereits stattgefunden hat. Psychisch labile Eltern geraten dadurch nicht selten
in eine depressive Episode, was bei der Gutachtenerstellung regelmäßig nicht hinreichend
Berücksichtigung findet. Möglicherweise wäre die Einschätzung der Erziehungsfähigkeit
anders ausgefallen, wenn die Begutachtung erst begonnen worden wäre, wenn die
depressive Episode abgeklungen ist.
Generell ist festzustellen, dass die Qualität der Gutachten in Fällen des § 1666 BGB des
Öfteren zu wünschen übrig lässt. Insbesondere die ganz anderen Anforderungen an eine
Fragestellung nach § 1666 BGB – auch zur Verhältnismäßigkeit – wird nicht immer gesehen,
sondern das Gutachten hat eher den Charakter einer Empfehlung nach § 1671 Abs. 1 BGB.
d. Transparenz des Handelns
Wichtig ist, dass das Verhalten im Verfahren transparent bleibt. Wenn im laufenden
Gerichtsverfahren nach einer § 8a SGB VIII Anzeige in Anhörungsterminen die Situation
zwar als besorgniserregend eingeschätzt, aber keine akute Kindeswohlgefahr bejaht wird
(mittelfristige Kindeswohlgefahr), dann führt der plötzlich Sinneswandel der Einschätzung der
Lage durch die Fachkräfte verbunden mit einer Herausnahme des Kindes zu einer
Eskalation, die die Zusammenarbeit mit den Eltern gefährdet und seitens des Gerichts
schwer erklärt werden kann.
Auch bei der Erstellung eines „Fahrplans“ für das weiteres Vorgehen in einer mündlichen
Anhörung vor Gericht ist vom Jugendamt zu erwarten, dass hierzu klar Stellung bezogen
wird und nicht nach der Anhörung durch neue nicht angekündigte Maßnahmen –
beispielsweise Verlegung des Kindes – alles in Frage gestellt wird.
e. Zeitpunkt der Anzeige der Kindeswohlgefahr
Grundsätzlich
kann
–
wenn
möglicherweise
auch
aus
der
Perspektive
des
Beschwerdegerichts der Überblick fehlt – hier eine deutliche Verbesserung der frühzeitigen
Information
des
Familiengerichts
Verhaltensauffälligkeiten
in
der
festgestellt
Schule
eine
werden.
Allerdings
Verbesserung
der
ist
gerade
bei
Kommunikation
wünschenswert. Schuldistanz muss frühzeitig begegnet werden. Hier dauert es manchmal zu
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lange, bis Anzeigen erfolgen. Zudem muss nach Anordnung von Maßnahmen eine
engmaschigere Kontrolle stattfinden. Soweit das Jugendamt Erkenntnisse von Dritten erhält,
sind diese in laufenden Verfahren möglichst auch dem Gericht mitzuteilen, wobei formlose
Mitteilungen wie „Wieder unregelmäßiger Schulbesuch“ oder in anderen Fällen „Kind
besucht seit dem … nicht mehr die Kita“ ausreichen. Mitteilungen auf elektronischem Weg
sollten erwogen werden, ggf. sind hierfür die erforderlichen Sicherheitsstandards seitens
Dritter zu schaffen.
Gerade bei Verhaltensauffälligkeiten in der Schule, die den Besuch der Regelschule
gefährden, ist es aber auch weiterhin ein großes Problem eine geeignete Maßnahme zu
finden. Es fehlen häufig geeignete Schulprojekte. Unterricht von zwei Stunden an drei Tagen
kann nicht die Lösung sein, wenn Kinder intellektuell durchaus gefördert werden können.
Die Kooperation von Jugendamt – Schule – Familiengericht ist noch verbesserungswürdig.
f. Verfahrensbeschleunigung/Verfahrensverzögerung
Wenn aus § 1671 Abs. 1 Nr. 2 BGB (Antrag auf Alleinsorge eines Elternteils) ein Verfahren
nach § 1666 BGB wird (§ 1671 Abs. 4 BGB), dann kann ein zu zögerliches Verhalten des
Gerichts einen maßgeblichen Anteil an der für das Kind negativen Entwicklung haben. Dies
betrifft insbesondere Fälle, wo zwar beide Eltern für sich (eingeschränkt) erziehungsgeeignet
sind, ihr Agieren gegeneinander aber zur (akuten) Kindeswohlgefährdung führt. Hier besteht
die Gefahr zu verkennen, wann die Eskalation eintritt, und damit den Zeitpunkt des
notwendigen Eingreifens zu verpassen. Es reicht nicht aus, darauf zu vertrauen, dass die
Eltern eine Lösung finden – Stichwort Beratung. Hier ist eine stringente Kontrolle durch das
Gericht erforderlich, was aber auch immer unverzügliche Information über die Entwicklung
verlangt, insbesondere bei einer Eskalation. Ist im Beschwerdeverfahren ein Verfahren nach
§ 1671 BGB anhängig, ist dieses grundsätzlich auch für ein Verfahren nach § 1666 BGB
zuständig, § 1671 Abs. 4 BGB. Ein gesondertes Verfahren beim Amtsgericht ist dann
unbedingt zu vermeiden.
Fallbeispiel: KG, Bs. v. 08.04.2014 - 13 UF 108/12, n.v.
g. Fremdunterbringung als vorübergehender Ort der Ruhe für das Kind?
Dies ist eine Idee, die gerne von Verfahrensbeiständen/Psychologen eingebracht wird. Es ist
aber keine Option und wird im Regelfall keinen Bestand haben können. Das Kind kann ohne
eine Lösung/Entscheidung des Elternkonflikts nicht zur Ruhe kommen. Zudem zahlt das
Kind hierfür einen zu hohen Preis, denn es verliert regelmäßig neben dem abwesenden
Elternteil noch den anderen Elternteil, und gerade bei älteren Kindern (ab 10/11 Jahre) kann
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dies dazu führen, dass die Kinder, wenn diese die Fremdunterbringung ablehnen, „verloren
gehen“.
h. Das mildeste Mittel - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Vor Herausnahme der Kinder müssen alle ambulanten Maßnahmen ausgeschöpft sein. Es
gibt mehr als Familienhilfe, aber wer kennt alle Angebote, wer weiß was für den konkreten
Fall alles geeignet sein könnte? Hier könnte man durch eine zentrale Zusammenstellung von
ambulanten Hilfemaßnahmen Abhilfe schaffen.
Es gibt zudem zu wenige geeignete teilstationäre Maßnahmen – gerade für ältere Eltern mit
psychischen Problemen wie auch ältere Eltern, die erstmals ein Kind bekommen – bzw.
teilstationäre
Maßnahmen
für
Kinder
mit
geeigneten
Schulprojekten.
Fallbeispiel für einen gelungenen Kinderschutzfall mit teilstationärer Maßnahme: KG, Bs. v.
15.07.2014 - 13 UF 124/13, n.v.
III. Abschluss
Erfolgt eine Herausnahme, dann verlangt das BVerfG die Wahrung der Rückkehroption. Dies
wird zunehmend kritisiert und eine Verletzung des Rechts des Kindes zugunsten des
Elternrechts gerügt, da vom Kind verlangt werde, Bindungen, insbesondere zur
Pflegefamilie,
aufzugeben.
Die
hohen
Anforderungen
an
eine
dauerhafte
Fremdunterbringung haben aber ihre Berechtigung. Insbesondere wenn Eltern ihre
Erziehungsfähigkeit wiedererlangt haben, gilt es sehr sorgfältig zu prüfen, ob eine
Rückführung wirklich ausgeschlossen ist. Dies bedarf regelmäßig der Unterstützung der
Eltern und der Pflegeeltern. Wird diesen diese Unterstützung, die durchaus das Ziel der
Rückführung hat, versagt, dann wird nicht nur das Elternrecht, sondern auch das Recht des
Kindes auf ein Aufwachsen in seiner Herkunftsfamilie verletzt.
Fallbeispiel: KG, Bs. v. 28.08.2007 – 13 UF 28/07, FamRZ 2008, 810.
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