Leseprobe - palma publishing berlin

Janet Uyar
Warte, bis die Granatapfelbäume blühen
Roman
1
Einige Namen und Orte wurden aus Gründen des Schutzes des
Persönlichkeitsrechtes geändert und sind frei erfunden.
Alle Rechte vorbehalten.
© Palma Publishing Berlin (2015)
www.palma-publishing.berlin
ISBN _ 978-3-945923-09-2
Layout und Satz _ Markus Hauser (Berlin)
Cover _ Markus Hauser (Berlin)
Fotos _ aus dem privaten Archiv der Autorin
2
Bist du Freund oder Feind,
Mutter oder Vater,
Schwester, Bruder, wer?
Quälst mich, knebelst mich,
erhitzt mich in der Nacht,
denkst laut, lachst, urteilst über mich
raubst mir den Schlaf,
die Ruhe, die Gelassenheit
ein paar Nächte nur,
schlafe ich durch
in trügerischem Glauben
jetzt endlich bin ich angekommen
aber ach, nun kommst du noch erbitterter,
vehementer, drangsalierst mich, du Monster
was willst du, wohin soll ich gehen
ankommen bei mir, bei meinen Ureigenen,
du musst deinen eigenen Weg gehen, sagst du
Herz wird weich, die Seele entrückt,
aber wo ist der Weg, mein Weg,
vergessen, verdrängt, verloren, tief begraben,
da ein Schatten, ein Umriss sichtbar,
graben, schreiben, finden, erlösen
Johanna in einer heißen Augustnacht
3
Prolog
Spurensuche in Yayladağ. 35 Jahre nach seinem Tod stand ich zum
ersten Mal am Grab meines Vaters auf dem Friedhof der Kirche
Mar Elias. Mutter hatte ihr Schweigen mir gegenüber gebrochen
und sich bereit erklärt, mit mir diese Reise in die Vergangenheit
zu unternehmen. Die Reise hatte ich mir zu meinem 40. Geburtstag gewünscht.
Ein warmer Frühlingswind spielte mit meinem Haar, die Luft
war erfüllt vom Duft der Orangenblüten. Eine Libanon-Zypresse
begrenzte majestätisch die Nordseite des Friedhofs. Sie strahlte
eine traurige Ruhe aus. Ich legte die Granatapfelzweige mit den
knallig orangefarbenen Blüten, die ich im armenischen Dorf Vakif
gepflückt hatte, auf sein Grab und setze mich an dessen Rand. Von
hier aus hatte man eine gute Sicht auf das Mittelmeer, es glitzerte
unweit von Yayladağ. Meine Gedanken schweiften ab, mein Blick
suchte den großen Platz vor der Kirche Mar Elias, wo Vater Mutter
geheiratet hatte. Unwillkürlich musste ich an meine eigene Hochzeit denken und wie alles begann...
4
Kismet
Alles war so schnell gegangen. Tante Dahiba, eine Großcousine
meines Vaters, die in Frankfurt lebte, stellte den Kontakt her. Es
war im Herbst 1979. An einem Sonntagmorgen rief sie meine Mutter an. „Ich habe einen Mann für deine Tochter“, schrie sie aufgeregt in den Hörer, noch bevor beide die üblichen Höflichkeiten
austauschen konnten.
„So eilig habe ich es nicht, meine Tochter zu verheiraten.“
Mutter versuchte, neutral zu klingen. „Sie ist gerade erst achtzehn
geworden!“
„Ja eben, du weißt, was die Leute reden, wenn du sie zu spät
verheiratest!“ Mutter wusste das genau. „Turşu mu kuracaksin?“,
fragt man höhnisch im Türkischen, was so viel bedeutet wie,
„willst du eingelegtes Essiggemüse aus ihr machen?“
„Kennst du seine Eltern?“, fragte Mutter um Fassung ringend.
„Ja, natürlich, es ist die Familie Zili. Er heißt Daniel. Seine Familie ist christlich und kommt auch aus Yayladağ. Sie haben ihr
ganzes Vermögen ausgegeben, damit der Junge als Asylant nach
Deutschland einreisen konnte. Der Anwalt sagt, er kann nur bleiben, wenn er heiratet.“
„Und meine Tochter soll ihm dabei behilflich sein?“, fragte
meine Mutter.
„Ja, meine Tochter ist noch zu jung, um zu heiraten, sie ist erst
siebzehn!“, antwortete Tante Dahiba wie zu ihrer Verteidigung.
Mutter überlegte. Seit kurzem machte sie sich Sorgen um mich.
Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich mich wieder mit Kerim, einem
5
muslimischen Jungen treffen könnte, wenn sie mich nicht bald
verheiratete.
„Ja, was ist denn jetzt? Seine Familie will nächste Woche kommen!“ Tante Dahiba drängte. Sie hatte immer Angst wegen der
Telefonkosten. Jeden ersten Sonntag im Monat rief sie an. Das
Gespräch dauerte meist nicht länger als eine Minute und lief im
Telegrammstil ab: „Merhaba, Cousine Amira, wie geht es dir? Wie
geht es deinen Kindern? Mir geht es gut, meinen Kindern auch.
Hast du etwas aus der Heimat gehört?“ (Diese Frage durfte auf
keinen Fall fehlen und wenn es etwas Neues gab, dann dauerte
das Telefonat etwa drei Minuten). „Dann ist alles gut. Grüß alle
von mir, bis bald.“
Die Heimat der beiden war Yayladağ, ein Dorf in der Türkei,
nahe der syrischen Grenze, das von einer arabisch-christlich
geprägten Minderheit bewohnt und von der Kreisverwaltung
schlicht, da ihnen nichts Besseres einfiel, „Die Christen auf den
Olivenhainen“ genannt wurde.
Als das Gespräch mit Tante Dahiba länger als eine Minute
andauerte, folgte ich Mutter ins Schlafzimmer, in das sie sich
zurückgezogen hatte. Fast zwei Minuten telefonierten sie nun
schon miteinander, zwei Minuten, die über den Verlauf eines
Lebens entscheiden sollten, meines Lebens.
„Was, nächste Woche schon?“, hörte ich Mutter aufgeregt
fragen.
Dann legte sie auf.
„Was denkt sie bloß, diese blöde Kuh, dass meine Tochter sitzen
bleibt?“
Sie hatte nicht bemerkt, dass ich in der Tür stand.
„Was wollte Tante Dahiba?“, fragte ich. „Das Gespräch hat sie
heute ganze zwanzig Pfennig gekostet!“ Normalerweise konnte
Mutter immer über diesen Scherz lachen.
6
„Willst du heiraten?“, fragte sie mich so, als ob ich etwas essen
wollte. Heiraten? Ich wollte mehr Freiheiten genießen: Ausgehen,
ohne die Begleitung meines jüngeren Bruders. Ich wollte einen
Freund haben, ohne als Hure abgestempelt zu werden.
„Ich kann’s nicht fassen“, schnaubte Mutter, „sie denkt tatsächlich, du bleibst sitzen, wenn ich dich nicht bald verheirate.“
Ich hatte ihr unlängst verraten, dass ich einen deutschen
Freund haben wollte.
„Das sind doch auch Christen, die Deutschen“, sagte ich, um sie
zu provozieren.
„Die sind anders als wir“, antwortete sie erbost, „deutsche
Leute haben mehr Angst vor der Polizei als vor Gott!“
Für Mutter waren „die deutschen Leute“ keine Christen, sondern eben Deutsche. Sie kannten keine Moral. Wer weiß, was ein
Deutscher mit ihrer Tochter anstellen würde? Unsere Nachbarin
Helga, die ich Tante Helga nannte, weil man bei uns Ältere nicht
mit dem Namen ansprechen darf, diente ihr als abschreckendes
Beispiel.
„Guck dir Tante Helga an, der Mann hat sie mit zwei Kindern
sitzen lassen. Und jetzt? Jetzt lebt sie allein mit ihnen. Und als ob
das noch nicht genug wäre, hat sie auch noch einen Geliebten, der
bei ihr ein und aus geht.“
Dass Helga ihren Mann verlassen hatte und nicht umgekehrt,
behielt ich lieber für mich.
„Nein“, sagte Mutter bestimmt, „ich gebe dich lieber einem aus
der Heimat, da weiß man wenigstens, was auf einen zukommt!“
„Ich bin keine Ware, die man geben kann“, konterte ich und
dehnte bewusst das Wort ‚geben’. Mutter verdrehte die Augen und
holte tief Luft, um etwas zu sagen.
„Und wenn ich mir meinen Mann selbst aussuche?“, kam ich
ihr zuvor.
7
„Du bist verrückt“, warf meine Mutter entsetzt ein. „Du bist
viel zu jung und naiv, um den richtigen Mann zu finden!“
„Ach ja, aber fürs Heiraten bin ich nicht zu jung! Du hast dir
doch Papa auch selbst ausgesucht!“
„Das ist etwas anderes, wir lebten in einem kleinen Dorf, da
kannte jeder jeden.“
„Wo habt ihr euch kennengelernt?“, fragte ich.
„In der Kirchengemeinde.“
„Und warum darf ich nicht in die Kirche zum Volleyballspielen?“
„Das sind Mamonen, wir kennen diese Religion nicht.“
„Mormonen“, verbesserte ich. „Die dürfen auch keinen Sex vor
der Ehe haben.“
„Du sollst dieses Wort nicht benutzen!“
„Ja, gut. Warum darf ich nicht alleine zum Volleyball, aber
mein kleiner Bruder alleine zum Fußball?“, bohrte ich weiter.
„Gott, das habe ich dir schon tausend Mal gesagt, er ist ein
Junge!“, rief sie entnervt.
„Bin ich kein Mensch? Nur weil ich ein Mädchen bin und Brüste und eine Sch...?“ Weiter kam ich nicht, Mutters Hand erwischte meinen Mund, noch bevor ich mich ducken konnte. Die Ohrfeige tat nicht weh, Mutter konnte einem nicht wehtun, aber ich
erschrak.
„Das hat sie tatsächlich gesagt, das Wort, du weißt schon, das für
da unten und ich habe sie auf den Mund geschlagen, zum ersten
Mal habe ich Johanna geschlagen! Das hat sie bestimmt von ihren
deutschen Freundinnen!“, hörte ich sie später bei ihrer besten
Freundin Elena klagen.
Dabei waren meine deutschen Freundinnen keineswegs
schuld daran. Von Vera und Gerlinde, Tante Helgas Töchtern, lieh
8
ich mir die Bravo, die meist vier Wochen alt war. Früher rückten sie die Zeitschrift nicht heraus, außer ich übernahm ihren
wöchentlichen Spüldienst - den sie von Tante Helga als einzige
Aufgabe auferlegt bekamen - gegen eine zwei Wochen alte Bravo!
Manchmal fischte ich mit einer Pinzette eine Münze aus dem flachen, grünen Plastikelefanten, den Mutter unter ihrer Matratze
versteckte. Dann kaufte ich mir die neuste Bravo und verbarg sie
unter meinem Bett.
„Kennst du seine Familie?“, fragte ich Mutter. Ich kannte ohnehin
all die Leute nicht, von denen Mutter sprach.
„Er hat einen guten Beruf, er ist Mechaniker.“
„Wie? Er hat nicht studiert?“, fragte ich scherzhaft.
Mutter wünschte sich Männer mit Hochschulabschluss für
mich und Marie, meine jüngere Schwester.
„Nein“, sagte sie, meine Spöttelei ignorierend. Sie erzählte, dass
er aus Glaubensgründen Asyl in Deutschland suchte. Die Anwälte sahen aber keine Chance für die Antragsbewilligung, weshalb
man ihm riet zu heiraten, um in Deutschland bleiben zu können.
Während Mutter erzählte, träumte ich davon, zu heiraten und von
Duisburg wegzuziehen, endlich frei zu sein, meine eigene Wohnung zu haben, endlich das zu tun, was uns Mädchen verboten
war. Wen ich heiratete, war in diesem Moment unwichtig.
„Die Eltern sind sehr anständige Leute“, hörte ich Mutter sagen. „Ich kenne seinen Vater, mit ihm war ich bei der Baumwollernte in Adana.“
„Wie alt warst du da?“
„Acht“, antwortete sie und zündete sich eine Zigarette an.
„Du kriegst Lungenkrebs“, fuhr ich sie an. Seit mein Bruder
Jakob vor einem Jahr gestorben war, rauchte Mutter wie ein
Schlot.
9
„Ich mache keine Lungenzüge“, sie blies den Rauch übertrieben lange aus. „Der Junge trinkt nicht, verspielt sein Geld nicht
und in seiner Familie prügelt keiner seine Frau.“ Für meine Mutter waren das wichtige Kriterien.
Eine Woche später kam die ganze Sippe samt Daniels Cousinen
und Cousins mit ihren jeweiligen Verwandten zur Brautschau.
Aus dem Fenster beobachtete ich meinen zukünftigen Ehemann,
der sich am Außenspiegel eines Mercedes sein schwarz glänzendes Haar kämmte. Er war ungefähr einen Meter siebzig groß,
schlank und sah gut aus. Als er mich begrüßte, kam er ganz nah
an mich heran und musterte mich. Besonders meine Größe. „Es
passt“, konnte ich an seinem zufriedenen Lächeln ablesen, er war
ungefähr fünf Zentimeter größer als ich.
Als alle saßen und meine Schwester den Kaffee servierte, weil
mir die Hände zitterten, erzählte mein vorlauter jüngerer Bruder
Noah, dass ich Taekwondo trainierte. Er wollte wohl meinen zukünftigen Mann warnen. Er selbst litt unter mir. Wenn er nicht
parierte, bekam er das zu spüren. Er wäre mich gerne bald losgeworden. Augenblicklich wurde ihm aber bewusst, dass er mit dieser Bemerkung den Bräutigam womöglich vergraulte und guckte mich ängstlich an. Mit den Augen schoss ich Pfeile voller Gift
nach ihm. „Taekwondo bedeutet Selbstverteidigung, man schlägt
nur zurück, wenn man angegriffen wird“, sagte er verschüchtert.
„Eine ganz friedliche Sportart also“, fügte er zaghaft hinzu.
Zwei Dinge hatte ich mir von Mutter erkämpft: Den Führerschein mit „Du brauchst dann nicht mehr die Einkäufe nach Hause
zu schleppen, ich kutschiere dich überall hin“ und Taekwondo mit
den Worten, „es dient zur Verteidigung meiner Ehre“. Das hatte
sie überzeugt.
10
Beim Abschied, als alle schon vorausgegangen waren, blieb
Tante Dahiba auf der Treppe zurück und fragte mich, ob mir
Daniel gefallen habe. Und ich antwortete unbedacht mit „ja“.
Meine Mutter schimpfte später mit mir. „Man sagt doch nicht
sofort ja, die werden denken, wir hätten nur auf sie gewartet.“
„Was hätte ich denn sagen sollen?“, fragte ich ratlos.
„Ich will es mir überlegen, so antwortet ein gut erzogenes
Mädchen!“
„Und warum hast du mich nicht gut erzogen? Woher soll ich
das denn wissen?!“ Ich knallte die Tür vom Kinderzimmer hinter
mir zu.
„Warum willst du einen Mann heiraten, den du nicht kennst?“,
fragte meine Schwester Marie. „Ich will hier weg, siehst du nicht,
dass wir wie Gefangene gehalten werden? Für uns Mädchen ist
doch Heiraten der einzige Weg, um keine Schande über Mutter zu
bringen.“
„Mutter macht sich halt Sorgen, sie ist allein“, mischte sich
Noah ein.
„Du kannst ihn heiraten, aber mach bloß keine Kinder“, riet
mir Marie. Ich verstand nicht. „Du heiratest ihn und dann lässt du
dich wieder scheiden, dann ist wenigstens der Ruf gewahrt, dass
du als Jungfrau in die Ehe gegangen bist. Danach kannst du mit
dem Mann ins Bett gehen, den du dir aussuchst.“
Ich staunte über ihre Raffinesse. Ich war nicht so schlau.
Vier Wochen nach der Brautschau verlobten wir uns im kleinen Kreis. Daniels Cousinen und ihre Partner, sein Cousin mit
Frau, Tante Dahiba und ihre Familie aus Frankfurt und unser kleiner Bekanntenkreis aus Duisburg. Keine Musik, kein Tanz, keine
Rede, es war eine ruhige Feier. Es hätte sich nicht gehört, mein
Bruder Jakob war vor knapp einem Jahr gestorben, wir befanden
11
uns noch im Trauerjahr. „Kismet“, sagte meine Mutter und Tränen
feuchteten ihre Augen.
Daniel und ich saßen auf zwei Stühlen nebeneinander. Ich
trug ein langes, orangefarbenes Kleid mit einem glitzernden Gürtel. Die glatten Haare waren, damit sie voller aussahen, mit einer
Dauerwelle gekräuselt. Daniel im grauen Anzug und Krawatte. Die
schwarzen Haare kurz geschoren wie bei einem Schaf ließen ihn
brav aussehen. Die langen Haare hatten mir besser gefallen, damit
hatte er kühner ausgesehen.
Mir war kalt in meinem dünnen Kleidchen. Vielleicht war es
auch die Aufregung. Meine Schwester stellte die Elektroheizung
aus dem Kinderzimmer hinter uns und drehte sie voll auf. Ich bibberte am ganzen Körper und legte meinen nackten Unterarm auf
die Heizung, augenblicklich schrie ich auf. Mein Unterarm war
knallrot und die Haut warf Blasen auf. Daniel rannte mit mir in
die Küche und fragte nach Tomatenmark, um die verbrannte Stelle
damit zu behandeln. „Zahnpasta drauf!“, hörte ich jemanden rufen. „Nein, einfach kaltes Wasser drüber“, rief Noah. Daniel hielt
mir den Arm, während ich kaltes Wasser über die Verbrennung
laufen ließ.
Drei Monate später fuhren Daniel und ich zum Generalkonsulat
nach Essen, um die nötigen Papiere für unsere standesamtliche
Heirat zu beantragen. Anschließend saßen wir in einer Eisdiele.
„Ich liebe dich nicht!“, sagte ich aus heiterem Himmel zu Daniel.
Woher hatte ich den Mut, dies zu sagen? „Es tut mir leid, ich liebe
dich nicht“, wiederholte ich.
Ich wünschte, er würde die Verlobung auflösen. Ich selbst
schaffte es nicht. Ich konnte es meiner Mutter nicht antun.
„Ich habe so viele Rückschläge in meinem Leben erlitten“, sagte
er und in seinen kleinen, dunklen Augen sah ich Tränen glitzern.
12
„Noch ein Schlag mehr, was spielt das für eine Rolle?“ Diese Sätze
hatte ich oft in türkischen Filmen gehört und doch klangen sie
jetzt in meinen Ohren, als hörte ich sie zum ersten Mal und als
galten sie nur mir.
Ich legte meine Hand in die seine, sie wirkte viel kleiner als
meine. Sie war feucht und heiß, die Haut fühlte sich rau an. Seine kurzen Finger mit den vom Autoöl geschwärzten Nägeln umklammerten meine Hand. Ich spürte die dicke Hornhaut auf der
Handinnenfläche, spürte den Halt, den er suchte. Oder den ich
suchte?
Daniel war mit 11 Jahren von zu Hause nach Antakya gebracht
und dort in eine Lehre gegeben worden. „Direkt nach der Grundschule?“, fragte ich. „Ja, ich habe dann bis zu meinem 17. Lebensjahr Automechaniker gelernt. Die Werkstatt gehörte einem entfernten Verwandten. ‚Das Fleisch gehört dir, die Knochen mir’,
hat mein Vater beim Abschied zum Meister gesagt und ihm damit
den Freibrief für tägliche Schläge gegeben.“ Ich ging nicht weiter
darauf ein, Schläge kannte ich nur zu gut. Deshalb sagte ich: „Du
hast immerhin etwas gelernt.“
„Naja, das ist nicht vergleichbar mit einer Lehre hier in
Deutschland. Die ersten drei Jahre guckst du nur zu, von morgens
bis abends, schleppst Autoteile, putzt die Autos, servierst Tee und
bist der Laufbursche deines Chefs für seine privaten Angelegenheiten.“
„Hast du keine Berufsschule besucht?“
„Nee, es gab nur praktische Arbeit.“
„Und deine Eltern, haben sie dich besucht?“
„Ja, alle zwei Monate haben sie meinem Chef einen Korb mit
Orangen gebracht.“
„Deinem Chef?“
13
„Sie hatten ja selbst nicht viel. Wir waren sechs Kinder und ich
war der Älteste. Also musste ich zum Haushalt etwas beitragen.“
„Hast du denn Geld verdient?“
„Wo denkst du hin? Ich habe eine Lehre bekommen, das war
Lohn genug. Aber wenigstens hatten meine Eltern ein Kind
weniger, das sie versorgen mussten.“
14
Die Hochzeit
Ein schwüler Herbsttag, Ende September 1980. Die griechisch-orthodoxe Kirche war brechend voll. Schweiß lief mir die Stirn herunter. Ich fühlte mich so fremd. Wie war ich hierher gekommen?
Es war meine eigene Hochzeit. Wer waren all diese Menschen?
Wer hatte sie eingeladen, wer die Hochzeitskarten geschrieben?
Hatte ich mich tatsächlich für diesen fremden Mann neben mir
entschieden? War wirklich ich es, die hier gerade ihr Jawort gab?
Der Pope schwenkte zwei Kränze, die mit weißen Rosen geschmückt waren, über unsere Köpfe und fragte mich, ob ich
diesen Mann heiraten wollte. Dann folgten wir dem Popen, wir
schritten im Kreis. Jemand rief mir zu: „Jano, tritt ihm auf den
Fuß!“ Ich erkannte die Stimme meiner Mutter, sie war auch die
Einzige, die mich „Jano“ nannte. Es hieß, derjenige, der als Erster
während der Hochzeitszeremonie dem anderen auf den Fuß trat,
würde in der Ehe die Oberhand gewinnen. Schon trat Daniel mir
leicht auf den Fuß und lächelte schelmisch. Jetzt besaß er Macht
über mich. Ich schaute ihn verwirrt an, er guckte ernst und wendete den Blick ab. Der Geistliche sah uns wegen des Gelächters der
Gäste maßregelnd an. Ich blickte zu Boden, beschämt.
In einem Konvoi fuhren wir von Duisburg nach Frankfurt. Dort
fand die Hochzeitsfeier statt. In einem Restaurant am Mainufer war
ein großer Saal angemietet. Alles war vorbereitet. Orientalische
Musik drang aus den Lautsprecherboxen.
Es wurde getanzt und gegessen. Wir, das Brautpaar, eröffneten den Tanz nicht. Ich hatte das Gefühl, eine Marionette zu sein,
15
denn ich tat einfach nur, was von mir verlangt wurde. So wurde
von mir erwartet, eine traurige Miene aufzusetzen, weil ich von
zu Hause wegging. Mutters Gesicht war nicht fröhlich, sie weinte
und beklagte meinen Fortgang. Doch innerlich freute sie sich, dass
sie mich unbeschadet, ja unbefleckt an einen Mann geben konnte. Die Ehre, ihre Ehre als Witwe war gerettet. Wir gehörten der
Umma, der Gemeinschaft. Ein Ausschluss aus dieser Gemeinschaft
bedeutete eine große Schande, ein Gesichtsverlust.
Nach der Feier fuhren wir in ein Hotel, etwas außerhalb der
Stadt gelegen. Obwohl es meine eigene Hochzeit war, hatte ich
an keinem Punkt ein Mitspracherecht. Vor dem Hotel zog Onkel
Mihail Daniel zur Seite und sprach auf ihn ein. Daniel nickte gehorsam, dann gingen wir auf unser Zimmer. Es war hübsch eingerichtet, eine Suite auf zwei Ebenen. Das Hochzeitszimmer des Hotels. Jetzt durften wir privat sein. Wir lagen im Bett. Daniel lachte
spitzbübisch und fragte: „Und jetzt?“ Ich war aufgeregt, konfus.
Wie verhielt sich eine Frau in der ersten Nacht? Was wollte ich?
Durfte ich ich sein? Niemand hatte mich darüber aufgeklärt. Mein
Wissen stammte aus Kitschromanen. Darin hatte ich von heißen
Liebesszenen gelesen, von den Orgasmen der Frauen, von Ekstase, vom Glück, das Männer den Frauen bescherten. Der Mann war
der Aktive, die Frau die Passive, die beglückt wurde.
Daniel war sehr einfühlsam, er küsste mich, auch an den intimsten Stellen. Durfte ich zeigen, dass mir das gefiel? Dass ich
Lust empfand? Die Worte meiner Mutter dröhnten mir in den Ohren: Ayp, unehrenhaft, unanständig.
Nach dem Frühstück fuhren wir zu unserem neuen Heim, einer
kleinen Altbauwohnung ohne Bad und Heizung, die der Cousine von Daniel gehörte. Dort warteten bereits meine Mutter und
meine Schwiegereltern auf uns, die zur Hochzeit aus der Türkei
16
angereist waren. Als wir die Wohnung betraten, sahen uns alle
mit freudiger Erwartung an. Daniel begrüßte meine Mutter und
küsste ihr die Hand als Zeichen der Dankbarkeit, dass sie ihm eine
ehrbare Jungfrau zur Frau gegeben hatte. Daniel kannte die Gepflogenheiten sehr gut.
Später fragte ich einmal, ob er mich auch geheiratet hätte,
wenn ich keine Jungfrau mehr gewesen wäre. „Ja!“, antwortete
er spontan. Das glaubte ich ihm sogar. Ich fragte: „Warum?“ Und
er sagte, dass es ihm nichts bedeuten würde. Außerdem hätte
er schon mit einigen Frauen geschlafen und eine Jungfrau wäre
auch darunter gewesen. Es wäre unfair, wenn diese Frau dann
nicht mehr heiraten könnte. Das beeindruckte mich. Ich mochte
ihn, weil er in den großen Fragen unkonventionell war.
17
18
VITA
Janet Uyar wurde 1961 in der Türkei geboren. Mit 13 Jahren
kam sie zu ihrer Mutter nach Deutschland, einer frühen Arbeitsmigrantin. Sie studierte Marketing-Ökonomie und arbeitet selbstständig im Bereich Migrantenökonomie, Integration und Bildung.
Seit 2010 ist sie außerdem in der Erwachsenenbildung tätig und
unterstützt Frauen mit Migrationshintergrund beim Einstieg in
die Berufstätigkeit.
Janet Uyar hat bereits bei verschiedenen Projekten der Stadt
Wiesbaden mitgewirkt. Unter anderem bei dem Kulturprojekt
„Zeit zu bleiben – 50 Jahre Migration in Wiesbaden“, das 2008 den
Integrationspreis der Stadt Wiesbaden erhalten hat.
19
Zum Inhalt
Johanna ist fünf, als die paradiesische Kindheit in einem armenischen Dorf an der syrischen Grenze jäh endet. Der Vater
stirbt. Es ist Anfang der Sechzigerjahre, die Mutter geht als
Arbeitsimmigrantin nach Deutschland. Johanna kommt in ein
Waisenhaus auf den Prinzeninseln vor Istanbul. Erst nach sieben
Jahren wird sie von ihrer Mutter in eine neue fremde Welt geholt.
Der Roman erscheint im Oktober
bei Palma Publishing Berlin
www.palma-publishing.berlin
20