Janet Uyar Warte, bis die Granatapfelbäume blühen Roman 1 Einige Namen und Orte wurden aus Gründen des Schutzes des Persönlichkeitsrechtes geändert und sind frei erfunden. Alle Rechte vorbehalten. © Palma Publishing Berlin (2015) www.palma-publishing.berlin ISBN _ 978-3-945923-09-2 Layout und Satz _ Markus Hauser (Berlin) Cover _ Markus Hauser (Berlin) Fotos _ aus dem privaten Archiv der Autorin 2 Bist du Freund oder Feind, Mutter oder Vater, Schwester, Bruder, wer? Quälst mich, knebelst mich, erhitzt mich in der Nacht, denkst laut, lachst, urteilst über mich raubst mir den Schlaf, die Ruhe, die Gelassenheit ein paar Nächte nur, schlafe ich durch in trügerischem Glauben jetzt endlich bin ich angekommen aber ach, nun kommst du noch erbitterter, vehementer, drangsalierst mich, du Monster was willst du, wohin soll ich gehen ankommen bei mir, bei meinen Ureigenen, du musst deinen eigenen Weg gehen, sagst du Herz wird weich, die Seele entrückt, aber wo ist der Weg, mein Weg, vergessen, verdrängt, verloren, tief begraben, da ein Schatten, ein Umriss sichtbar, graben, schreiben, finden, erlösen Johanna in einer heißen Augustnacht 3 Prolog Spurensuche in Yayladağ. 35 Jahre nach seinem Tod stand ich zum ersten Mal am Grab meines Vaters auf dem Friedhof der Kirche Mar Elias. Mutter hatte ihr Schweigen mir gegenüber gebrochen und sich bereit erklärt, mit mir diese Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Die Reise hatte ich mir zu meinem 40. Geburtstag gewünscht. Ein warmer Frühlingswind spielte mit meinem Haar, die Luft war erfüllt vom Duft der Orangenblüten. Eine Libanon-Zypresse begrenzte majestätisch die Nordseite des Friedhofs. Sie strahlte eine traurige Ruhe aus. Ich legte die Granatapfelzweige mit den knallig orangefarbenen Blüten, die ich im armenischen Dorf Vakif gepflückt hatte, auf sein Grab und setze mich an dessen Rand. Von hier aus hatte man eine gute Sicht auf das Mittelmeer, es glitzerte unweit von Yayladağ. Meine Gedanken schweiften ab, mein Blick suchte den großen Platz vor der Kirche Mar Elias, wo Vater Mutter geheiratet hatte. Unwillkürlich musste ich an meine eigene Hochzeit denken und wie alles begann... 4 Kismet Alles war so schnell gegangen. Tante Dahiba, eine Großcousine meines Vaters, die in Frankfurt lebte, stellte den Kontakt her. Es war im Herbst 1979. An einem Sonntagmorgen rief sie meine Mutter an. „Ich habe einen Mann für deine Tochter“, schrie sie aufgeregt in den Hörer, noch bevor beide die üblichen Höflichkeiten austauschen konnten. „So eilig habe ich es nicht, meine Tochter zu verheiraten.“ Mutter versuchte, neutral zu klingen. „Sie ist gerade erst achtzehn geworden!“ „Ja eben, du weißt, was die Leute reden, wenn du sie zu spät verheiratest!“ Mutter wusste das genau. „Turşu mu kuracaksin?“, fragt man höhnisch im Türkischen, was so viel bedeutet wie, „willst du eingelegtes Essiggemüse aus ihr machen?“ „Kennst du seine Eltern?“, fragte Mutter um Fassung ringend. „Ja, natürlich, es ist die Familie Zili. Er heißt Daniel. Seine Familie ist christlich und kommt auch aus Yayladağ. Sie haben ihr ganzes Vermögen ausgegeben, damit der Junge als Asylant nach Deutschland einreisen konnte. Der Anwalt sagt, er kann nur bleiben, wenn er heiratet.“ „Und meine Tochter soll ihm dabei behilflich sein?“, fragte meine Mutter. „Ja, meine Tochter ist noch zu jung, um zu heiraten, sie ist erst siebzehn!“, antwortete Tante Dahiba wie zu ihrer Verteidigung. Mutter überlegte. Seit kurzem machte sie sich Sorgen um mich. Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich mich wieder mit Kerim, einem 5 muslimischen Jungen treffen könnte, wenn sie mich nicht bald verheiratete. „Ja, was ist denn jetzt? Seine Familie will nächste Woche kommen!“ Tante Dahiba drängte. Sie hatte immer Angst wegen der Telefonkosten. Jeden ersten Sonntag im Monat rief sie an. Das Gespräch dauerte meist nicht länger als eine Minute und lief im Telegrammstil ab: „Merhaba, Cousine Amira, wie geht es dir? Wie geht es deinen Kindern? Mir geht es gut, meinen Kindern auch. Hast du etwas aus der Heimat gehört?“ (Diese Frage durfte auf keinen Fall fehlen und wenn es etwas Neues gab, dann dauerte das Telefonat etwa drei Minuten). „Dann ist alles gut. Grüß alle von mir, bis bald.“ Die Heimat der beiden war Yayladağ, ein Dorf in der Türkei, nahe der syrischen Grenze, das von einer arabisch-christlich geprägten Minderheit bewohnt und von der Kreisverwaltung schlicht, da ihnen nichts Besseres einfiel, „Die Christen auf den Olivenhainen“ genannt wurde. Als das Gespräch mit Tante Dahiba länger als eine Minute andauerte, folgte ich Mutter ins Schlafzimmer, in das sie sich zurückgezogen hatte. Fast zwei Minuten telefonierten sie nun schon miteinander, zwei Minuten, die über den Verlauf eines Lebens entscheiden sollten, meines Lebens. „Was, nächste Woche schon?“, hörte ich Mutter aufgeregt fragen. Dann legte sie auf. „Was denkt sie bloß, diese blöde Kuh, dass meine Tochter sitzen bleibt?“ Sie hatte nicht bemerkt, dass ich in der Tür stand. „Was wollte Tante Dahiba?“, fragte ich. „Das Gespräch hat sie heute ganze zwanzig Pfennig gekostet!“ Normalerweise konnte Mutter immer über diesen Scherz lachen. 6 „Willst du heiraten?“, fragte sie mich so, als ob ich etwas essen wollte. Heiraten? Ich wollte mehr Freiheiten genießen: Ausgehen, ohne die Begleitung meines jüngeren Bruders. Ich wollte einen Freund haben, ohne als Hure abgestempelt zu werden. „Ich kann’s nicht fassen“, schnaubte Mutter, „sie denkt tatsächlich, du bleibst sitzen, wenn ich dich nicht bald verheirate.“ Ich hatte ihr unlängst verraten, dass ich einen deutschen Freund haben wollte. „Das sind doch auch Christen, die Deutschen“, sagte ich, um sie zu provozieren. „Die sind anders als wir“, antwortete sie erbost, „deutsche Leute haben mehr Angst vor der Polizei als vor Gott!“ Für Mutter waren „die deutschen Leute“ keine Christen, sondern eben Deutsche. Sie kannten keine Moral. Wer weiß, was ein Deutscher mit ihrer Tochter anstellen würde? Unsere Nachbarin Helga, die ich Tante Helga nannte, weil man bei uns Ältere nicht mit dem Namen ansprechen darf, diente ihr als abschreckendes Beispiel. „Guck dir Tante Helga an, der Mann hat sie mit zwei Kindern sitzen lassen. Und jetzt? Jetzt lebt sie allein mit ihnen. Und als ob das noch nicht genug wäre, hat sie auch noch einen Geliebten, der bei ihr ein und aus geht.“ Dass Helga ihren Mann verlassen hatte und nicht umgekehrt, behielt ich lieber für mich. „Nein“, sagte Mutter bestimmt, „ich gebe dich lieber einem aus der Heimat, da weiß man wenigstens, was auf einen zukommt!“ „Ich bin keine Ware, die man geben kann“, konterte ich und dehnte bewusst das Wort ‚geben’. Mutter verdrehte die Augen und holte tief Luft, um etwas zu sagen. „Und wenn ich mir meinen Mann selbst aussuche?“, kam ich ihr zuvor. 7 „Du bist verrückt“, warf meine Mutter entsetzt ein. „Du bist viel zu jung und naiv, um den richtigen Mann zu finden!“ „Ach ja, aber fürs Heiraten bin ich nicht zu jung! Du hast dir doch Papa auch selbst ausgesucht!“ „Das ist etwas anderes, wir lebten in einem kleinen Dorf, da kannte jeder jeden.“ „Wo habt ihr euch kennengelernt?“, fragte ich. „In der Kirchengemeinde.“ „Und warum darf ich nicht in die Kirche zum Volleyballspielen?“ „Das sind Mamonen, wir kennen diese Religion nicht.“ „Mormonen“, verbesserte ich. „Die dürfen auch keinen Sex vor der Ehe haben.“ „Du sollst dieses Wort nicht benutzen!“ „Ja, gut. Warum darf ich nicht alleine zum Volleyball, aber mein kleiner Bruder alleine zum Fußball?“, bohrte ich weiter. „Gott, das habe ich dir schon tausend Mal gesagt, er ist ein Junge!“, rief sie entnervt. „Bin ich kein Mensch? Nur weil ich ein Mädchen bin und Brüste und eine Sch...?“ Weiter kam ich nicht, Mutters Hand erwischte meinen Mund, noch bevor ich mich ducken konnte. Die Ohrfeige tat nicht weh, Mutter konnte einem nicht wehtun, aber ich erschrak. „Das hat sie tatsächlich gesagt, das Wort, du weißt schon, das für da unten und ich habe sie auf den Mund geschlagen, zum ersten Mal habe ich Johanna geschlagen! Das hat sie bestimmt von ihren deutschen Freundinnen!“, hörte ich sie später bei ihrer besten Freundin Elena klagen. Dabei waren meine deutschen Freundinnen keineswegs schuld daran. Von Vera und Gerlinde, Tante Helgas Töchtern, lieh 8 ich mir die Bravo, die meist vier Wochen alt war. Früher rückten sie die Zeitschrift nicht heraus, außer ich übernahm ihren wöchentlichen Spüldienst - den sie von Tante Helga als einzige Aufgabe auferlegt bekamen - gegen eine zwei Wochen alte Bravo! Manchmal fischte ich mit einer Pinzette eine Münze aus dem flachen, grünen Plastikelefanten, den Mutter unter ihrer Matratze versteckte. Dann kaufte ich mir die neuste Bravo und verbarg sie unter meinem Bett. „Kennst du seine Familie?“, fragte ich Mutter. Ich kannte ohnehin all die Leute nicht, von denen Mutter sprach. „Er hat einen guten Beruf, er ist Mechaniker.“ „Wie? Er hat nicht studiert?“, fragte ich scherzhaft. Mutter wünschte sich Männer mit Hochschulabschluss für mich und Marie, meine jüngere Schwester. „Nein“, sagte sie, meine Spöttelei ignorierend. Sie erzählte, dass er aus Glaubensgründen Asyl in Deutschland suchte. Die Anwälte sahen aber keine Chance für die Antragsbewilligung, weshalb man ihm riet zu heiraten, um in Deutschland bleiben zu können. Während Mutter erzählte, träumte ich davon, zu heiraten und von Duisburg wegzuziehen, endlich frei zu sein, meine eigene Wohnung zu haben, endlich das zu tun, was uns Mädchen verboten war. Wen ich heiratete, war in diesem Moment unwichtig. „Die Eltern sind sehr anständige Leute“, hörte ich Mutter sagen. „Ich kenne seinen Vater, mit ihm war ich bei der Baumwollernte in Adana.“ „Wie alt warst du da?“ „Acht“, antwortete sie und zündete sich eine Zigarette an. „Du kriegst Lungenkrebs“, fuhr ich sie an. Seit mein Bruder Jakob vor einem Jahr gestorben war, rauchte Mutter wie ein Schlot. 9 „Ich mache keine Lungenzüge“, sie blies den Rauch übertrieben lange aus. „Der Junge trinkt nicht, verspielt sein Geld nicht und in seiner Familie prügelt keiner seine Frau.“ Für meine Mutter waren das wichtige Kriterien. Eine Woche später kam die ganze Sippe samt Daniels Cousinen und Cousins mit ihren jeweiligen Verwandten zur Brautschau. Aus dem Fenster beobachtete ich meinen zukünftigen Ehemann, der sich am Außenspiegel eines Mercedes sein schwarz glänzendes Haar kämmte. Er war ungefähr einen Meter siebzig groß, schlank und sah gut aus. Als er mich begrüßte, kam er ganz nah an mich heran und musterte mich. Besonders meine Größe. „Es passt“, konnte ich an seinem zufriedenen Lächeln ablesen, er war ungefähr fünf Zentimeter größer als ich. Als alle saßen und meine Schwester den Kaffee servierte, weil mir die Hände zitterten, erzählte mein vorlauter jüngerer Bruder Noah, dass ich Taekwondo trainierte. Er wollte wohl meinen zukünftigen Mann warnen. Er selbst litt unter mir. Wenn er nicht parierte, bekam er das zu spüren. Er wäre mich gerne bald losgeworden. Augenblicklich wurde ihm aber bewusst, dass er mit dieser Bemerkung den Bräutigam womöglich vergraulte und guckte mich ängstlich an. Mit den Augen schoss ich Pfeile voller Gift nach ihm. „Taekwondo bedeutet Selbstverteidigung, man schlägt nur zurück, wenn man angegriffen wird“, sagte er verschüchtert. „Eine ganz friedliche Sportart also“, fügte er zaghaft hinzu. Zwei Dinge hatte ich mir von Mutter erkämpft: Den Führerschein mit „Du brauchst dann nicht mehr die Einkäufe nach Hause zu schleppen, ich kutschiere dich überall hin“ und Taekwondo mit den Worten, „es dient zur Verteidigung meiner Ehre“. Das hatte sie überzeugt. 10 Beim Abschied, als alle schon vorausgegangen waren, blieb Tante Dahiba auf der Treppe zurück und fragte mich, ob mir Daniel gefallen habe. Und ich antwortete unbedacht mit „ja“. Meine Mutter schimpfte später mit mir. „Man sagt doch nicht sofort ja, die werden denken, wir hätten nur auf sie gewartet.“ „Was hätte ich denn sagen sollen?“, fragte ich ratlos. „Ich will es mir überlegen, so antwortet ein gut erzogenes Mädchen!“ „Und warum hast du mich nicht gut erzogen? Woher soll ich das denn wissen?!“ Ich knallte die Tür vom Kinderzimmer hinter mir zu. „Warum willst du einen Mann heiraten, den du nicht kennst?“, fragte meine Schwester Marie. „Ich will hier weg, siehst du nicht, dass wir wie Gefangene gehalten werden? Für uns Mädchen ist doch Heiraten der einzige Weg, um keine Schande über Mutter zu bringen.“ „Mutter macht sich halt Sorgen, sie ist allein“, mischte sich Noah ein. „Du kannst ihn heiraten, aber mach bloß keine Kinder“, riet mir Marie. Ich verstand nicht. „Du heiratest ihn und dann lässt du dich wieder scheiden, dann ist wenigstens der Ruf gewahrt, dass du als Jungfrau in die Ehe gegangen bist. Danach kannst du mit dem Mann ins Bett gehen, den du dir aussuchst.“ Ich staunte über ihre Raffinesse. Ich war nicht so schlau. Vier Wochen nach der Brautschau verlobten wir uns im kleinen Kreis. Daniels Cousinen und ihre Partner, sein Cousin mit Frau, Tante Dahiba und ihre Familie aus Frankfurt und unser kleiner Bekanntenkreis aus Duisburg. Keine Musik, kein Tanz, keine Rede, es war eine ruhige Feier. Es hätte sich nicht gehört, mein Bruder Jakob war vor knapp einem Jahr gestorben, wir befanden 11 uns noch im Trauerjahr. „Kismet“, sagte meine Mutter und Tränen feuchteten ihre Augen. Daniel und ich saßen auf zwei Stühlen nebeneinander. Ich trug ein langes, orangefarbenes Kleid mit einem glitzernden Gürtel. Die glatten Haare waren, damit sie voller aussahen, mit einer Dauerwelle gekräuselt. Daniel im grauen Anzug und Krawatte. Die schwarzen Haare kurz geschoren wie bei einem Schaf ließen ihn brav aussehen. Die langen Haare hatten mir besser gefallen, damit hatte er kühner ausgesehen. Mir war kalt in meinem dünnen Kleidchen. Vielleicht war es auch die Aufregung. Meine Schwester stellte die Elektroheizung aus dem Kinderzimmer hinter uns und drehte sie voll auf. Ich bibberte am ganzen Körper und legte meinen nackten Unterarm auf die Heizung, augenblicklich schrie ich auf. Mein Unterarm war knallrot und die Haut warf Blasen auf. Daniel rannte mit mir in die Küche und fragte nach Tomatenmark, um die verbrannte Stelle damit zu behandeln. „Zahnpasta drauf!“, hörte ich jemanden rufen. „Nein, einfach kaltes Wasser drüber“, rief Noah. Daniel hielt mir den Arm, während ich kaltes Wasser über die Verbrennung laufen ließ. Drei Monate später fuhren Daniel und ich zum Generalkonsulat nach Essen, um die nötigen Papiere für unsere standesamtliche Heirat zu beantragen. Anschließend saßen wir in einer Eisdiele. „Ich liebe dich nicht!“, sagte ich aus heiterem Himmel zu Daniel. Woher hatte ich den Mut, dies zu sagen? „Es tut mir leid, ich liebe dich nicht“, wiederholte ich. Ich wünschte, er würde die Verlobung auflösen. Ich selbst schaffte es nicht. Ich konnte es meiner Mutter nicht antun. „Ich habe so viele Rückschläge in meinem Leben erlitten“, sagte er und in seinen kleinen, dunklen Augen sah ich Tränen glitzern. 12 „Noch ein Schlag mehr, was spielt das für eine Rolle?“ Diese Sätze hatte ich oft in türkischen Filmen gehört und doch klangen sie jetzt in meinen Ohren, als hörte ich sie zum ersten Mal und als galten sie nur mir. Ich legte meine Hand in die seine, sie wirkte viel kleiner als meine. Sie war feucht und heiß, die Haut fühlte sich rau an. Seine kurzen Finger mit den vom Autoöl geschwärzten Nägeln umklammerten meine Hand. Ich spürte die dicke Hornhaut auf der Handinnenfläche, spürte den Halt, den er suchte. Oder den ich suchte? Daniel war mit 11 Jahren von zu Hause nach Antakya gebracht und dort in eine Lehre gegeben worden. „Direkt nach der Grundschule?“, fragte ich. „Ja, ich habe dann bis zu meinem 17. Lebensjahr Automechaniker gelernt. Die Werkstatt gehörte einem entfernten Verwandten. ‚Das Fleisch gehört dir, die Knochen mir’, hat mein Vater beim Abschied zum Meister gesagt und ihm damit den Freibrief für tägliche Schläge gegeben.“ Ich ging nicht weiter darauf ein, Schläge kannte ich nur zu gut. Deshalb sagte ich: „Du hast immerhin etwas gelernt.“ „Naja, das ist nicht vergleichbar mit einer Lehre hier in Deutschland. Die ersten drei Jahre guckst du nur zu, von morgens bis abends, schleppst Autoteile, putzt die Autos, servierst Tee und bist der Laufbursche deines Chefs für seine privaten Angelegenheiten.“ „Hast du keine Berufsschule besucht?“ „Nee, es gab nur praktische Arbeit.“ „Und deine Eltern, haben sie dich besucht?“ „Ja, alle zwei Monate haben sie meinem Chef einen Korb mit Orangen gebracht.“ „Deinem Chef?“ 13 „Sie hatten ja selbst nicht viel. Wir waren sechs Kinder und ich war der Älteste. Also musste ich zum Haushalt etwas beitragen.“ „Hast du denn Geld verdient?“ „Wo denkst du hin? Ich habe eine Lehre bekommen, das war Lohn genug. Aber wenigstens hatten meine Eltern ein Kind weniger, das sie versorgen mussten.“ 14 Die Hochzeit Ein schwüler Herbsttag, Ende September 1980. Die griechisch-orthodoxe Kirche war brechend voll. Schweiß lief mir die Stirn herunter. Ich fühlte mich so fremd. Wie war ich hierher gekommen? Es war meine eigene Hochzeit. Wer waren all diese Menschen? Wer hatte sie eingeladen, wer die Hochzeitskarten geschrieben? Hatte ich mich tatsächlich für diesen fremden Mann neben mir entschieden? War wirklich ich es, die hier gerade ihr Jawort gab? Der Pope schwenkte zwei Kränze, die mit weißen Rosen geschmückt waren, über unsere Köpfe und fragte mich, ob ich diesen Mann heiraten wollte. Dann folgten wir dem Popen, wir schritten im Kreis. Jemand rief mir zu: „Jano, tritt ihm auf den Fuß!“ Ich erkannte die Stimme meiner Mutter, sie war auch die Einzige, die mich „Jano“ nannte. Es hieß, derjenige, der als Erster während der Hochzeitszeremonie dem anderen auf den Fuß trat, würde in der Ehe die Oberhand gewinnen. Schon trat Daniel mir leicht auf den Fuß und lächelte schelmisch. Jetzt besaß er Macht über mich. Ich schaute ihn verwirrt an, er guckte ernst und wendete den Blick ab. Der Geistliche sah uns wegen des Gelächters der Gäste maßregelnd an. Ich blickte zu Boden, beschämt. In einem Konvoi fuhren wir von Duisburg nach Frankfurt. Dort fand die Hochzeitsfeier statt. In einem Restaurant am Mainufer war ein großer Saal angemietet. Alles war vorbereitet. Orientalische Musik drang aus den Lautsprecherboxen. Es wurde getanzt und gegessen. Wir, das Brautpaar, eröffneten den Tanz nicht. Ich hatte das Gefühl, eine Marionette zu sein, 15 denn ich tat einfach nur, was von mir verlangt wurde. So wurde von mir erwartet, eine traurige Miene aufzusetzen, weil ich von zu Hause wegging. Mutters Gesicht war nicht fröhlich, sie weinte und beklagte meinen Fortgang. Doch innerlich freute sie sich, dass sie mich unbeschadet, ja unbefleckt an einen Mann geben konnte. Die Ehre, ihre Ehre als Witwe war gerettet. Wir gehörten der Umma, der Gemeinschaft. Ein Ausschluss aus dieser Gemeinschaft bedeutete eine große Schande, ein Gesichtsverlust. Nach der Feier fuhren wir in ein Hotel, etwas außerhalb der Stadt gelegen. Obwohl es meine eigene Hochzeit war, hatte ich an keinem Punkt ein Mitspracherecht. Vor dem Hotel zog Onkel Mihail Daniel zur Seite und sprach auf ihn ein. Daniel nickte gehorsam, dann gingen wir auf unser Zimmer. Es war hübsch eingerichtet, eine Suite auf zwei Ebenen. Das Hochzeitszimmer des Hotels. Jetzt durften wir privat sein. Wir lagen im Bett. Daniel lachte spitzbübisch und fragte: „Und jetzt?“ Ich war aufgeregt, konfus. Wie verhielt sich eine Frau in der ersten Nacht? Was wollte ich? Durfte ich ich sein? Niemand hatte mich darüber aufgeklärt. Mein Wissen stammte aus Kitschromanen. Darin hatte ich von heißen Liebesszenen gelesen, von den Orgasmen der Frauen, von Ekstase, vom Glück, das Männer den Frauen bescherten. Der Mann war der Aktive, die Frau die Passive, die beglückt wurde. Daniel war sehr einfühlsam, er küsste mich, auch an den intimsten Stellen. Durfte ich zeigen, dass mir das gefiel? Dass ich Lust empfand? Die Worte meiner Mutter dröhnten mir in den Ohren: Ayp, unehrenhaft, unanständig. Nach dem Frühstück fuhren wir zu unserem neuen Heim, einer kleinen Altbauwohnung ohne Bad und Heizung, die der Cousine von Daniel gehörte. Dort warteten bereits meine Mutter und meine Schwiegereltern auf uns, die zur Hochzeit aus der Türkei 16 angereist waren. Als wir die Wohnung betraten, sahen uns alle mit freudiger Erwartung an. Daniel begrüßte meine Mutter und küsste ihr die Hand als Zeichen der Dankbarkeit, dass sie ihm eine ehrbare Jungfrau zur Frau gegeben hatte. Daniel kannte die Gepflogenheiten sehr gut. Später fragte ich einmal, ob er mich auch geheiratet hätte, wenn ich keine Jungfrau mehr gewesen wäre. „Ja!“, antwortete er spontan. Das glaubte ich ihm sogar. Ich fragte: „Warum?“ Und er sagte, dass es ihm nichts bedeuten würde. Außerdem hätte er schon mit einigen Frauen geschlafen und eine Jungfrau wäre auch darunter gewesen. Es wäre unfair, wenn diese Frau dann nicht mehr heiraten könnte. Das beeindruckte mich. Ich mochte ihn, weil er in den großen Fragen unkonventionell war. 17 18 VITA Janet Uyar wurde 1961 in der Türkei geboren. Mit 13 Jahren kam sie zu ihrer Mutter nach Deutschland, einer frühen Arbeitsmigrantin. Sie studierte Marketing-Ökonomie und arbeitet selbstständig im Bereich Migrantenökonomie, Integration und Bildung. Seit 2010 ist sie außerdem in der Erwachsenenbildung tätig und unterstützt Frauen mit Migrationshintergrund beim Einstieg in die Berufstätigkeit. Janet Uyar hat bereits bei verschiedenen Projekten der Stadt Wiesbaden mitgewirkt. Unter anderem bei dem Kulturprojekt „Zeit zu bleiben – 50 Jahre Migration in Wiesbaden“, das 2008 den Integrationspreis der Stadt Wiesbaden erhalten hat. 19 Zum Inhalt Johanna ist fünf, als die paradiesische Kindheit in einem armenischen Dorf an der syrischen Grenze jäh endet. Der Vater stirbt. Es ist Anfang der Sechzigerjahre, die Mutter geht als Arbeitsimmigrantin nach Deutschland. Johanna kommt in ein Waisenhaus auf den Prinzeninseln vor Istanbul. Erst nach sieben Jahren wird sie von ihrer Mutter in eine neue fremde Welt geholt. Der Roman erscheint im Oktober bei Palma Publishing Berlin www.palma-publishing.berlin 20
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