Das Tourette war eine Lebensschule für mich

Gesundheit heute.
| Mittwoch, 3. Juni 2015 | Seite 21
«Das Tourette war eine Lebensschule für mich»
Unternehmer Ivar Niederberger lebt seit seiner Kindheit mit Tics. Problemlos, wie er im Gespräch sagt
Mit 16 begann Niederberger die
zweijährige Anlehre zum Autospengler.
«Ich arbeitete extrem gerne und durch
die Ablenkung verschwand das Tourette in den Hintergrund.» Er beendete
die Lehre, vermasselte jedoch die
Abschlussprüfung. «Ich war so nervös,
dass ich weder eine gerade Schweissnaht machen noch ein Blech bearbeiten
konnte», erinnert sich Niederberger. Zu
Hause angekommen, erzählte der
damals 18-Jährige seinem Vater vom
Misserfolg. Auf die Frage, was nun aus
ihm werden solle, antwortetet er
prompt: Millionär. Er begann in verschiedenen Firmen zu jobben, liebte das
Arbeiten. Mit 21 machte er sich selbstständig und begann in seiner ersten
Kleidi-Filiale Restposten zu verkaufen.
Heute beschäftigt der Unternehmer
hundert Angestellte in der Schweiz und
150 weitere im Ausland.
Von Denise Dollinger
«Angefangen hat alles vor rund vierzig
Jahren», sagt Ivar Niederberger und
lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Beim
Eintritt in die 1. Klasse sei aufgefallen,
dass er sich anders verhalte als seine
Mitschüler. Furchtbar nervös sei er
damals gewesen, erinnert sich der
46-Jährige. «Ich gab hechelnde Laute
von mir und machte unkontrollierte,
abrupte Bewegungen.»
Für die Eltern sei schnell klar gewesen, dass man das «Bubeli» beim Kinderarzt abklären lassen müsse – insbesondere, weil sein Zwillingsbruder
keine solch seltsamen Anzeichen gehabt
habe. «Vielleicht einen Hauch davon»,
räumt Niederberger ein. Der Kinderarzt
erklärte den Eltern, dass ihr Sohn an
Tics leide. Es gäbe aber keinen Grund
zur Sorge, denn in den meisten Fällen
würden diese mit der Pubertät verschwinden. Bei Ivar Niederberger war
das jedoch nicht so.
Immer unter Strom
Da er zusätzlich noch Legastheniker
war, wurde der damals Sechsjährige
relativ zügig in eine Kleinklasse versetzt. «Eigentlich eine tragische
Geschichte», sagt Niederberger. «Nachträglich muss ich sagen, dass in diesem
Alter der Charakter eines Kindes
geformt wird.» Auf die Nachfrage, was
denn seinen Charakter ausmache, sagt
Niederberger schnell und laut: «Mein
Charakter? Ich bin ein Arschloch!»
In dem einstündigen Gespräch mit
dem Unternehmer – er ist der Besitzer
der Kleiderkette Kleidi – klingelt das
Telefon rund zehnmal, Niederberger ist
«immer unter Strom», wie er sagt. Er
hechelt, snifft, zuckt mit den Augen und
den Schultern, schüttelt den Kopf – die
Tics haben keine bestimmte Abfolge,
tauchen unvermittelt auf. Ein schlechter Schüler sei er gewesen, sagt Nieder-
«Die Therapien waren für die Katz.» Kleidi-Geschäftsführer Ivar Niederberger redet über seine Krankheit.
berger. «Ich wusste nicht, wo links und
rechts ist, konnte mich nicht motivieren
und empfand den Unterricht als reine
Zeitverschwendung.» Die obligatorische Schulzeit schloss der Baselbieter
auf tiefstem Niveau ab. Seine Tics seien
für die Mitschüler und Lehrer sicher
nicht immer einfach zu ertragen gewesen, die Geräusche und Bewegungen
hätten den Unterricht gestört. Trotz
allem sei er nie gehänselt worden.
Weder in der Schule noch in der Ausbildung. «Ich war damals schon sehr redegewandt», sagt er. «Lachte beispielsweise jemand wegen eines meiner Tics,
fragte ich postwendend: Weisst du
eigentlich, dass dein Mami und dein
Papi Geschwister sind?» Auch heute
noch schlage er, wenn nötig, mit Worten zurück. «Es passiert zwar selten,
dass ich auf mein Tourette angesprochen werde. Kommt mir aber jemand
blöd, reagiere ich prompt. Ich erkenne
innert Kürze die Schwachstelle von
meinem Gegenüber und stelle ihn
bloss.»
Abschlussprüfung vermasselt
Dass er am Tourettesyndrom leide,
sei ihm erst mit Mitte zwanzig klar
geworden. «Zuvor hatte diese Krankheit
irgendwie noch keinen Namen. Man
Foto Florian Bärtschiger
redete nicht darüber, es war ein Tabu.»
Auch in der Familie sei die Krankheit nie
ein grosses Thema gewesen. Als es
darum ging, eine Schnupperlehre zu
machen und einen Ausbildungsplatz zu
finden, hätten sich die Lehrer darum
gekümmert, dass der Jugendliche einen
Platz findet. Auf die Frage, ob er denn
aufgeregt gewesen sei, wenn er sich an
einem neuen Ort habe vorstellen müssen, fragt Niederberger: «Warum sollte
ich?» Sein Auftreten sei schon immer
selbstbewusst gewesen, er von sich
überzeugt. Und wie um das zu bestätigen, sagt er: «Komme ich in einen Raum,
weiss man sofort, wer der Chef ist.»
Tics von anderen stimulieren
Viele unterschiedliche Therapien
hat der 46-Jährige hinter sich. Besuche
beim Heilarzt, Hypnose, Akupunktur,
Hirnströme, Medikamente, psychologische Behandlungen. «Das war alles für
die Katz.» Und ergänzt: «Eine Linderung
bringt einzig die Kenntnis von mir selbst
und die Akzeptanz.» Auch wenn es
scheint, dass Ivar Niederberger nichts
aus der Bahn werfen kann und das Tourette in seinem Leben nur eine Nebenrolle spielt, gibt es Situationen, denen er
bewusst ausweicht. «Ich vermeide das
Zusammensein mit Menschen, die an
Tics leiden, da sie meine zu sehr stimulieren und mich mit ihren anstecken.»
Druck verstärkt die Symptome, in
einem ruhigen Umfeld wird Niederberger auch ruhiger. Auf die Frage, ob seine
Krankheit Fluch oder Segen ist, sagt
Ivar Niederberger: «Das Tourette war
eine Lebensschule für mich und hat
mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich
will kein anderes Leben.»
Medikamente helfen meist wenig
Zwei Fachpersonen geben Auskunft zu Symptomen, Begleiterscheinungen und Behandlungsmöglichkeiten
Von Denise Dollinger
Basel. In der Schweiz leben rund 4000
Menschen mit dem Tourettesyndrom.
Multiple motorische Tics wie zum Beispiel Augenblinzeln, Verziehen der
Mundwinkel, Augen zusammenkneifen
sowie Lautäusserungen (bellen, zwitschern, hecheln oder obszöne Worte)
sind die Krankheitsmerkmale.
In der Medizin geht man davon aus,
dass eine genetische Belastung der Auslöser des Syndroms ist. «Die Tics beginnen immer vor der Adoleszenz, also vor
dem 21. Lebensjahr», sagt Peter Fuhr,
Leiter der klinischen Neurophysiologie
am Universitätsspital Basel. Eines der
wichtigsten Merkmale, um zwischen
Tics (kommen in der Bevölkerung häufig vor) und dem Tourettesyndrom zu
unterscheiden, ist, dass Menschen mit
diesem Leiden nebst unwillkürlichen
Bewegungen auch vokale Tics haben.
Leidet jemand am Tourettesyndrom, gesellen sich meist verschiedene
Begleiterkrankungen dazu. «Psychiatrische Symptome wie Depressionen oder
Zwangsstörungen sind häufig», sagt Ute
Gschwandtner, Psychiaterin am Universitätsspital Basel. Was auffalle, sei, dass
es in Familien mit Tourette-Patienten
überproportional viele Personen mit
Zwangscharakter habe.
Unterschiedliche Therapien
Das Tourette beginnt oft mit einer
Entwicklungsstörung während der
Pubertät. In dieser Zeit kann es dann
auch zu Lernstörungen und Persönlichkeitsveränderungen kommen. «Ein
Tourettesyndrom zu behandeln, ist
nicht einfach», sagt Peter Fuhr. Zwar
könnten Medikamente verabreicht werden, das Ergebnis sei jedoch, im Vergleich zu den nicht unerheblichen
Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder
Konzentrationsschwäche, nicht sehr
vielversprechend. «Mit vielen Medikamenten sediert man den Betroffenen
nur, ohne dass die Ursache des Tic-
Drangs behoben würde», sagt Fuhr.
Eine andere mögliche Therapieform für
sehr schwere Verlaufsformen, zum Beispiel für Patienten mit Selbstverletzungen im Rahmen der Tic-Krankheit, ist
die tiefe Hirnstimulation. Dabei werden
Elektroden im Hirn angeschlossen. Die
Erfolgsrate dieser Technik bewegt sich
bei rund 30 Prozent.
Mit «Flooding» ist eine ganz neue
Behandlungsform auf dem Markt. «Der
Therapeut versucht den Betroffenen
an der Ausführung des Tics zu hindern», erklärt Ute Gschwandtner die
Methode. Das heisst, ist der Patient
zum Beispiel versucht, Bewegungen
mit den Armen zu machen, hält ihn der
Therapeut zurück. «Die Idee an dieser
Form, die bei uns im Spital jedoch
nicht angewandt wird, ist, dass sich die
Tic-Intervalle so verkürzen. Der Patient soll statt der kurzfristigen Erleichterung nach dem Ausführen der Bewegung ein Gefühl dafür bekommt, wie
befreiend es ist, dem Tic nicht nachzu-
geben», so Gschwandtner. Ergebnisse
zum Erfolg dieser Therapie gebe es
noch keine.
Akzeptanz wird grösser
Wurde früher Tourette in der Gesellschaft als schlimm betrachtet, wurde in
den letzten zehn Jahren die Akzeptanz
grösser. Menschen mit einem leichten
Ausmass des Syndroms fällt es zum Beispiel leichter, einen Nischenort zu finden, wo sie einer Arbeit nachgehen können. «Das heisst, dass sie ein Setting
haben, etwa in einer kleineren Firma,
wo sie nicht auffallen und ihrem Beruf
nachgehen», sagt Gschwandtner.
Betroffene mit einem schweren Ausmass müssten sich oft ressourcenorientierte Alibiorte suchen, damit sie sich
mit ihrem Leiden arrangieren könnten.
«So kann es zum Beispiel sein, dass
jemand Schlagzeuger wird, weil seine
Tics beim Musizieren nicht so auffallen», erklärt Gschwandtner. Was aus
der jahrelangen Forschung besonders
hervorsticht: Konzentrieren sich betroffene Menschen intensiv auf eine Tätigkeit, verblassen die Tics in dieser Zeitspanne. Danach treten sie aber wieder
wie gewohnt auf.
Laut den beiden Fachleuten haben
die allermeisten Tics keinen sinnhaften
Zusammenhang. Das heisst, dass sie
unwillkürlich und ohne eine bestimmte
Abfolge auftauchen, auch im Schlaf. «Im
Laufe des Lebens können sich die Tics
auch wandeln», sagt Peter Fuhr. Dass sie
ganz verschwinden, ist jedoch höchst
unwahrscheinlich. «Wichtig ist aber,
dass Menschen mit diesem Leiden eine
Therapie machen und auch ihr Umfeld
und ihre Familie darin integriert wird»,
sagt Peter Fuhr. Zudem sollte sämtlicher
Leistungsstress reduziert werden, da dieser die Tic-Neigung verstärkt.
Tic ist keine verächtliche Bezeichnung,
sondern der international gebräuchliche
Terminus technicus.
Am 7. Juni ist der European Tourette Day.