Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Examensklausurenkurs Zivilrecht Klausur vom 5. Dezember 2015 Die Architektin M und der Bauingenieur V sind seit Juni 2013 glücklich in zweiter Ehe verheiratet. Sie leben im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Aus der ersten Ehe der M mit dem mittlerweile verstorbenen Musiker O entstammt die 20-jährige Studentin T. T lebt bei ihrer Tante H, da sie sich mit V nicht besonders gut versteht. Andere Verwandte als M und H hat T nicht. V, ebenfalls verwitwet, hat aus erster Ehe einen 17-jährigen Sohn S. M, V und S leben zusammen im Haus der M in Castrop-Rauxel. Ende 2013 beschließen M und V, für den Fall ihres Todes vorzusorgen und damit mögliche Streitigkeiten zwischen ihren jeweiligen Kindern zu verhindern. V schreibt daher mit seinem Füllfederhalter auf ein Blatt Papier: Wir, die Eheleute M und V, setzen uns hiermit gegenseitig zu alleinigen Erben unseres gesamten Nachlasses ein. Erben des Letztversterbenden sollen unsere Kinder T und S zu gleichen Teilen sein. Castrop-Rauxel, den 27.12.2013……….. V und M unterschreiben anschließend beide rechts neben diesem Datum, stecken das Papier in ein passendes Kuvert und legen es zu ihren Unterlagen. Am Morgen des 20.08.2014 besichtigt M den Rohbau eines von ihr entworfenen Bürogebäudes. Während der Begutachtung der Arbeiten stürzt M von einem Baugerüst und verletzt sich. Umgehend wird die privatversicherte M in die in privater Trägerschaft stehende Spezialklinik der K-GmbH gebracht und dort nach Unterzeichnung der Aufnahmepapiere sofort ärztlich versorgt. Ihr Zustand stabilisiert sich daraufhin. Eine Woche nach dem Unfall kommt der bei der K-GmbH angestellte, fachlich äußerst geschätzte und stets sorgfältige Stationsarzt A zur morgendlichen Visite in Begleitung einer Gruppe Medizinstudenten. Diesen will er das Verabreichen von Infusionen demonstrieren. Er verwechselt aus Unachtsamkeit jedoch die Patientenakten und verabreicht M eine für ihren Zustand viel zu starke Infusion. M fällt daraufhin ins Koma. Die behandelnden Ärzte der KGmbH sind jedoch guter Hoffnung, dass M wieder genesen wird, und empfehlen den regelmäßigen Besuch von V und ihrem Stiefsohn S sowie von T als nahestehenden Personen, da dies nach aktuellen Studien der Genesung von Komapatienten sehr förderlich sei. V, der wie Seite 1 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 M sehr umweltbewusst ist, fährt nun täglich in Begleitung von S mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu M in die Klinik. T besucht ihre Mutter ebenfalls. Entgegen der positiven Prognose erholt sich M jedoch nicht und verstirbt drei Wochen später an den Folgen der Infusion. V kann kaum fassen, dass seine Ehefrau sterben musste. Er meint, er könne zwar sich und S gut unterhalten und erbe ja nun auch das Haus. Die Klinik und der A seien aber doch für das unnötige Leiden seiner Frau und für seine eigene persönliche Trauer verantwortlich und müssten dafür einen finanziellen Ausgleich leisten. Auch seien ihm – was zutrifft – durch die täglichen Fahrten zum Krankenhaus in Begleitung von S über einen Zeitraum von drei Wochen insgesamt 90 € Kosten entstanden (60 € für V, 30 € für S). Diese möchte er erstattet bekommen. Auch für T bricht eine Welt zusammen. Als sie nach einiger Zeit erfährt, dass das Nachlassgericht V einen Erbschein erteilt hat, der diesen als Alleinerben der M ausweist, ist sie außer sich. Sie sieht nicht ein, dass sie als Tochter der M leer ausgehen soll. Das Vermögen der M bestand zum Zeitpunkt ihres Todes aus einem Sparbuch mit einem Guthaben von 40.000 € und dem Hausgrundstück im Wert von 360.000 €. T und V suchen jeweils einen Rechtsanwalt auf und möchten wissen, welche Ansprüche und Rechte ihnen zustehen. A. Welche Ansprüche stehen V aus übergegangenem und/oder eigenem Recht wegen des Leidens der M, seiner eigenen Trauer sowie der Besuchskosten - gegen die K-GmbH - gegen A zu? B. Hat T gegen V einen Zahlungsanspruch aus § 2303 BGB? Wenn ja, in welcher Höhe? Seite 2 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Bearbeitervermerk: Es ist auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen – ggf. hilfsgutachterlich – einzugehen. Die Höhe eines etwaigen Schmerzensgeldes ist nicht zu beziffern. Auf § 2311 BGB wird hingewiesen. Hinweis: Es besteht auch die Möglichkeit, die Klausur noch am Montag, den 07.12.2015, bis 10 Uhr abzugeben. Ausschließliche Abgabemöglichkeit ist ein Einwurf der Klausur in die zentralen Klausurenkurs-Postfächer auf T 3 (Postfach 1266 oder 1274). Eine Abgabe per Telefax, E-Mail oder direkt am Lehrstuhl ist nicht möglich. Bei falscher oder verspäteter Abgabe kann die Klausur leider nicht für eine Korrektur berücksichtigt werden. Rückgabe und Besprechung: Dienstag, 12.01.16, 16 - 18 Uhr in H5 Seite 3 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Lösungsskizze A. Ansprüche des V I. Ansprüche des V gegen die K-GmbH aus übergegangenem Recht (+), wenn die M einen entsprechenden Ersatzanspruch hatte und V Erbe der M geworden ist. 1. Anspruch der M gegen die K-GmbH aus §§ 280 Abs. 1, 630a Abs. 1 BGB a) Behandlungsvertrag zwischen M und K-GmbH gemäß § 630a Abs. 1 BGB Vertrag kommt i.d.R. dadurch zustande, dass der Patient sich in die Behandlung begibt und der Behandelnde die Behandlung übernimmt (Pa- landt74/Weidenkaff, § 630a Rn. 6). Der Behandlungsvertrag kommt mit demjenigen zustande, der die Behandlung zusagt (§ 630a Abs. 1 BGB). Unerheblich ist, wer sie tatsächlich durchführt. M war mit der Behandlung durch die K-GmbH einverstanden und hat noch vor Behandlungsbeginn die Aufnahmepapiere unterzeichnet. Behandlungsvertrag zwischen M und K-GmbH (+) Seite 4 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 b) Pflichtverletzung durch das Anlegen der falschen Infusion Vertragliche Hauptleistungspflicht der K-GmbH nach § 630a Abs. 1 BGB: Leistung der versprochenen Behandlung. Geschuldet ist dabei eine Behandlung, die ein durchschnittlich qualifizierter Arzt des jeweiligen Fachgebiets nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft und Praxis an Kenntnis, Wissen, Können und Aufmerksamkeit erbringen kann (Palandt74/Weidenkaff, § 630a Rn. 10). Es geht daher um den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard (§ 630a Abs. 2 BGB). Hier Pflichtverletzung des A durch Verabreichen einer viel zu starken Infusion Pflichtverletzung muss sich die K-GmbH nach § 278 BGB zurechnen lassen. A ist als angestellter Arzt bei der K-GmbH Erfüllungsgehilfe der K-GmbH. c) Vertretenmüssen A hat nach § 276 Abs. 2 BGB fahrlässig gehandelt, indem er die Patientenakten aus Unachtsamkeit verwechselte und deshalb der M eine viel zu starke Infusion gab. Seite 5 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Hier gilt ebenfalls, dass die K-GmbH sich das Handeln des A gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muss. d) Ersatzfähiger Schaden nach §§ 249 ff. BGB aa) Schmerzensgeld, § 253 Abs. 2 BGB § 253 Abs. 2 BGB bestimmt, dass u. a. für den Fall der Verletzung des Körpers und der Gesundheit auch für einen Nichtvermögensschaden Schadensersatz in Form einer billigen Entschädigung in Geld zu leisten ist. M ist durch die falsche Infusion an Körper und Gesundheit verletzt worden, so dass M hiernach wegen ihres Nichtvermögensschadens eine billige Entschädigung in Geld, d.h. Schmerzensgeld verlangen kann. Funktionen des Schmerzensgeldes: 1. Ausgleichsfunktion für die erlittenen Schmerzen, Leiden und Beeinträchtigungen. 2. Genugtuungsfunktion v.a. bei grob fahrlässiger oder vorsätzlicher Verletzung (Palandt74/ Grüneberg, § 253 BGB Rn. 4). Letztere scheidet hier eher aus (a.A. vertretbar). Es geht daher vorliegend v.a. um die Ausgleichsfunktion. Seite 6 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Schmerzensgeldanspruch fraglich, weil M wegen ihres komatösen Zustands keine Schmerzen hatte und auch nicht bewusst gelitten hatte. Schmerzensgeld dient nicht nur dem Ausgleich von Schmerzen und Leiden, sondern auch dem Ausgleich der Beeinträchtigungen des Verletzten (siehe Funktionen oben). Hier erhebliche Beeinträchtigung der Persönlichkeit der M aufgrund des Verlustes ihrer Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit (vgl. BGHZ 120, 1, 8 f.; BGHZ 138, 388, 391). bb) Besuchskosten Aufwendungen, die durch den Besuch der nächsten Angehörigen eines Unfallverletzten entstehen, gehören nach h.M. zu den zu ersetzenden Heilungskosten gemäß § 249 BGB (Palandt74/ Grüneberg, § 249 Rn. 9; MüKo BGB7/Oetker, § 249 BGB Rn. 411). Die Angehörigen selbst sind von dem Unfall nur mittelbar betroffen und haben deshalb keinen eigenen Anspruch gegen den Schädiger. Gem. § 843 Abs. 4 BGB, der sich auf alle Heilungskosten bezieht, bleibt der Ersatzanspruch des Verletzten davon unberührt, inwieweit die Angehörigen solche Aufwendungen Seite 7 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 selbst getragen haben, gleichviel ob sie zum Unterhalt verpflichtet sind oder nicht (BGH NJW 1979, 598). Die Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit sind im Einzelnen jedoch str. (vgl. BGHZ 106, 28, 30; BGH NJW 1991, 2340, 2341; MüKoBGB7/Oetker, § 249 BGB Rn. 414; ausführlich Seidel, VersR 1991, 1319 ff.). Deshalb problematisch, weil diese Kosten in der Regel nicht dem Verletzten entstehen, sondern den ihn besuchenden Angehörigen. Ein Verzicht des Besuchenden auf den Ausgleich der Kosten, die ihm infolge des Besuchs entstanden sind, soll aber nach h. M. den Schädiger nicht entlasten, so dass die insoweit fehlende negative Vermögensdifferenz bei dem Geschädigten einem Ersatz der Kosten nicht entgegensteht. (Im Grunde geht es hier um einen Fall eines normativen Schadens.) Fraglich ist, ob die Besuchskosten auch erforderlich im Sinne des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB waren. Die Erstattungsfähigkeit der Angehörigenbesuche setzt nach allgemeiner Auffassung voraus, dass sie für die Genesung medizinisch nützlich sind (BGHZ 106, 28, 30; BGH NJW 1991, 2340, 2341; OLG Karlsruhe VersR 1998, 1256; MüKoBGB7/Oetker, § 249 BGB Rn. 414). Seite 8 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Ex-ante-Betrachtung; Prognoserisiko trägt der Schädiger. Hier hielten es die Ärzte für ratsam, dass die im Koma liegende M regelmäßig Besuch von V und S sowie von T bekommen sollte, um ihre Genesung zu fördern. Fraglich aber, ob auch die Besuche von Stiefsohn S ersatzfähig sind. Str., ob die Grundsätze auch bei Besuchen von Personen gelten, die keine Angehörigen des Verletzten im familienrechtlichen Sinne sind, ihm aber auf Grund einer persönlichen Beziehung nahe stehen. Abhängig vom jeweiligen dogmatischen Verständnis Wenn Befürwortung der Durchbrechung des Tatbestandsprinzips, dann Rückgriff auf Wertung der §§ 844, 845 BGB, die eine Durchbrechung des Tatbestandsprinzips nur für einen begrenzten Personenkreis anordnen: Danach nur Besuchskosten von Ehegatten, Lebenspartnern, Eltern und Kindern des Verletzten ersatzfähig (BGH NJW 1991, 2340 (2341) sowie OLG Bremen VersR 2001, 595; KG SP 2010, 147 (Lebensgefährte); OLG Karlsruhe VersR 1998, 1256 (Bruder); OLG Naumburg NJW-RR 2011, 245, 246 f. (Ehemann); Seite 9 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 LG Oldenburg ZfS 1989, 45 (Lebensgefährte)). Ersatzfähig wären danach nur die Besuche von V und T. Wenn dagegen Einordnung als Teil der Behandlung, weil für Heilungsprozess medizinisch förderlich, dann Tatbestandsprinzip gewahrt (MükoBGB7/Oetker, § 249 Rn. 414 ). Für Ersatzfähigkeit der Besuchskosten kommt es dann nicht auf den familienrechtlichen Status der Besucher an. Entscheidend ist vielmehr allein, ob ihr Besuch für die Behandlung medizinisch notwendig ist. Je nach Argumentation sind die Fahrtkosten des V (60 €) bzw. von V und S (90 €) danach zu ersetzen. e) Übergang des Anspruchs auf V nach § 1922 Abs. 1 BGB (+), wenn V Erbe der M nach § 1922 BGB geworden ist (§ 1922 BGB: Anfallserwerb oder Vonselbsterwerb im Gegensatz zum Antrittserwerb in anderen Rechtsordnungen; vgl. auch Universalsukzession = Gesamtrechtsnachfolge: Übergang des gesamten, ungeteilten Vermögens auf den/ die Erben; Anfalls- ./. Antrittserwerb nicht zu verwechseln mit dem Gegensatzpaar Direkterwerb – Durchgangserwerb) Seite 10 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Hier mögl. Einsetzung des V durch Testament der M (§ 1937 BGB). Vorauss.: 1. Das von M und V unterschriebene Schriftstück müsste inhaltlich ein Testament der M darstellen. 2. Einhaltung der Formerfordernisse der §§ 2231 Nr. 2, 2247 BGB Dem Inhalt nach Testament (+) Fraglich aber, ob Form des § 2247 Abs. 1 BGB gewahrt, da M Erklärung nicht selbst geschrieben, sondern lediglich unterschrieben hat. Allerdings bei gemeinschaftlichen Testamenten von Ehegatten Formerleichterung des § 2267 BGB. Danach genügt es zur Errichtung eines gemeinschaftlichen Testaments, wenn einer der Ehegatten das Testament in der Form des § 2247 BGB errichtet und der andere Ehegatte die gemeinschaftliche Erklärung lediglich eigenhändig mitunterzeichnet (§ 2267 S. 1 BGB). Einhaltung der Soll-Vorschriften der §§ 2247 Abs. 2, 2267 S. 2 BGB hinsichtlich Ort und Datum der Unterschrift ist für die Wirksamkeit nicht erforderlich, im vorliegenden Fall aber gegeben. Der Schmerzensgeldanspruch ist ohne Einschränkungen vererblich (Palandt74/ Grüneberg, § 253 Rn. 22). Seite 11 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 V kann daher den Anspruch der M als ihr Erbe gem. § 1922 Abs. 1 BGB geltend machen. Ergebnis zu 1. V hat gegen die K-GmbH einen Schadensersatzanspruch aus übergegangenem Recht aus §§ 280 Abs. 1, 630a, 1922 Abs. 1 BGB auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes für das dreiwöchige Koma der M und Ersatz der Fahrtkosten in Höhe von 90 € (je nach Argumentation, siehe oben) 2. Anspruch der M gegen die K-GmbH aus §§ 823 Abs. 1, 1922 Abs. 1 BGB (-) aufgrund mangelnder eigener Verletzungshandlung der KGmbH. Anhaltspunkte für eine Organisationspflichtverletzung der K-GmbH (-) 3. Anspruch der M gegen die K-GmbH aus §§ 831, 1922 Abs. 1 BGB a) A = Verrichtungsgehilfe Seite 12 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Verrichtungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn in dessen Interesse tätig wird und ihm gegenüber weisungsgebunden ist. Als angestellter Arzt bei der K-GmbH ist A ihr Verrichtungsgehilfe. b) Tatbestandsmäßige rechtswidrige unerlaubte Handlung des A A hat durch die Verabreichung der falschen Infusion fahrlässig den Tod der M herbeigeführt; hier gilt das oben (A. I. 1.) zur Haftung aufgrund des Behandlungsvertrags Gesagte entsprechend. Somit rechtswidrige unerlaubte Handlung des A i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB (+) c) In Ausführung der Verrichtung (+), denn A hat die Infusion auf einer regulären Visite verabreicht d) Exkulpation nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB Die Haftung des Geschäftsherrn entfällt, wenn er beweisen kann, dass er den Verrichtungsgehilfen sorgsam ausgewählt und geleitet hat oder dass der Schaden selbst dann entstanden wäre, wenn der Ge- Seite 13 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 schäftsherr bei der Auswahl und Überwachung des Gehilfen die gebotene Sorgfalt beachtet hätte. A ist fachlich hoch angesehen und hat stets ausgesprochen sorgfältig gearbeitet. Dies lässt darauf schließen, dass A von der KGmbH gut ausgewählt wurde und Anhaltspunkte für eine Verpflichtung zur intensiven Überwachung nicht gegeben sind. Die K-GmbH kann sich somit exkulpieren (a.A. vertretbar). II. Ansprüche des V gegen die K-GmbH aus eigenem Recht 1. Anspruch des V gegen die K-GmbH auf Ersatz der Fahrtkosten aus §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB Rspr.: Anspruch aus §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB des besuchenden Angehörigen (+), weil er mit seinen der Heilung des Verletzten dienenden Besuchen objektiv ein Geschäft des Ersatzpflichtigen besorge (BGH NJW 1979, 598 f.; Palandt74/ Grüneberg, § 249 BGB Rn. 9). Der Fremdgeschäftsführungswille wird dabei vermutet. Da die Geschäftsführung Seite 14 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 hier im Interesse der K-GmbH war, wird auch vermutet, dass sie ihrem Willen entspricht. Anmerkung: Abgestellt werden könnte wohl auch auf § 679 BGB. Kritik seitens der Lit. (Seidel, VersR 1991, 1319, 1323) an der Rspr.: Es fehle an einem fremden Geschäft bzw. an einem Fremdgeschäftsführungswillen des Angehörigen, weil der Angehörige seine eigene (Unterhalts-) Pflicht gegenüber dem Verletzten erfülle bzw. erfüllen wolle. Doch dürfte dies der Annahme einer Fremdgeschäftsführung nicht entgegenstehen (Fall des auch-fremden Geschäftes) Anmerkung: Der Anspruch aus GoA muss nicht zwingend geprüft werden. 2. Anspruch des V gegen die K-GmbH auf Ersatz der Fahrtkosten aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB Frühere Rspr. und Lit. (+) mit dem Arg., dass durch die Übernahme der Kosten für den Besuch eine entsprechende Verbindlichkeit des Schädigers getilgt werde (Seidel, VersR 1991, 1319, 1324).. Neuere Rspr. (-) (BGH NJW 1979, 598, 599). Seite 15 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Gewährung eines Anspruchs aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB (Rückgriffskondiktion) dürfte auch kaum mit der Annahme eines Schadensersatzanspruchs des Verletzten auf Ersatz der Besuchskosten vereinbar sein, denn dann hat der Schädiger gem. § 843 Abs. 4 BGB keine Befreiung von einer Verbindlichkeit durch den Besuch erlangt (vgl. Seidel, VersR 1991, 1319, 1323 ff.). Im Übrigen: Wenn berechtigte GoA (+), dann Vorliegen eines Rechtsgrundes Anmerkung: Der Anspruch aus § 812 BGB muss nicht zwingend geprüft werden. III. Ansprüche V gegen A aus übergegangenem Recht 1. Anspruch des V gegen A wegen Verletzung der M aus übergegangenem Recht aus §§ 280 Abs. 1, 630a, 1922 Abs. 1 BGB (-) mangels Behandlungsvertrag zwischen M und A 2. Anspruch des V gegen A wegen Verletzung der M aus übergegangenem Recht aus §§ 823 Abs. 1, 1922 Abs. 1 BGB A hat durch die Infusion die M fahrlässig an Körper und Gesundheit verletzt; hier gilt das oben (A. I. 1.) zur HafSeite 16 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 tung aufgrund des Behandlungsvertrags Gesagte entsprechend. Er haftet daher nach § 823 Abs. 1 BGB. M kann ein angemessenes Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB für das dreiwöchige Koma und Ersatz für die Besuchskosten nach § 249 Abs. 2 BGB verlangen (oben A. I. 1. d). Dieser Anspruch geht auf V nach § 1922 Abs. 1 BGB über. IV. Ansprüche des V gegen A aus eigenem Recht 1. Anspruch des V gegen A wegen einer eigenen Gesundheitsverletzung des V aus § 823 Abs. 1 BGB Gesundheitsbeeinträchtigung des V durch Koma bzw. durch Tod der M? Gesundheitsbeschädigung i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB setzt keine unmittelbare physische Einwirkung auf den Körper des Verletzten voraus, vielmehr kann sie auch psychisch vermittelt werden. Evtl. Schockschaden (vgl. Palandt74/ Grüneberg, § 253 Rn. 11; PWW/ Medicus/Luckey, § 253 BGB Rn. 2). Der verursachte Schock muss den Grad einer Körperverletzung i.S.v. § 823 I BGB erreichen. Dafür muss die Gesundheitsbeeinträchtigung nach Art und Schwere deutlich über das hinausgehen, was Nahestehende als mittelbar Betroffene in derartigen Fällen erSeite 17 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 fahrungsgemäß an Beeinträchtigungen erleiden (Palandt74/ Grüneberg, Vorb. v. § 249 Rn. 40). Dies ist regelmäßig gegeben, wenn eine ärztliche Heilbehandlung erforderlich ist. Dafür keine Anhaltspunkte. 2. Anspruch des V gegen A auf Ersatz der Fahrtkosten aus §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB Hier gilt das zu diesem Anspruch gegen die K-GmbH Gesagte entsprechend (oben A. II. 1.). 3. Anspruch des V gegen A auf Ersatz der Fahrtkosten aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB Hier gilt das zu diesem Anspruch gegen die K-GmbH Gesagte entsprechend (oben A. II. 2.). V. Verhältnis der Haftung der K-GmbH und des A Die K-GmbH und A haften als Gesamtschuldner i.S.d. § 840 Abs. 1 BGB V hat gegen die K-GmbH und gegen A jeweils einen durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und auf Ersatz der Besuchskosten. Seite 18 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Eine Gesamtschuld kann auch kraft Zweckgemeinschaft entstehen. Eine Zweckgemeinschaft liegt bei einem Schuldner und seinem Erfüllungsgehilfen vor (MüKoBGB7/ Bydlinski, § 421 Rn. 51). Anmerkung: Die vorstehenden Ausführungen zur Gesamtschuldnerschaft sind nach der Fallfrage keinesfalls erforderlich. B. Anspruch von T gegen V auf Zahlung des Pflichtteils aus § 2303 Abs. 1 BGB in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Erbteils (+), wenn die Voraussetzungen des § 2303 BGB erfüllt sind. I. T als Pflichtteilsberechtigte T muss in Bezug auf den Nachlass der M pflichtteilsberechtigt sein. Pflichtteilsberechtigt sind u. a. die Abkömmlinge (§ 2303 Abs. 1 BGB). T ist als Tochter der M ihr Abkömmling (vgl. § 1589 BGB) und somit pflichtteilsberechtigt. II. Ausschluss der T von der gesetzlichen Erbfolge durch Verfügung von Todes wegen (+) durch das Testament der M, in dem sie V zum Alleinerben einsetzte. Daran ändert auch der Umstand, dass M und V ihre Kinder T und S als Schlusserben eingesetzt haben, nichts (vgl. auch § Seite 19 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 2269 Abs. 1 BGB). Der von der Erbfolge nach dem Erstverstorbenen ausgeschlossene Schlusserbe kann als Abkömmling des erstverstorbenen Erblassers vom Überlebenden seinen Pflichtteil fordern (Palandt74/Weidlich, § 2269 Rn. 11). III. Höhe des Pflichtteilsanspruchs der T Pflichtteilsanspruch (Geldanspruch, vgl. § 2303 Abs. 1 BGB) = Hälfte des Werts des gesetzlichen Erbteils (§ 2303 Abs.1 S. 2 BGB) Bei seiner Berechnung wird der Bestand und der Wert des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalls zugrunde gelegt (§ 2311 Abs. 1 S. 1 BGB). : Spareinlage im Wert von 40.000 € Wohnhaus im Wert von 360.000 € Wert des Nachlasses insgesamt 400.000 € Zu klären ist, wer die gesetzlichen Erben der M gewesen sind. Dies bestimmt sich nach den §§ 1924 ff. BGB. T als Tochter und damit als direkter Abkömmling der M ist nach § 1924 Abs. 1 BGB gesetzliche Erbin erster Ordnung. S ist das Kind des V, aber nicht der M und daher kein Abkömmling von M, so dass ihm auch kein gesetzliches Erbrecht zusteht. Seite 20 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 Für V als Ehemann der M bestimmt sich das gesetzliche Erbrecht nach § 1931 BGB. Danach ist der überlebende Ehegatte des Erblassers neben Verwandten der ersten Ordnung zu einem Viertel als gesetzlicher Erbe berufen, vgl. § 1931 Abs. 1 S. 1 BGB. Nach dem gesetzlichen Erbrecht wären daher T und V nebeneinander Erben der M, wobei T zu ¾ und V zu ¼ geerbt hätte. Allerdings orientiert sich die Erbquote des überlebenden Ehegatten noch an einem weiteren Faktor und zwar an der Art des ehelichen Güterstandes: Lebte der Erblasser im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft (§ 1363 BGB), wird der Zugewinn erbrechtlich pauschal ausgeglichen, indem sich der gesetzliche Erbteil des überlebenden Ehegatten nach § 1371 Abs. 1 BGB um ¼ erhöht (vgl. auch § 1931 Abs. 3 BGB). M und V lebten im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Die Grundquote des V erhöht sich um ¼ und damit auf die Hälfte des Nachlasses, so dass der gesetzliche Erbteil der T ½ betragen hätte. Der Pflichtteilsanspruch der T beträgt daher ¼ des Wertes des Nachlasses der M, d.h. 100.000 €. Seite 21 von 22 Prof. Dr. Ingo Reichard Examensklausurenkurs WS 2015/16 IV. Ergebnis T hat gegen V einen Anspruch auf Zahlung ihres Pflichtteils aus § 2303 Abs. 1 BGB in Höhe von 100.000 €. Seite 22 von 22
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