gegenüber Projektionsfolie erweiterte Fassung

Prof. Dr. Ingo Reichard
Examensklausurenkurs
WS 2015/16
Examensklausurenkurs Zivilrecht
Klausur vom 5. Dezember 2015
Die Architektin M und der Bauingenieur V sind seit Juni 2013 glücklich in zweiter Ehe verheiratet. Sie leben im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Aus der ersten Ehe
der M mit dem mittlerweile verstorbenen Musiker O entstammt die 20-jährige Studentin T. T
lebt bei ihrer Tante H, da sie sich mit V nicht besonders gut versteht. Andere Verwandte als
M und H hat T nicht. V, ebenfalls verwitwet, hat aus erster Ehe einen 17-jährigen Sohn S. M,
V und S leben zusammen im Haus der M in Castrop-Rauxel.
Ende 2013 beschließen M und V, für den Fall ihres Todes vorzusorgen und damit mögliche
Streitigkeiten zwischen ihren jeweiligen Kindern zu verhindern. V schreibt daher mit seinem
Füllfederhalter auf ein Blatt Papier:
Wir, die Eheleute M und V, setzen uns hiermit gegenseitig zu alleinigen Erben unseres
gesamten Nachlasses ein. Erben des Letztversterbenden sollen unsere Kinder T und S
zu gleichen Teilen sein.
Castrop-Rauxel, den 27.12.2013………..
V und M unterschreiben anschließend beide rechts neben diesem Datum, stecken das Papier
in ein passendes Kuvert und legen es zu ihren Unterlagen.
Am Morgen des 20.08.2014 besichtigt M den Rohbau eines von ihr entworfenen Bürogebäudes. Während der Begutachtung der Arbeiten stürzt M von einem Baugerüst und verletzt sich.
Umgehend wird die privatversicherte M in die in privater Trägerschaft stehende Spezialklinik
der K-GmbH gebracht und dort nach Unterzeichnung der Aufnahmepapiere sofort ärztlich
versorgt. Ihr Zustand stabilisiert sich daraufhin.
Eine Woche nach dem Unfall kommt der bei der K-GmbH angestellte, fachlich äußerst geschätzte und stets sorgfältige Stationsarzt A zur morgendlichen Visite in Begleitung einer
Gruppe Medizinstudenten. Diesen will er das Verabreichen von Infusionen demonstrieren. Er
verwechselt aus Unachtsamkeit jedoch die Patientenakten und verabreicht M eine für ihren
Zustand viel zu starke Infusion. M fällt daraufhin ins Koma. Die behandelnden Ärzte der KGmbH sind jedoch guter Hoffnung, dass M wieder genesen wird, und empfehlen den regelmäßigen Besuch von V und ihrem Stiefsohn S sowie von T als nahestehenden Personen, da
dies nach aktuellen Studien der Genesung von Komapatienten sehr förderlich sei. V, der wie
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M sehr umweltbewusst ist, fährt nun täglich in Begleitung von S mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu M in die Klinik. T besucht ihre Mutter ebenfalls. Entgegen der positiven Prognose
erholt sich M jedoch nicht und verstirbt drei Wochen später an den Folgen der Infusion.
V kann kaum fassen, dass seine Ehefrau sterben musste. Er meint, er könne zwar sich und S
gut unterhalten und erbe ja nun auch das Haus. Die Klinik und der A seien aber doch für das
unnötige Leiden seiner Frau und für seine eigene persönliche Trauer verantwortlich und
müssten dafür einen finanziellen Ausgleich leisten. Auch seien ihm – was zutrifft – durch die
täglichen Fahrten zum Krankenhaus in Begleitung von S über einen Zeitraum von drei Wochen insgesamt 90 € Kosten entstanden (60 € für V, 30 € für S). Diese möchte er erstattet bekommen.
Auch für T bricht eine Welt zusammen. Als sie nach einiger Zeit erfährt, dass das Nachlassgericht V einen Erbschein erteilt hat, der diesen als Alleinerben der M ausweist, ist sie außer
sich. Sie sieht nicht ein, dass sie als Tochter der M leer ausgehen soll. Das Vermögen der M
bestand zum Zeitpunkt ihres Todes aus einem Sparbuch mit einem Guthaben von 40.000 €
und dem Hausgrundstück im Wert von 360.000 €.
T und V suchen jeweils einen Rechtsanwalt auf und möchten wissen, welche Ansprüche und
Rechte ihnen zustehen.
A. Welche Ansprüche stehen V aus übergegangenem und/oder eigenem Recht wegen des
Leidens der M, seiner eigenen Trauer sowie der Besuchskosten
- gegen die K-GmbH
- gegen A
zu?
B. Hat T gegen V einen Zahlungsanspruch aus § 2303 BGB? Wenn ja, in welcher Höhe?
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Bearbeitervermerk:
Es ist auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen – ggf. hilfsgutachterlich – einzugehen. Die Höhe
eines etwaigen Schmerzensgeldes ist nicht zu beziffern. Auf § 2311 BGB wird hingewiesen.
Hinweis:
Es besteht auch die Möglichkeit, die Klausur noch am Montag, den 07.12.2015, bis 10 Uhr
abzugeben.
Ausschließliche Abgabemöglichkeit ist ein Einwurf der Klausur in die zentralen Klausurenkurs-Postfächer auf T 3 (Postfach 1266 oder 1274). Eine Abgabe per Telefax, E-Mail oder
direkt am Lehrstuhl ist nicht möglich.
Bei falscher oder verspäteter Abgabe kann die Klausur leider nicht für eine Korrektur berücksichtigt werden.
Rückgabe und Besprechung: Dienstag, 12.01.16, 16 - 18 Uhr in H5
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Lösungsskizze
A. Ansprüche des V
I. Ansprüche des V gegen die K-GmbH aus übergegangenem
Recht
(+), wenn die M einen entsprechenden Ersatzanspruch hatte und
V Erbe der M geworden ist.
1. Anspruch der M gegen die K-GmbH aus §§ 280 Abs. 1,
630a Abs. 1 BGB
a) Behandlungsvertrag zwischen M und K-GmbH gemäß
§ 630a Abs. 1 BGB
 Vertrag kommt i.d.R. dadurch zustande, dass der Patient sich in die Behandlung begibt und der Behandelnde
die
Behandlung
übernimmt
(Pa-
landt74/Weidenkaff, § 630a Rn. 6).
 Der Behandlungsvertrag kommt mit demjenigen zustande, der die Behandlung zusagt (§ 630a Abs. 1
BGB). Unerheblich ist, wer sie tatsächlich durchführt.
M war mit der Behandlung durch die K-GmbH
einverstanden und hat noch vor Behandlungsbeginn
die Aufnahmepapiere unterzeichnet.
 Behandlungsvertrag zwischen M und K-GmbH (+)
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b) Pflichtverletzung durch das Anlegen der falschen Infusion
 Vertragliche Hauptleistungspflicht der K-GmbH nach
§ 630a Abs. 1 BGB: Leistung der versprochenen Behandlung.
 Geschuldet ist dabei eine Behandlung, die ein durchschnittlich qualifizierter Arzt des jeweiligen Fachgebiets nach dem jeweiligen Stand der medizinischen
Wissenschaft und Praxis an Kenntnis, Wissen, Können und Aufmerksamkeit erbringen kann (Palandt74/Weidenkaff, § 630a Rn. 10).
 Es geht daher um den zum Zeitpunkt der Behandlung
bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standard (§ 630a Abs. 2 BGB).
Hier Pflichtverletzung des A durch Verabreichen
einer viel zu starken Infusion
Pflichtverletzung muss sich die K-GmbH nach §
278 BGB zurechnen lassen. A ist als angestellter Arzt
bei der K-GmbH Erfüllungsgehilfe der K-GmbH.
c) Vertretenmüssen
 A hat nach § 276 Abs. 2 BGB fahrlässig gehandelt,
indem er die Patientenakten aus Unachtsamkeit verwechselte und deshalb der M eine viel zu starke Infusion gab.
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 Hier gilt ebenfalls, dass die K-GmbH sich das Handeln des A gemäß § 278 BGB zurechnen lassen muss.
d) Ersatzfähiger Schaden nach §§ 249 ff. BGB
aa) Schmerzensgeld, § 253 Abs. 2 BGB
 § 253 Abs. 2 BGB bestimmt, dass u. a. für den Fall
der Verletzung des Körpers und der Gesundheit auch
für einen Nichtvermögensschaden Schadensersatz in
Form einer billigen Entschädigung in Geld zu leisten
ist.
M ist durch die falsche Infusion an Körper und Gesundheit verletzt worden, so dass M hiernach wegen
ihres Nichtvermögensschadens eine billige Entschädigung in Geld, d.h. Schmerzensgeld verlangen kann.
 Funktionen des Schmerzensgeldes:
1. Ausgleichsfunktion für die erlittenen Schmerzen, Leiden und Beeinträchtigungen.
2. Genugtuungsfunktion v.a. bei grob fahrlässiger
oder vorsätzlicher Verletzung (Palandt74/ Grüneberg, § 253 BGB Rn. 4).
Letztere scheidet hier eher aus (a.A. vertretbar). Es geht daher vorliegend v.a. um die Ausgleichsfunktion.
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 Schmerzensgeldanspruch fraglich, weil M wegen ihres komatösen Zustands keine Schmerzen hatte und
auch nicht bewusst gelitten hatte.
 Schmerzensgeld dient nicht nur dem Ausgleich von
Schmerzen und Leiden, sondern auch dem Ausgleich
der Beeinträchtigungen des Verletzten (siehe Funktionen oben).
Hier erhebliche Beeinträchtigung der Persönlichkeit der M aufgrund des Verlustes ihrer Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit (vgl. BGHZ 120,
1, 8 f.; BGHZ 138, 388, 391).
bb) Besuchskosten
 Aufwendungen, die durch den Besuch der nächsten
Angehörigen eines Unfallverletzten entstehen, gehören nach h.M. zu den zu ersetzenden Heilungskosten
gemäß § 249 BGB (Palandt74/ Grüneberg, § 249 Rn.
9; MüKo BGB7/Oetker, § 249 BGB Rn. 411). Die
Angehörigen selbst sind von dem Unfall nur mittelbar
betroffen und haben deshalb keinen eigenen Anspruch gegen den Schädiger. Gem. § 843 Abs. 4
BGB, der sich auf alle Heilungskosten bezieht, bleibt
der Ersatzanspruch des Verletzten davon unberührt,
inwieweit die Angehörigen solche Aufwendungen
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selbst getragen haben, gleichviel ob sie zum Unterhalt
verpflichtet sind oder nicht (BGH NJW 1979, 598).
 Die Voraussetzungen für die Erstattungsfähigkeit
sind im Einzelnen jedoch str. (vgl. BGHZ 106, 28,
30;
BGH
NJW
1991,
2340,
2341;
MüKoBGB7/Oetker, § 249 BGB Rn. 414; ausführlich
Seidel, VersR 1991, 1319 ff.).
 Deshalb problematisch, weil diese Kosten in der Regel nicht dem Verletzten entstehen, sondern den ihn
besuchenden Angehörigen.
 Ein Verzicht des Besuchenden auf den Ausgleich der
Kosten, die ihm infolge des Besuchs entstanden sind,
soll aber nach h. M. den Schädiger nicht entlasten, so
dass die insoweit fehlende negative Vermögensdifferenz bei dem Geschädigten einem Ersatz der Kosten
nicht entgegensteht. (Im Grunde geht es hier um einen Fall eines normativen Schadens.)
 Fraglich ist, ob die Besuchskosten auch erforderlich
im Sinne des § 249 Abs. 2 S. 1 BGB waren.
Die Erstattungsfähigkeit der Angehörigenbesuche
setzt nach allgemeiner Auffassung voraus, dass sie
für die Genesung medizinisch nützlich sind (BGHZ
106, 28, 30; BGH NJW 1991, 2340, 2341; OLG
Karlsruhe VersR 1998, 1256; MüKoBGB7/Oetker, §
249 BGB Rn. 414).
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Ex-ante-Betrachtung; Prognoserisiko trägt der
Schädiger.
Hier hielten es die Ärzte für ratsam, dass die im
Koma liegende M regelmäßig Besuch von V und S
sowie von T bekommen sollte, um ihre Genesung zu
fördern.
 Fraglich aber, ob auch die Besuche von Stiefsohn S
ersatzfähig sind.
 Str., ob die Grundsätze auch bei Besuchen von Personen gelten, die keine Angehörigen des Verletzten im
familienrechtlichen Sinne sind, ihm aber auf Grund
einer persönlichen Beziehung nahe stehen.
Abhängig vom jeweiligen dogmatischen Verständnis
 Wenn Befürwortung der Durchbrechung des Tatbestandsprinzips, dann Rückgriff auf Wertung der
§§ 844, 845 BGB, die eine Durchbrechung des
Tatbestandsprinzips nur für einen begrenzten Personenkreis anordnen: Danach nur Besuchskosten
von Ehegatten, Lebenspartnern, Eltern und Kindern des Verletzten ersatzfähig (BGH NJW 1991,
2340 (2341) sowie OLG Bremen VersR 2001,
595; KG SP 2010, 147 (Lebensgefährte); OLG
Karlsruhe VersR 1998, 1256 (Bruder); OLG
Naumburg NJW-RR 2011, 245, 246 f. (Ehemann);
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LG Oldenburg ZfS 1989, 45 (Lebensgefährte)).
Ersatzfähig wären danach nur die Besuche von
V und T.
 Wenn dagegen Einordnung als Teil der Behandlung, weil für Heilungsprozess medizinisch förderlich,
dann
Tatbestandsprinzip
gewahrt
(MükoBGB7/Oetker, § 249 Rn. 414 ). Für Ersatzfähigkeit der Besuchskosten kommt es dann nicht
auf den familienrechtlichen Status der Besucher
an. Entscheidend ist vielmehr allein, ob ihr Besuch
für die Behandlung medizinisch notwendig ist.
 Je nach Argumentation sind die Fahrtkosten des V
(60 €) bzw. von V und S (90 €) danach zu ersetzen.
e) Übergang des Anspruchs auf V nach § 1922 Abs. 1
BGB
(+), wenn V Erbe der M nach § 1922 BGB geworden ist
 (§ 1922 BGB: Anfallserwerb oder Vonselbsterwerb
im Gegensatz zum Antrittserwerb in anderen Rechtsordnungen; vgl. auch Universalsukzession = Gesamtrechtsnachfolge: Übergang des gesamten, ungeteilten
Vermögens auf den/ die Erben; Anfalls- ./. Antrittserwerb nicht zu verwechseln mit dem Gegensatzpaar Direkterwerb – Durchgangserwerb)
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Hier mögl. Einsetzung des V durch Testament der
M (§ 1937 BGB).
Vorauss.:
1. Das von M und V unterschriebene Schriftstück müsste inhaltlich ein Testament der M darstellen.
2. Einhaltung der Formerfordernisse der §§ 2231 Nr. 2,
2247 BGB
 Dem Inhalt nach Testament (+)
 Fraglich aber, ob Form des § 2247 Abs. 1 BGB gewahrt,
da M Erklärung nicht selbst geschrieben, sondern lediglich unterschrieben hat.
 Allerdings bei gemeinschaftlichen Testamenten von
Ehegatten Formerleichterung des § 2267 BGB. Danach genügt es zur Errichtung eines gemeinschaftlichen
Testaments, wenn einer der Ehegatten das Testament in
der Form des § 2247 BGB errichtet und der andere Ehegatte die gemeinschaftliche Erklärung lediglich eigenhändig mitunterzeichnet (§ 2267 S. 1 BGB).
 Einhaltung der Soll-Vorschriften der §§ 2247 Abs. 2,
2267 S. 2 BGB hinsichtlich Ort und Datum der Unterschrift ist für die Wirksamkeit nicht erforderlich, im
vorliegenden Fall aber gegeben.
 Der Schmerzensgeldanspruch ist ohne Einschränkungen
vererblich (Palandt74/ Grüneberg, § 253 Rn. 22).
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V kann daher den Anspruch der M als ihr Erbe gem. §
1922 Abs. 1 BGB geltend machen.
Ergebnis zu 1.
V hat gegen die K-GmbH einen Schadensersatzanspruch aus
übergegangenem Recht aus §§ 280 Abs. 1, 630a, 1922 Abs. 1
BGB auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes für
das dreiwöchige Koma der M und Ersatz der Fahrtkosten in
Höhe von 90 € (je nach Argumentation, siehe oben)
2. Anspruch der M gegen die K-GmbH aus §§ 823 Abs. 1,
1922 Abs. 1 BGB
(-) aufgrund mangelnder eigener Verletzungshandlung der KGmbH. Anhaltspunkte für eine Organisationspflichtverletzung
der K-GmbH (-)
3. Anspruch der M gegen die K-GmbH aus §§ 831, 1922 Abs.
1 BGB
a) A = Verrichtungsgehilfe
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 Verrichtungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen
des Geschäftsherrn in dessen Interesse tätig wird und
ihm gegenüber weisungsgebunden ist.
Als angestellter Arzt bei der K-GmbH ist A ihr
Verrichtungsgehilfe.
b) Tatbestandsmäßige rechtswidrige unerlaubte Handlung
des A
 A hat durch die Verabreichung der falschen Infusion
fahrlässig den Tod der M herbeigeführt; hier gilt das
oben (A. I. 1.) zur Haftung aufgrund des Behandlungsvertrags Gesagte entsprechend.
Somit rechtswidrige unerlaubte Handlung des A
i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB (+)
c) In Ausführung der Verrichtung
(+), denn A hat die Infusion auf einer regulären Visite verabreicht
d) Exkulpation nach § 831 Abs. 1 S. 2 BGB
 Die Haftung des Geschäftsherrn entfällt, wenn er beweisen kann, dass er den Verrichtungsgehilfen sorgsam ausgewählt und geleitet hat oder dass der Schaden selbst dann entstanden wäre, wenn der Ge-
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schäftsherr bei der Auswahl und Überwachung des
Gehilfen die gebotene Sorgfalt beachtet hätte.
A ist fachlich hoch angesehen und hat stets ausgesprochen sorgfältig gearbeitet.
Dies lässt darauf schließen, dass A von der KGmbH gut ausgewählt wurde und Anhaltspunkte für
eine Verpflichtung zur intensiven Überwachung nicht
gegeben sind.
Die K-GmbH kann sich somit exkulpieren (a.A.
vertretbar).
II. Ansprüche des V gegen die K-GmbH aus eigenem Recht
1. Anspruch des V gegen die K-GmbH auf Ersatz der Fahrtkosten aus §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB
 Rspr.:
Anspruch aus §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB des besuchenden
Angehörigen (+), weil er mit seinen der Heilung des Verletzten dienenden Besuchen objektiv ein Geschäft des Ersatzpflichtigen besorge (BGH NJW 1979, 598 f.; Palandt74/
Grüneberg, § 249 BGB Rn. 9). Der Fremdgeschäftsführungswille wird dabei vermutet. Da die Geschäftsführung
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hier im Interesse der K-GmbH war, wird auch vermutet,
dass sie ihrem Willen entspricht.
Anmerkung: Abgestellt werden könnte wohl auch auf § 679
BGB.
 Kritik seitens der Lit. (Seidel, VersR 1991, 1319, 1323)
an der Rspr.: Es fehle an einem fremden Geschäft bzw. an
einem Fremdgeschäftsführungswillen des Angehörigen,
weil der Angehörige seine eigene (Unterhalts-) Pflicht gegenüber dem Verletzten erfülle bzw. erfüllen wolle.
 Doch dürfte dies der Annahme einer Fremdgeschäftsführung nicht entgegenstehen (Fall des auch-fremden Geschäftes)
Anmerkung: Der Anspruch aus GoA muss nicht zwingend geprüft werden.
2. Anspruch des V gegen die K-GmbH auf Ersatz der Fahrtkosten aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
 Frühere Rspr. und Lit. (+) mit dem Arg., dass durch
die Übernahme der Kosten für den Besuch eine entsprechende Verbindlichkeit des Schädigers getilgt
werde (Seidel, VersR 1991, 1319, 1324)..
 Neuere Rspr. (-) (BGH NJW 1979, 598, 599).
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 Gewährung eines Anspruchs aus § 812 Abs. 1 S. 1
Alt. 2 BGB (Rückgriffskondiktion) dürfte auch kaum
mit der Annahme eines Schadensersatzanspruchs des
Verletzten auf Ersatz der Besuchskosten vereinbar
sein, denn dann hat der Schädiger gem. § 843 Abs. 4
BGB keine Befreiung von einer Verbindlichkeit
durch den Besuch erlangt (vgl. Seidel, VersR 1991,
1319, 1323 ff.).
 Im Übrigen: Wenn berechtigte GoA (+), dann Vorliegen eines Rechtsgrundes
Anmerkung: Der Anspruch aus § 812 BGB muss nicht zwingend geprüft werden.
III.
Ansprüche V gegen A aus übergegangenem Recht
1. Anspruch des V gegen A wegen Verletzung der M aus
übergegangenem Recht aus §§ 280 Abs. 1, 630a, 1922 Abs.
1 BGB
(-) mangels Behandlungsvertrag zwischen M und A
2. Anspruch des V gegen A wegen Verletzung der M aus
übergegangenem Recht aus §§ 823 Abs. 1, 1922 Abs. 1
BGB
 A hat durch die Infusion die M fahrlässig an Körper und
Gesundheit verletzt; hier gilt das oben (A. I. 1.) zur HafSeite 16 von 22
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tung aufgrund des Behandlungsvertrags Gesagte entsprechend. Er haftet daher nach § 823 Abs. 1 BGB.
 M kann ein angemessenes Schmerzensgeld nach § 253
Abs. 2 BGB für das dreiwöchige Koma und Ersatz für
die Besuchskosten nach § 249 Abs. 2 BGB verlangen
(oben A. I. 1. d). Dieser Anspruch geht auf V nach
§ 1922 Abs. 1 BGB über.
IV.
Ansprüche des V gegen A aus eigenem Recht
1. Anspruch des V gegen A wegen einer eigenen Gesundheitsverletzung des V aus § 823 Abs. 1 BGB
 Gesundheitsbeeinträchtigung des V durch Koma bzw.
durch Tod der M?
 Gesundheitsbeschädigung i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB setzt
keine unmittelbare physische Einwirkung auf den Körper des Verletzten voraus, vielmehr kann sie auch psychisch vermittelt werden.
 Evtl. Schockschaden (vgl. Palandt74/ Grüneberg, § 253
Rn. 11; PWW/ Medicus/Luckey, § 253 BGB Rn. 2).
Der verursachte Schock muss den Grad einer Körperverletzung i.S.v. § 823 I BGB erreichen.
Dafür muss die Gesundheitsbeeinträchtigung nach Art
und Schwere deutlich über das hinausgehen, was Nahestehende als mittelbar Betroffene in derartigen Fällen erSeite 17 von 22
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fahrungsgemäß an Beeinträchtigungen erleiden (Palandt74/ Grüneberg, Vorb. v. § 249 Rn. 40).
Dies ist regelmäßig gegeben, wenn eine ärztliche
Heilbehandlung erforderlich ist.
Dafür keine Anhaltspunkte.
2. Anspruch des V gegen A auf Ersatz der Fahrtkosten aus
§§ 677, 683 S. 1, 670 BGB
Hier gilt das zu diesem Anspruch gegen die K-GmbH Gesagte
entsprechend (oben A. II. 1.).
3. Anspruch des V gegen A auf Ersatz der Fahrtkosten aus §
812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB
Hier gilt das zu diesem Anspruch gegen die K-GmbH Gesagte
entsprechend (oben A. II. 2.).
V. Verhältnis der Haftung der K-GmbH und des A
Die K-GmbH und A haften als Gesamtschuldner i.S.d. § 840
Abs. 1 BGB
 V hat gegen die K-GmbH und gegen A jeweils einen
durchsetzbaren Anspruch auf Zahlung eines angemessenen
Schmerzensgeldes und auf Ersatz der Besuchskosten.
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 Eine Gesamtschuld kann auch kraft Zweckgemeinschaft
entstehen. Eine Zweckgemeinschaft liegt bei einem
Schuldner und seinem Erfüllungsgehilfen vor (MüKoBGB7/ Bydlinski, § 421 Rn. 51).
Anmerkung: Die vorstehenden Ausführungen zur Gesamtschuldnerschaft sind nach der Fallfrage keinesfalls erforderlich.
B. Anspruch von T gegen V auf Zahlung des Pflichtteils aus §
2303 Abs. 1 BGB in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Erbteils
(+), wenn die Voraussetzungen des § 2303 BGB erfüllt sind.
I. T als Pflichtteilsberechtigte
 T muss in Bezug auf den Nachlass der M pflichtteilsberechtigt sein. Pflichtteilsberechtigt sind u. a. die Abkömmlinge (§ 2303 Abs. 1 BGB).
T ist als Tochter der M ihr Abkömmling (vgl. § 1589
BGB) und somit pflichtteilsberechtigt.
II.
Ausschluss der T von der gesetzlichen Erbfolge durch
Verfügung von Todes wegen
(+) durch das Testament der M, in dem sie V zum Alleinerben
einsetzte.
Daran ändert auch der Umstand, dass M und V ihre Kinder T
und S als Schlusserben eingesetzt haben, nichts (vgl. auch §
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2269 Abs. 1 BGB). Der von der Erbfolge nach dem Erstverstorbenen ausgeschlossene Schlusserbe kann als Abkömmling
des erstverstorbenen Erblassers vom Überlebenden seinen
Pflichtteil fordern (Palandt74/Weidlich, § 2269 Rn. 11).
III. Höhe des Pflichtteilsanspruchs der T
 Pflichtteilsanspruch (Geldanspruch, vgl. § 2303 Abs.
1 BGB) = Hälfte des Werts des gesetzlichen Erbteils
(§ 2303 Abs.1 S. 2 BGB)
 Bei seiner Berechnung wird der Bestand und der
Wert des Nachlasses im Zeitpunkt des Erbfalls zugrunde gelegt (§ 2311 Abs. 1 S. 1 BGB).
:
Spareinlage im Wert von 40.000 €
Wohnhaus im Wert von 360.000 €
Wert des Nachlasses insgesamt 400.000 €
 Zu klären ist, wer die gesetzlichen Erben der M gewesen sind.
Dies bestimmt sich nach den §§ 1924 ff. BGB.
 T als Tochter und damit als direkter Abkömmling
der M ist nach § 1924 Abs. 1 BGB gesetzliche Erbin erster Ordnung.
 S ist das Kind des V, aber nicht der M und daher
kein Abkömmling von M, so dass ihm auch kein
gesetzliches Erbrecht zusteht.
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 Für V als Ehemann der M bestimmt sich das gesetzliche Erbrecht nach § 1931 BGB. Danach ist
der überlebende Ehegatte des Erblassers neben
Verwandten der ersten Ordnung zu einem Viertel
als gesetzlicher Erbe berufen, vgl. § 1931 Abs. 1
S. 1 BGB.
 Nach dem gesetzlichen Erbrecht wären daher T
und V nebeneinander Erben der M, wobei T zu ¾
und V zu ¼ geerbt hätte.
 Allerdings orientiert sich die Erbquote des überlebenden Ehegatten noch an einem weiteren Faktor und
zwar an der Art des ehelichen Güterstandes:
Lebte der Erblasser im gesetzlichen Güterstand der
Zugewinngemeinschaft (§ 1363 BGB), wird der Zugewinn erbrechtlich pauschal ausgeglichen, indem
sich der gesetzliche Erbteil des überlebenden Ehegatten nach § 1371 Abs. 1 BGB um ¼ erhöht (vgl. auch
§ 1931 Abs. 3 BGB).
M und V lebten im gesetzlichen Güterstand der
Zugewinngemeinschaft.
Die Grundquote des V erhöht sich um ¼ und damit
auf die Hälfte des Nachlasses, so dass der gesetzliche
Erbteil der T ½ betragen hätte.
Der Pflichtteilsanspruch der T beträgt daher ¼ des
Wertes des Nachlasses der M, d.h. 100.000 €.
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IV. Ergebnis
T hat gegen V einen Anspruch auf Zahlung ihres Pflichtteils
aus § 2303 Abs. 1 BGB in Höhe von 100.000 €.
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