Professor Dr. Christoph Becker Universität Augsburg Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Zivilverfahrensrecht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte Sommersemester 2012 Veranstaltung 03652 (QUELLENEXEGESE ZUM RÖMISCHEN RECHT; zugleich Vorbereitung auf das Seminar der Universitätsprüfung). Hausarbeit (Montag, 16. Juli 2012, bis Dienstag, 25. September 2012) Digesten 41.3.15.pr und Digesten 49.15.12.2 Benutzte Ausgaben: Corpus iuris civilis, Volumen Primum: Institutiones, Recognovit Paulus Krueger. Digesta, Recognovit Theodorus Mommsen, Retractavit Paulus Krueger, 22. Auflage, Dublin/Zürich, 1973, Seiten 703, 704, 884, 885; Carl Ed. Otto/Bruno Schilling/Carl Friedrich Ferdinand Sintenis (Herausgeber), Das Corpus Juris Civilis in's Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, Vierter Band, Leipzig, 1832, Seiten 300, 307 f., 1101, 1105 f. Lösungshinweise: Nicht alles muß in der Bearbeitung erscheinen. Andere Ansätze, Schwerpunktbildungen und Ausführungen sind möglich. Defizite in einem Bereich können in gewissen Grenzen in anderen Bereichen kompensiert werden. Zu beachten ist allerdings, daß die in Einzelfragen aufgelöste Aufgabenstellung nicht alle Aspekte der Quelle betrifft, zu denen man Stellung nähme, wenn schlicht verlangt wäre, der Text solle exegetisch betrachtet werden und daß umgekehrt die Fragen zum Teil über das hinausgreifen, was in einer ungelenkten ersten exegetischen Annäherung zu leisten wäre. Zu Aufgabe 1 (Identifikation von Quelle und Verfasser): - Ausführungen zu den Digesten als Hauptbestandteil des von Justinian erlassenen Corpus Iuris Civilis. Ausführungen anhand der Inskriptionen der beiden Quellenstücke: Über den Spätklassiker Paulus (die Angabe "derselbe" bei D.41.3.15 bezieht sich auf den Anfang einer Kette von Fragmenten, beginnend mit Paulus D.41.3.12). Die Lex 15 aus D.41.3 ist seinem Kommentar zum Edikt entnommen, das heißt zum Edikt des römischen Prätors, welches ungefähr im Jahre 130 nach Christus eine endgültige - redaktionelle Form erhalten hatte (wobei vermutlich das Edikt des Prätors für die Rechtsstreite römischer Bürger [praetor urbanus] mit dem Edikt des Fremdenprätors [praetor peregrinus] zu einer Einheit verbunden wurde). Über den Spätklassiker Tryphoninus. Von ihm ist in D.49.15.12 eine Disputationen-Sammlung ausgewertet. Also eine Zusammenstellung kleinerer Monographien. Zu Aufgabe 2 (Eigentumserwerb im römischen Recht): Eine Orientierungshilfe können die Institutionen Justinians sowie Digesten 41.1 geben. Den Quellen und den modernen Lehrbüchern zum römischen Recht entnimmt man insbesondere: - Rechtsgeschäftlicher Erwerb mittels Tradition (I.2.1.40). - Der Erbe als Gesamtrechtsnachfolger erwirbt das Eigentum. Und zwar die Hauserben (die nächsten Angehörigen) schon im Augenblick des Todes des Erblassers, andere Erben mit dem Erbantritt (I.2.9.6, I.2.19). Vermächtnisse erscheinen als Legate ursprünglich unterschieden in dinglich wirkend oder bloß obligatorisch. Zu Justinians Zeiten verschmelzen die beiden Gattungen, und es kann der Begünstigte sowohl dinglich als auch persönlich klagen. Siehe I.2.20.2. Vermächtnisse als Fideikommisse wirken nur obligatorisch. Hier geschieht der Erwerb stets nur mit einem Akt der Übertragung vom Erben an den Bedachten. Gegenstand kann die ganze Erbmasse sein (I.3.23) oder ein einzelner Gegenstand (I.24). - - - Verbindung, Vermischung, Verarbeitung (I.2.1.25 ff.). Ersitzung (I.2.6; D.41.3). - Ausführliche Bearbeitungen werden (mit den Institutionen des Gaius) auch die zu Justinians Zeiten verdrängten Übertragungsgeschäfte Manzipation und Injurezession erwähnen. Justinians Institutionen legen diese Geschäfte nicht mehr dar. Weitere Aspekte können zum Beispiel Aneignung herrenloser Sachen oder Fruchtziehung (das geborene Kalb; das geerntete Getreide) sein. - Zu Aufgabe 3 (Ersitzung nach römischem Recht): - - Seit alters her kennt das römische Recht den Eigentumwechsel wegen lang anhaltenden ungestörten Eigenbesitzes (Zwölftafeln 6.3.). Die Frist beträgt zwei Jahre bei Grundstücken, ein Jahr bei Mobilien (Zwölftafeln 6.3). Ursprünglich ist Ersitzung das Endgültigwerden eines Veräußerungsgeschäfts. Wenn innerhalb eines gewissen Zeitraums sich niemand beim Erwerber meldet und behauptet, er sei der rechtmäßige Eigentümer, soll der Erwerber die Sicherheit genießen, richtig erworben zu haben. Zugleich endet damit eine Gewährleistungspflicht des Veräußerers. - - - - Im klassischen römischen Recht und dann auch in den Digesten Justinians ist Ersitzung (usucapio; wörtlich Ingebrauchnahme) von fünf Merkmalen gekennzeichnet: ersitzungsfähiger Gegenstand (res habilis); insbesondere: nicht gestohlen; ausgeschlossen aber in klassischer Zeit auch die nicht dem besonderen "quiritischen" Eigentum römischer Bürger zugänglichen Provinzialgrundstücke oder andere nicht manzipierbare Sachen; ein Erwerbsgrund für die Besitzerlangung (iusta causa; titulus; siehe D.41.4 ff.; C.7.26 ff.); Gutgläubigkeit (bona fides; siehe zum Beispiel D.41.4.2); ungestörter Eigenbesitz (possessio; siehe über den Besitzerwerb D.41.2; C.7.32); Zeitablauf (tempus). Für die der usucapio unzugänglichen Provinzialgrundstücke entwickelte sich eine der usucapio nachgebildete Ersitzung: die Einrede der langen Zeit (longi temporis praescriptio), das heißt die Einrede gegen eine Herausgabeverlangen, daß der Fordernde sich lange Zeit nicht gerührt, also sein Eigentum verschwiegen habe. Die Ersitzungsfrist beträgt 10 Jahre (wenn Besitzer und Eigentümer am selben Ort leben) oder 20 Jahre (bei Ortsverschiedenheit). Justinian hebt die Trennung zwischen Provinzgrundstücken und anderen Sachen auf. Alle Gegenstände unterliegen einheitlichen Ersitzungsregeln. Die Begriffsunterscheidung verläuft nunmehr zwischen Grundstücken überhaupt (hier heißt die Ersitzung: longi temporis praescriptio) und anderen Sachen (hier: usucapio). Eine Unterscheidung zwischen manzipierbaren und nicht manzipierbren Sachen gibt es nicht mehr. Siehe C.7.31. Die Frist beträgt nun für Mobilien 3 Jahre, für Immobilien wie schon bei den Provinzialgrundstücken 10 Jahre (wenn Besitzer und Eigentümer am selben Ort leben) oder 20 Jahre (bei Ortsverschiedenheit) (C.7.33). Bei sehr langem Zeitablauf (30 oder 40 Jahre) kann man auch ohne guten Erwerbsgrund (iustus titulus) ersitzen; sogar wenn es gestohlenes Gut ist (C.7.39). Zu Aufgabe 4 (Fristenproblem in den beiden Quellenauszügen): - - - Die Ersitzung fordert einen über einen bestimmten Zeitraum ungestörten Eigenbesitz. Die Störung kann durch Entsetzung geschehen oder dadurch, daß man aus einem in der Person liegenden Grund nicht in der Lage ist, den Besitz auszuüben. Es tritt Besitzverlust ein; siehe "usurpatio" in D.41.3. Störung bedeutet Unterbrechung des Fristenlaufs. Wird der Besitz wiedererlangt, beginnt die Frist von vorn zu laufen. Tod ist keine Unterbrechung. Der Erbe setzt die Besitzzeit fort (D.41.3.40; vorausgesetzt in der vorgelegten Stelle 41.3.15.pr). Aber Kriegsgefangenschaft bedeutet Unfähigkeit zur Besitzausübung (D.41.3.15.pr; D.49.15.12.2). Daher kann auch nicht der Erbe des in Kriegsgefangenschaft Geratenen die begonnene Ersitzung fortsetzen (D.41.3.15.pr). Vielmehr muß er eine eigene Ersitzungszeit zurücklegen. Es scheint allerdings einen in den Digesten nicht bereinigten Widerspruch darüber zu geben, ob der Sklave des Kriegsgefangenen (wenn er denn einen - - - Sklaven hat, der für ihn die Sache verwahrt) die Ersitzungsfrist für seinen Herrn oder dessen künftige Erben fortsetzen oder zumindest die schon verstrichene Besitzfrist bis zur etwaigen Heimkehr des Kriegsgefangenen konservieren kann. Marcellus scheint nach übereinstimmenden Zitaten in D.41.3.15.pr und D.49.15.12.2 gegen jegliche Substitution der Besitzerstellung zu sein. Hingegen wird Julian in D.41.3.15.pr mit der Meinung zitiert, der Sklave könne die Abwesenheit des Herrn bis zu dessen Rückkehr überbrücken; der Herr vollende nach seiner Rückkehr die gehemmte, stehenbleibende (also nicht auf "null" zurückgesetzte) Ersitzungszeit. Und in D.49.15.12.2 wird Julian sogar mit der Meinung angeführt, der Sklave selbst könne die Ersitzungszeit zugunsten des Herrn oder seiner Erben bis zur Vollendung weitervorantreiben (das heißt: der Herr braucht nicht lebend aus der Gefangenschaft zurückzukehren). Tryphoninus tritt der Auffassung Julians bei (D.49.15.12.2 am Ende). Das ist nun nicht wohl mit D.41.3.15.pr vereinbar. Möglicherweise liegt der Unterschied darin begründet, ob der Sklave das Objekt noch während der Freiheit des abwesenden Hausherrn oder aber erst nach Beginn der Kriegsgefangenschaft in den Hausstand holt (kauft). Der von Julian in D.41.3.15.pr beschriebene Fall scheint einen Erwerb erst während der Gefangenschaft zu betreffen. Dann versteht sich, daß von Anfang an der Fristenlauf gehemmt ist, weil der Herr mangels realer Verfügungsgewalt noch niemals Besitz erzielt hat. Besitz erlangt er erst, wenn er aus der Gefangenschaft entlassen wird. Hingegen scheint im julianischen Beispiel in D.49.15.12.2 der Gegenstand noch während der Freiheit des Herrn in den Hausstand gelangt zu sein. Dann setzt der Sklave den Besitz für den verhinderten Herrn fort; die während der Freiheit des Herrn übernommene Verantwortung für die Sache wird als fortbestehnd angenommen, obgleich der Herr den Besitz nicht mehr steuern kann. Oder der Unterschied liegt darin, ob der Sklave das Objekt in seinem (gegenüber dem Vermögen des Herrn unselbständigen) Sondervermögen (peculium; das Sondergut peculium findet im julianischen Beispiel in D.49.15.12.2 Erwähnung) bereits hatte, als der Herr in Kriegsgefangenschaft geriet, oder ob der Sklave das Objekt erst während der Kriegsgefangenschaft zu dem Sondervermögen erwarb (siehe Lohsse, [Literaturhinweis unten], Seiten 667 ff., 686 ff.). Es kann sein, daß die justinianische Gesetzesredaktion bei der Auswahl der Quellenstellen die jeweiligen Zusammenhänge zwar in den Werken von Paulus und Tryphoninus vorfand, sie aber durch die fragmentarische Wiedergabe im Sammelwerk unkenntlich machte. Die ausgeschnittenen Fragmente enthalten keine volle Schilderung des jeweiligen Fallbeispiels und der dogmatischen Zusammenhänge, sondern sind nur die Kernaussagen. Dem zeitgenössischen Leser der Digesten Justinians waren vielleicht die Deutungszusammenhänge noch bewußt. Dem nachgeborenen Leser jedenfalls drängt sich zunächst der Eindruck innerer Widersprüchlichkeit auf, der sich freilich mit hypothetischer Differenzierung überwinden läßt. Zu Aufgabe 5 (Vergleich betreffend Ersitzung mit dem heutigen Recht): - - - - - - - - Das Bürgerliche Gesetzbuch behandelt in §§ 937 ff. BGB die Ersitzung beweglicher Sachen. Notwendig sind Eigenbesitz und guter Glaube beim Erwerb sowie fortdauernde Unkenntnis. Das Merkmal der Gutgläubigkeit verführt zur Verwechslung mit den Regeln gutgläubigen Erwerbs in §§ 932 ff. BGB. Doch muß man die Regeln der §§ 932 ff. BGB und der §§ 937 ff. BGB streng auseinanderhaltemn. Der gutgläubige Erwerb wirkt ohne Fristablauf. Es kann allerdings sein, daß bei Scheitern des gutgläubigen Erwerbs (guter Glaube nicht, wie von § 932 BGB verlangt, an das Eigentum, sondern nur an die Verfügungsgewalt; im Sinne von § 935 Abs. 1 BGB abhandengekommene Sache) eine Ersitzung geschieht. Ein geeigneter Erwerbsgrund ist für die Ersitzung nicht erforderlich. So wie der rechtsgeschäftliche Erwerb ist auch die Ersitzung abstrakt. Allerdings kann die Gutgläubigkeit je nach den Umständen von der Annahme eines bestimmten Erwerbsgrundes abhängen. Besitzverlust unterbricht die Ersitzung (§ 940 Abs. 1 BGB). Nach Ende des Unterbrechungsgrundes beginnt die Zeit von vorn zu laufen (§ 942 BGB). Wie in D.41.3.15.pr, D.49.15.12.2. Anders bei bloßer Hemmung in Fällen wie bei der Verjährungshemmung (§ 939 BGB). Ähnlich, wie sie in D.41.3.15.pr nach Julian gemeint zu sein scheint. Der Erbe setzt wie im römischen Recht die begonnene Zeit fort (§ 943 BGB). Insgesamt starke Anlehnung an die Regeln der Verjährung (vergleiche §§ 203 ff. BGB wegen Hemmung der Verjährung, § 212 BGB wegen Neubeginns der Verjährung, bis zum 31.12.2001 ebenfalls Unterbrechung genannt; §§ 198, 1922 BGB wegen Erbfolge; außerdem die ausdrücklichen Verweisungen in §§ 939, 941 BGB). Die Frist beträgt für Mobilien 10 Jahre. Das ist die aus dem römischen Recht für Immobilien unter Ortsansässigen vorgesehene Zeit. Ersitzung einer Immobilie gemäß § 900 Abs. 1 Satz 1 BGB durch 30jährigen Eigenbesitz und Bestand eines (unzutreffenden) Eintrages als Eigentümer. Es gelten dieselben Hemmungen und Unterbrechungen wie bei beweglichen Sachen (§ 900 Abs. 1 Satz 2 BGB). Guter Glaube wird nicht verlangt. Das Merkmal guten Glaubens ist durch das Merkmal der Buchposition verdrängt. Kein Erwerbsgrund nötig (Abstraktheit des Eigentumswechsels). Für Immobilien ist ferner in § 927 BGB eine ersitzungsähnliche Aneignungsmöglichkeit durch Ablauf einer 30jährigen Zeit des Eigenbesitzes, Durchführung eines Aufgebotsverfahrens und Eintragung vorgesehen. Guter Glaube wird nicht verlangt. Es gibt in § 927 Abs. 1 Satz 3 BGB sogar Fälle des Erwerbs entgegen einem Grundbucheintrag (Eigentümer ist verstorben oder verschollen, und über 30 Jahre hinweg läßt sich niemand als Nachfolger ins Grundbuch eintragen, während der Besitzer sich ununterbrochen wie ein Eigner aufführt). Das Grundstück soll wieder in den Rechtsverkehr integriert werden. Dafür nimmt der Gesetzgeber die Enteignung des Erben hin (auch wenn der von allem - nichts wußte). Aneignung eines in fremdem Eigentum stehenden Grundstücks nicht verwechseln mit der Aneigung einer herrenlosen (eigentümerlosen) Mobilie nach § 958 BGB. Literaturhinweis: - Sebastian Lohsse, Die Ersitzung im Spannungsverhältnis des ius postliminii und der fictio legis Corneliae. Auf den Spuren der Klassikerkontroverse bei Paulus D. 41,3,15 pr., in: Holger Altmeppen/ Ingo Reichard/ Martin Josef Schermaier (Herausgeber), Festschrift für Rolf Knütel zum 70. Geburtstag, Heidelberg, 2009, Seiten 667-701
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