Wegschauen unmöglich

COVERSTORY
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www.lehrerservice.at
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Wegschauen unmöglich
Antonia will Menschen helfen, lernt dabei Arabisch
und weiß, dass es oft reicht, einfach nur zuzuhören.
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rzählt euch einen Witz!“, sagt
die TOPIC-Fotografin zu Antonia und Raghad. Antonia
fällt keiner ein – Raghad lacht
trotzdem für das Foto. Beim TOPICFototermin nehmen die beiden ihren
ganzen Mut zusammen. Denn wer
wird schon gerne interviewt und dabei
auch noch von einer Kamera ins Visier
genommen? „Geht schon“, sagen die
beiden. Den größten Mut haben sie
längst bewiesen: Ohne sich zu kennen, sind Raghad (12) und Antonia
(16) aufeinander zugegangen.
Flucht in ein neues Leben
Das war notwendig, denn die
Flüchtlinge, deren Gesichter wir
bisher nur aus den Nachrichten
kannten, sind nun mitten unter uns.
Sie mussten ihre Häuser, ihre Dörfer und ihr altes Leben zurücklassen.
8
Daheim herrscht Krieg. Tausende
haben die Flucht per Boot, in einen
Lastwagen gepfercht oder zu Fuß
gewagt. Wer hier angekommen ist,
hat es geschafft. Aber nur so halb –
denn die erste Station ist meist ein
Flüchtlingslager.
„Die Inge hat gesagt, wir fahren jetzt
zu Raghads zwölfter Geburtstagsfeier“, erzählt Antonia von der ersten
Begegnung. „Ich bin dann dort dabeigesessen und habe zugehört.“
„Wir haben uns gleich verstanden“,
ergänzt Raghad.
Ihre Mutter hatte Antonia vorgeschlagen, sich das Flüchtlingsnetzwerk einmal anzuschauen. Gegründet wurde es von Inge Schedler. Inge
wollte etwas tun. Nicht mehr nur zuschauen, wenn man im Fernsehen
sieht, dass immer mehr Menschen
in Flüchtlingslagern „stranden“ und
HEFT 2
OKTOBER 2015
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Inge Schedler
führt im Flüchtlingsnetzwerk
Helfer und
Flüchtlinge
zusammen
Perchtoldsdorf (NÖ) wurde
inzwischen von einer Zeitung
zur „Integrationsgemeinde
2015“ gewählt (Infos unter
www.fluechtlingsnetzwerk.at).
Aber auch in vielen anderen
Gemeinden bewegt sich etwas.
Wenn du helfen möchtest,
findest du Infos unter:
www.roteskreuz.at
www.jugendrotkreuz.at
www.caritas.at
Prominente Helfer
Die einen beschweren sich laut.
Andere helfen leise.
Immer mehr Menschen
sind weltweit auf der
Flucht. Gründe dafür
sind Kriege, Unterdrückung und Armut
dort in eine ungewisse
Zukunft blicken. Seit Jänner bringt sie Familien,
die Hilfe brauchen, mit Perchtoldsdorfern, die helfen wollen, zusammen.
Nadja Meister, privat, Picturedesk (5)
Gesucht – gefunden!
Wie ihre Hilfe aussehen würde,
konnte sich Antonia anfangs nicht
wirklich vorstellen. „Aber ich habe
mir gedacht, dass es cool wäre, das
auszuprobieren.“
Das erste Treffen fand bei einem
Eis statt – seitdem begleitet Antonia
Raghad durch ihr neues Leben in Österreich. Das geht von Hilfe bei der
Hausübung bis zu Besuchen in der
Bücherei. Gelernt wird „meistens Mathe oder Deutsch“.
Aber das Flüchtlingsnetzwerk bietet nicht nur Lernhilfe an. Es sucht
Unterkünfte für Flüchtlingsfamilien,
Menschen, die Flüchtlinge zum Arzt
oder aufs Amt begleiten oder mit den
Kindern spielen.
Viele Freiwillige helfen mit. Etwa die
18-jährige Stella, für die eine Fahrt
nach Traiskirchen der Auslöser war,
mitzumachen. „Eigentlich wollten wir
nur Sachspenden abgeben – aber
kurz nach unserer Ankunft waren 20
Flüchtlinge da. Jeder hat sich geschnappt, was er nehmen konnte.
Wenn so etwas vor deinen Augen
passiert, dann kannst du nicht mehr
wegschauen.“
Oder Livia. Die 19-Jährige hat belastet, „dass eine halbe Stunde von
mir entfernt Leute in Zelten schlafen,
während ich Urlaub habe und mir ein
schönes Leben machen kann“.
Stella will nun das
Lerncafé des Flüchtlingsnetzwerks mit
aufbauen, wo Deutschkurse angeboten werden und Flüchtlingskinder
die Hausübung machen können.
Ganz viele Buchstaben
Ob Antonia auch von Raghad
lernen kann? Klar: „Ich weiß jetzt,
dass im Arabischen ganz viele
Buchstaben fast gleich aussehen“,
erzählt die 16-Jährige, „und dass
Raghads Name nur aus drei Buchstaben besteht.“ Aber auch, dass es
Menschen gibt, für die das Leben
bei uns wegen ihrer Herkunft und
Sprache viel schwerer ist.
Über Syrien, Raghads Herkunftsland, sprechen die beiden
nicht. „Das verstehst du nicht“,
sagt Raghad auf die Frage mit
einem Blick zu Antonia. Was die
Zwölfjährige auf ihrer Flucht erleben musste, ist jetzt Vergangenheit. Lieber erzählt sie von ihrer ersten
Begegnung mit Antonia, die einfach
nur „schön und gut“ war. Von Besuchen im Schwimmbad und ihrer Begeisterung für das Klettern.
„Was möchtest du einmal machen, wenn du groß bist?“, fragt
Antonia ihren Schützling. „Ärztin
werden vielleicht!“, antwortet Raghad mit einem Strahlen und bestätigt damit ein Sprichwort: Es
braucht ein ganzes Dorf, um ein
Kind stark zu machen. Oder eine
Gemeinde wie Perchtoldsdorf – mit
Menschen wie Inge und Antonia.
Katharina Schubert | [email protected]
OKTOBER 2015
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Trotzkopf Til ist der
Lauteste: Er finde Leute, die
gegen Flüchtlinge hetzen,
„zum Kotzen“, sagt er in jeder
Fernsehsendung. Deshalb
will der deutsche Schauspieler Til Schweiger eine Kaserne zu einem Flüchtlingsheim
für 600 Menschen umbauen.
Die sollen dort nicht nur wohnen, sondern
auch Deutsch und einen Beruf lernen und
eine Sportanlage haben.
Ein Haus für Ute Bock
Ute Bock (73) kümmert
sich in Wien seit über 25
Jahren um Flüchtlinge. Sie
besorgt ihnen Plätze in Privatwohnungen und vermittelt
Deutschkurse. 2011 kaufte
ihr der Bauunternehmer Hans
Peter Haselsteiner ein leer
stehendes Haus und baute es zu einem
neuen Heim für Flüchtlinge um. Dort hat
auch Ute Bock eine kleine Wohnung.
Die Betten sind gemacht
Als die Nachrichten Bilder
von Flüchtlingen zeigten, die
bei jedem Wetter in Zelten
lebten, dachte sich Sepp
Schellhorn: „Ich habe in Bad
Gastein ein ehemaliges Hotel
gekauft. Es steht derzeit leer,
die Betten sind gemacht.“
Bald waren 40 Flüchtlinge untergebracht.
Damit machte sich Hotelier Schellhorn in
seiner Heimatgemeinde nicht nur Freunde.
In der Kaserne
Vor zwei Jahren wurde die
Magdeburg-Kaserne in Klosterneuburg vom Bundesheer
aufgelassen. Danach waren
dort 220 Flüchtlinge untergebracht. Im Mai dieses Jahres
sollten sie wieder ausziehen – aber wohin? Das Stift
Klosterneuburg – ein großer Haus- und
Grundbesitzer – kaufte die Kaserne kurzerhand, die Flüchtlinge können bleiben.
9
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COVERSTORY
Dariadaria organisiert unter
www.sachspendentraiskirchen.at
Dinge für Traiskirchen
Schön schlau
Mode ist oberflächlich? Nur, wenn
man nicht unter die Oberfläche
schaut. Im Fall von Dariadaria
schlummert darunter eine Aktivistin.
„Mein Name ist Madeleine Alizadeh und heute ist der schönste
Tag meines bisherigen Lebens“,
schreibt sie am 20. August auf
Facebook.
Zu diesem Zeitpunkt bloggt Dariadaria schon seit Tagen nicht mehr
über Mode und Beauty. Stattdessen fährt die 26-Jährige fast täglich
nach Traiskirchen oder organisiert
Sachspenden dorthin.
„Meine Eltern haben mir beigebracht, nicht wegzuschauen, wenn
jemand in Not ist“, sagt sie. Zum
Beispiel, wenn eine Flüchtlingsfamilie längst Wohnraum gefunden
hat, aber nicht umziehen darf, weil
Papiere fehlen. Madeleine schreibt
kurzerhand einen offenen Brief an
das Innenministerium. Und kann
durch Likes und Shares auf Facebook erreichen, dass die Familie
am 20. August aus ihrem Zelt in ein
Haus einziehen darf.
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Richtig helfen – aber wie?
Gibt es auch in
deinem Ort oder
in deiner Klasse
Flüchtlinge?
Rotkreuz-Helfer
Robert Dempfer
sagt, wie du
helfen kannst.
: Warum wollen viele Menschen keine Flüchtlinge in ihrer Nähe haben?
Robert Dempfer: Weil sie sich am
wohlsten fühlen, wenn sich nichts ändert. Das ist ganz menschlich. Es trifft
aber auch auf Flüchtlinge zu: neue
Umgebung, neue Menschen, neues
Klima, neue Sprache ... Für sie hat
sich sehr, sehr viel verändert!
: Was kann ich tun, wenn
Flüchtlinge in meinen Ort ziehen?
Auf sie zugehen. Am Anfang sind alle
unsicher, aber das gibt sich. Schauen,
ob sich schon Profis um sie kümmern:
Rotes Kreuz, Caritas, die Pfarre. Fragen, was gebraucht wird.
: Viele Menschen spenden
Kleidung.
Die wird immer gebraucht. Bitte zuerst schauen, welche! Es hat keinen
Sinn, jetzt Badehosen zu sammeln,
denn jetzt wird Winterbekleidung benötigt. Gibt es Babys? Dann Babybekleidung, Windeln und so weiter.
:Also einfach den Hausverstand einschalten?
Genau. Damit sich alle weniger fremd
fühlen, kann man gemeinsam Sport
machen. Oder in der Gemeindeküche
kochen. Bei tausend Problemen im
Alltag, die sich auch ergeben würden,
wenn wir in ein anderes, fremdes
Land zögen, einen Rat geben.
: Sollen Flüchtlinge schnell
Deutsch lernen?
Ja, Deutschkurse sind sehr wichtig.
Wenn in eurer Klasse Flüchtlingskinder sind: Werdet ihre Peers! Erklärt ihnen: Wie läuft der Alltag in
der Schule ab? Beim Deutschlernen
und bei Hausaufgaben helfen ist gut.
Oder in der Freizeit gemeinsam etwas
unternehmen.
: Was kann man in der Klasse noch tun?
Was ihr auch sonst tut: Redet miteinander! Andere Kulturen sind interessant. Gibt es auch in Syrien Weihnachten? Wer ist der Justin Bieber
im Irak? Wie funktioniert die Schule
in Afghanistan? Spielt ihr in Somalia
auch Fußball?
: Das klingt alles einfach.
Ja, ist es aber nicht immer. Haltet die
Augen offen, geht aufeinander zu. Es
wird Schwierigkeiten geben. Aber haben wir die nicht unter uns genauso?
Gerüchte, Mythen, Vorurteile
Durch Handys
können
Flüchtlinge mit
Verwandten
in Kontakt
bleiben
„Arme Flüchtlinge?
Viele Städte
in Syrien
sind völlig
zerstört
Familien in
Not hoffen,
dass ihre
Männer die
Reise nach
Europa
schaffen
phones!“
Für viele Flüchtlinge ist
es die einzige Möglich
keit,
mit ihren Familien in Ko
ntakt zu bleiben: das
Sm
artphone. Was bei uns
ein Statusobjekt ist, ist
für sie
ihr wichtigstes Überleb
enswerkzeug: Durch da
s eingebaute GPS können
sich Menschen auf de
r
Flu
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orientieren, per SMS
organisieren sie die
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ste
Etappe ihrer Flucht od
er informieren sich üb
er Schlafplätze. Deswegen inves
tieren viele Flüchtlinge
schon
vor ihrer Flucht in den
Kauf eines Smartphon
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Eines
zu bekommen, ist ke
ine Hexerei: In Afrika
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d im
Nahen Osten verkaufe
n Handyhersteller abge
sp
eckte
Versionen von bekann
ten Smartphone-Mod
ellen zu
günstigeren Preisen.
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nach einem
Musikfestival:
Waschgelegenheiten
für Kleidung
fehlen oft
„Die undankbaren Flü
chtlinge wissen
unsere Spenden nic
ht zu schätzen!“
Auch immer wieder au
f Facebook zu sehen:
Fotos
aus Flüchtlingslagern
, in denen gespende
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Kle
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und andere Gegenstän
de in Mistkübeln gelan
de
t sind.
Die Botschaft: „Das pa
ssiert mit unseren Sp
enden!“
Dort, wo Flüchtlinge
unter freiem Himmel
schlafen
müssen, wird gespen
dete Kleidung rasch
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ss und
schmutzig. Waschgele
genheit? Oft Fehlanz
eig
e. Daher landet nicht mehr
brauchbares Gewand
im Müll.
Und nachdem Mistküb
el oft nicht ausreichen
d vorhanden sind, sammelt
sich der Müll auf den
Wiesen.
11
Picturedesk (5), Shutterstock, ÖJRK, instagram.com/dariadaria_com,
www.facebook.com/dariadariablog
sen!“
e Familien im Stich las
„Nur Männer, die ihr
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Flucht. Auf der Flucht
Bürgern tobt ein grauenvoller
Folter. Alleine in Syrie
dert hat.
er 200.000 Tote gefor
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Heimat,
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nug Freunde und Ve
ihr Zuhause und oft ge
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zurückzulassen, um nu
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