1 Referat von Norbert Kobler, IV-Stelle Kanton Bern, anlässlich des CI-Forums 2015 im Paraplegikerzentrum Nottwil Hörbehinderung? – Kein Problem!? Berufsfindung bei Jugendlichen Sehr geehrte Damen und Herren Ich freue mich, Ihnen heute aus meiner Berufsberater-Tätigkeit zu erzählen. Wie Sie gehört haben, arbeite ich seit 4,5 Jahren bei der IV-Stelle des Kantons Bern als Eingliederungsfachmann mit dem Schwerpunkt Gehörlose. Darum bin ich auch mit einer Kollegin für die Berner KlientInnen des Landenhofs zuständig. Wir sind eine der wenigen IV-Stellen, die spezialisierte Fachleute für SinnesBehinderte haben. Ich erachte dies als sehr wertvoll, weil es die Arbeit effizienter macht und die Anspruchspersonen klar sind. Bevor ich einsteige, ist mir wichtig zu präzisieren, dass meine Überlegungen nicht wissenschaftlich untermauert sind, sondern aus der Praxis stammen. Folie „Rie Saito im Gespräch mit einer Wählerin“ Vielleicht haben Sie dieses Foto auch schon gesehen. Es stammt aus der NZZ am Sonntag, vom 11. Oktober 2015. Im zugehörigen Artikel wurde beschrieben, wie die gehörlose Ex-Hostess und alleinerziehende Mutter Rie Saito sich bis ins Parlament eines Bezirks im Norden von Tokio aufgearbeitet hat und in Japan eine neue Offenheit gegenüber Behinderten erreicht hat. Rie Saito wird in diesem Artikel mit dem Satz zitiert: „Die Arbeit hat mir geholfen, erwachsen zu werden.“ Das zeigt meines Erachtens gut auf, vor was für einem Schritt Jugendliche stehen, wenn sie sich auf die Berufswahl vorbereiten. Folie „Gedanken-Experiment“ Ich möchte mit Ihnen ein kleines Gedanken-Experiment machen. Sie müssen sich dabei nicht exponieren, wenn Sie nicht wollen. Machen Sie mit? Stellen Sie sich vor: Sie sind InhaberIn eines kleinen Schuhgeschäfts auf dem Land. Das Geschäft floriert und Sie möchten darum eine weitere Person einstellen. Da es Ihnen wichtig ist, auch selber einen Beitrag zu leisten, damit Personen mit Einschränkungen einen Platz finden in der Arbeitswelt, sind Sie 2 bereit, auch solche Bewerbungen zu prüfen. Rein „aus dem Bauch heraus“, d.h. ohne dass Sie die Bewerber gesehen haben, frage ich Sie: Würden Sie eher jemand nehmen a) Mit einer körperlichen Einschränkung, z.B. Kniebeschwerden b) Mit einer psychischen Einschränkung, z.B. Depressionen c) Mit einer Hör-Einschränkung Welche Person würden Sie allein aufgrund der Einschränkung am ehesten nehmen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass die hörbehinderte Person allein von der Einschränkung her am beliebtesten wäre. Weswegen? Die Einschränkung beurteilen wir Hörenden gern als gut berechenbar. Bei den anderen beiden Beschwerden wissen wir nicht, wie sie sich entwickeln. Hingegen bei einer Hörbehinderung nehmen wir an, dass sie konstant ist. Wir sind uns gewohnt, damit umzugehen. Schliesslich hören auch wir nicht immer alles. Im Fall einer Kommunikationsstörung benutzen wir unsere Hände und kommen damit meistens recht weit. Auch mir ist es ähnlich ergangen, als ich in der IV mich bereit erklärt habe, mit gehörlosen und schwerhörigen KlienientInnen zu arbeiten. Ich habe den Schweregrad der Einschränkung massiv unterschätzt. Meine Meinung war: Es gibt ja sehr gute Hörgeräte, Ringschaltungen in öffentlichen Gebäuden oder gar DolmetscherInnen. Was soll da noch schwierig sein? – Hätte ich anfangs von CIs und deren Fähigkeiten gewusst, hätte dies meine Meinung bestimmt noch um einiges verstärkt… Doch eben, das kannte ich ja noch gar nicht! Folgende Erfahrungen habe ich in der Zwischenzeit gemacht. Auf einiges komme ich später nochmals zurück und zeige, wie sich das bei der Berufsfindung auswirkt Folie „Erfahrungen mit hörbeeinträchtigten Jugendlichen“ 1. Stark schulisch orientiert Hörbehinderte brauchen häufig Sonderbeschulung. Die Jugendlichen wachsen in kleinen Klassenverbänden von 5-10 SchülerInnen mit entsprechend geschulten Lehrpersonen auf. 2. Unter Ihresgleichen Ich erlebe viele Hörbehinderte, die gerne unter Ihresgleichen sich aufhalten. Dort erleben sie Sicherheit und Verständnis und müssen sich nicht dauernd erklären. 3. Angst/ Unsicherheit gegenüber der hörenden Welt 3 Bei manchen Hörbehinderten spüre ich Misstrauen gegenüber uns Hörenden 4. Pubertät dauert länger Hörbehinderte brauchen mehr Zeit, um erwachsen zu werden. 5. Lautsprache = Fremdsprache Wir können nicht davon ausgehen, dass Begriffe klar sind! Wir müssen uns bewusst sein, dass wir Wörter erklären müssen, die für uns sonnenklar sind. In der Praxis sieht es so aus, dass in der zweiten Hälfte des siebten Schuljahrs die betroffenen SchülerInnen des Landenhofs und ihre Eltern über den Ablauf der IV-Berufsberatung durch eine Eingliederungsfachperson vor Ort informiert werden. Die SchülerInnen werden den einzelnen IV-Stellen gemeldet und die Jugendlichen und ihre Eltern werden innerhalb eines Monats zu einem Erstgespräch eingeladen. Hier wird neben der gesundheitlichen und sozialen Situation auch geschaut, wie es mit der Berufswahl steht. Meistens ist es so, dass die Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so weit sind, um dazu viel sagen zu können. Ich warte häufig die Kontaktwoche Ende Oktober/Anfang November in der 8. Klasse ab. In dieser Woche müssen alle SchülerInnen des Landenhofs an einem oder zwei Orten in der Berufswelt schnuppern gehen. Nach der Kontaktwoche melde ich mich wieder und führe teilweise Berufsberatungstests durch. In diesem Rahmen habe ich einmal eine sehr eindrückliche Erfahrung gemacht: Ich habe einen Schüler der Realklasse eingeladen und ihm den Berufsfeldertest BFT 22 vorgestellt. Folie BFT 22 Die Jugendlichen müssen bei diesem Test etwa 170 Tätigkeiten beurteilen. Die Aufgabenstellung lautet: Überlege dir, wie stark dich die beschriebenen Tätigkeiten interessieren. Es ist nicht wichtig, ob du die Tätigkeit kannst oder nicht, und es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Ganz im Gegenteil: Uns interessiert einzig und allein dein persönliches Interesse. Es ist wichtig, dass du zu jeder Tätigkeit ein Kreuz machst! Was denken Sie, wie hat der Jugendliche reagiert? – Er las die Fragen fast wie ein Zweit- oder Drittklässler. Zum Teilt ist er dem Text noch mit dem Finger gefolgt. Nachdem ich ihn gefragt habe, ob er die Frage verstehe, hat er dies verneint. Ich war ziemlich perplex und habe dem 4 Jugendlichen erklärt, dass wir den Test nicht weitermachen, sondern dass ich ihm einen anderen Test gebe, der leichter ist. Ich habe nun den Wahrnehmungskanal gewechselt und bin auf die visuelle Wahrnehmung umgestiegen. Das sieht dann so aus: Folie „Foto-Interessen-Test (FIT oder Berufe easy)“ Die Jugendlichen erhalten einen grossen Stapel Fotos, die Menschen bei der Arbeit zeigen in den unterschiedlichsten Berufen. Die Jugendlichen gehen in Gegenwart des Berufsberaters die Fotos durch und unterteilen sie nach den Kriterien „starkes Interesse, mittleres Interesse, gar kein Interesse“. Dabei dürfen die Jugendlichen auch sagen, was sie mit den abgebildeten Arbeiten assoziieren. Bei diesem Test mache ich allermeistens die Erfahrung, dass er den Hörbehinderten viel näher kommt, als ein sprachlicher TEst. Hier muss nicht noch zuerst Übersetzungsarbeit geleistet werden. Das Textverständnis fällt weg. Das erklärt übrigens auch, weswegen Hörbehinderte beim Multicheck benachteiligt sind. Auch dort wird quasi über eine Fremdsprache mit ihnen kommuniziert. Kommen wir nun zur konkreten Berufsfindung. Berufsfindung Wurde früher öfter unter dem Begriff „Berufs-REIFE“ abgehandelt. Mir gefällt dieser alte Begriff „Berufsreife“ besser, da er m.E. besser umschreibt, was damit gemeint ist. Berufsreif ist jemand, wenn er sich schon länger mit verschiedenen Berufen auseinandergesetzt hat, an mehreren Orten schnuppern gegangen ist und Feedback von den Schnupperverantwortlichen erhalten hat und wenn er im Verlauf dieses Prozesses einen Beruf gefunden hat, der ihn interessiert und wo er die nötigen praktischen und schulischen Fähigkeiten auch mitbringt. Berufs-Unreife zeigt sich, wenn bei einem Berufsinteressetest entweder nur hohe Interessen oder nur gar kein Interesse an den verschiedenen Berufen gewählt wird. Berufs-unreife SchülerInnen zeigen häufig auch noch stark kindliche Züge, können sich auch noch gar nicht richtig vorstellen, was es heisst, die ganze Zeit nur zu arbeiten. Im Zusammenhang mit hörbeeinträchtigten Jugendlichen ist mir aufgefallen, dass eine praktische Erprobung sehr wichtig ist. Wir nennen das auch eine 5 „berufliche Abklärung“. Darunter verstehen wir, dass die Jugendlichen einen ganzen Monat lang in einem Betrieb arbeiten, wo sie ihren gewählten Beruf praktisch ausüben können. Was ist der Hintergrund für eine solche Erprobung? Ich habe schon mehr als einmal erlebt, dass mir Jugendliche oder ihre Bezugspersonen mitgeteilt haben: „Ich weiss nun, welchen Beruf ich wählen möchte, habe aber noch keine Lehrstell. Können Sie mir dabei helfen?“ Ich habe die Jugendlichen zu einem Vorstellungsgespräch für die berufliche Abklärung eingeladen. Dabei hat sich entweder schon im Verlauf des Gesprächs gezeigt, dass das Interesse am gewählten Beruf gar nicht so vorhanden ist; dass sie gar nicht richtig wissen, was man in diesem Beruf macht oder dass Schnupperverantwortliche als Feedback gegeben haben: Der Jugendliche sei „herzig“, doch soll er doch noch lieber weiter schnuppern. Ein anderer Jugendlicher ist zu mir gekommen und wollte unbedingt Landschaftsgärtner werden. Doch in der Abklärung hat er immer wieder gefragt, wann Pause sei. Zudem sei das Interesse nicht so spürbar gewesen. Heute nun ist er Fachmann Betriebsunterhalt und ist im 1. Lehrjahr bei der Migros Aare. Meine These ist, dass Hörbehinderte häufig länger brauchen, bis sie die Berufsreife erlangen. Es ist ihnen aber nicht geholfen, wenn sie ein rein schulisches 10. Schuljahr besuchen. Sie brauchen ein „Brückenjahr“, das verbindet, was in der Schule gelernt worden ist und nun vertieft ausgerichtet werden soll auf die Berufswelt hin. Die Jugendlichen brauchen Zeit, um in der hörenden Welt Fuss und Vertrauen zu fassen. Sie brauchen Erfahrungen, dass man auch in der Berufswelt an sie glaubt und sie gefördert werden. Umgekehrt zeigt die berufliche Abklärung auch sehr gut, wie sich die gesundheitlichen Einschränkungen im Arbeitsleben auswirken: Können wir uns mit der Jugendlichen verständigen? Wo müssen wir uns anpassen? Und ist die Jugendliche auch bereit, sich in unser Team zu integrieren? Fragt sie nach oder sagt sie, worauf sie angewiesen ist?, usw. Ich bin sehr froh, dass es im Landenhof ein gutes Brückenjahrs-Angebot gibt, auf das wir zurückgreifen können, wenn die Notwendigkeit dafür besteht. Damit sage ich indirekt auch, dass dieses Angebot nicht für jeden Jugendlichen geeignet ist. Manchmal ist es hilfreicher, dass die Jugendlichen konfrontiert werden, den Schritt in die Arbeitswelt zu unternehmen und nicht 6 „bequem weiter in die Schule zu gehen“, um sich nicht entscheiden zu müssen. Während der Ausbildung Die Jugendlichen werden durch die Ausbildung hindurch von den zuständigen Eingliederungsfachpersonen der IV begleitet. Wir verstehen uns als Bindeglied zwischen Klient, Ausbildungsbetrieb und Berufsschule. Wir fragen nach, wie es in der Ausbildung läuft und ermutigen die Betroffenen, uns rechtzeitig zu melden, wenn Handlungsbedarf besteht. Gleichzeitig schauen wir auch, ob es evtl. nötig wäre, einen Kontakt mit den Fachstellen für Gehörlose oder audiopädagogischen Diensten herzustellen. Denn manchmal ist eine kontinuierliche Begleitung, ein Coaching am Arbeitsplatz über eine bestimmte Zeit notwendig. Und falls Fragen zur Hörgeräteversorgung auftauchen, klären wir intern, ob wir die anfallenden Kosten übernehmen können. Zusammenfassung Folie „Zusammenfassung“ Meine Erfahrung hat gezeigt, dass Hörbeeinträchtigte Menschen häufig länger brauchen, bis sie ihren Beruf gefunden haben. Sie brauchen deshalb Zeit und vor allem auch Möglichkeiten, wo sie ihre Berufsfavoriten praktisch ausüben können und Feedback erhalten. Ich ermutige die Jugendlichen immer wieder, sich einen Schnupperbericht geben zu lassen und für sich selber zu notieren, welche Tätigkeiten ihnen wie stark gefallen haben. Denken wir daran: Hörbeeinträchtigte Jugendliche treten nach der Schule häufig wirklich in eine für sie andere Welt ein. Sie benötigen das nötige Verständnis, Wohlwollen, aber auch Klarheit, wo die Grenzen liegen. Es ist wichtig, dass wir uns dessen bewusst sind. Eine Vernetzung der Involvierten am Projekt Berufswahl erlebe ich immer wieder und empfinde dies als sehr wertvoll. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
© Copyright 2024 ExpyDoc