Fehlende Professionalität der Heuchelei. Weswegen am

Fehlende Professionalität der Heuchelei
Weswegen am Volkswagen-Management
das Falsche kritisiert wird
Stefan Kühl
Working Paper 6/2015
Es gilt als wissenschaftlich gesichert, dass durch den Autoverkehr jedes Jahr weltweit
Hunderttausende von Menschen ums Leben kommen – durch Verkehrsunfälle, durch Schadstoffe oder
als Folge der Lärmbelastung. Man braucht zur alltäglichen Verdeutlichung den Blick nicht nach
Peking, Lagos oder Bogotá zu richten, wo einem der Autoverkehr buchstäblich den Atem raubt, man
kann die Folgen des motorisierten Automobilverkehrs problemlos auch in München, Frankfurt oder
Zürich beobachten. Diese auf den Autoverkehr zurückzuführenden Todesfälle stellen nur deswegen
keinen Dauerskandal in den Medien dar, weil die Menschen an Schadstoff- und Lärmbelastung nicht
unmittelbar, sondern zeitlich verzögert sterben und die Verkehrsunfälle über die Verantwortlichmachung des Unfallverursachers personalisiert werden können.
Weswegen regt man sich also plötzlich auf, wenn ein Automobilkonzern ein wenig bei der Messung
der Abgaswerte getrickst hat?
Die Verriegelung in der Verkehrspolitik
Die Verkehrspolitik befindet sich nicht nur in den Industriestaaten in einer Sackgasse. Seit dem
Zweiten Weltkrieg hat sich der motorisierte Individualverkehr weltweit durchgesetzt, ohne dass
anfangs die verkehrspolitischen Effekte abzusehen gewesen waren. Menschen haben sich daran
gewöhnt, ihre Arbeitsstelle mit dem Auto zu erreichen. Das hat dazu geführt, dass es als Recht
betrachtet wird, sich auch in Städten mit einer Fließgeschwindigkeit von 50 km/h zu bewegen, was
wiederum den Druck auf die Politik erhöht hat, die Straßennetze weiter auszubauen. Das setzt dann
Anreize, sich ein Auto zu kaufen, und dadurch wird wiederum der Anspruch auf eine staufreie
Fortbewegung gefördert – schließlich hat man ja in ein Auto investiert.
In der Technikforschung werden solche Verriegelungseffekte als „Lock-in“ bezeichnet. Die
QWERTY-Schreibmaschinentastatur, so das klassische Beispiel für einen technischen Lock-in, hatte
nur bei ihrer Einführung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die sinnvollste Verteilung der
Buchstaben, weil durch die nur suboptimale Tastaturanordnung die Schreibkräfte in ihrer
Geschwindigkeit gebremst wurden und so das Verhaken der Typenhebel verhindert werden konnte.
Obwohl das Verhaken von Typenhebeln angesichts von Computern heute kein Problem mehr darstellt
und eine schreibergonomisch effizientere Form der Buchstabenanordnung sich anbietet, kommt es
dennoch nicht zu einer Veränderung, weil die Investitionen in Form des Erlernens einer neuen
Tastaturanordnung zu hoch wären. In der Verkehrspolitik haben wir es zurzeit mit genau diesem
Effekt zu tun.
Die Notwendigkeit des Schauseitenmanagements
Wirtschaft und Politik kommen aus dieser Verriegelung in der Verkehrspolitik nicht heraus – das
zeichnet Verriegelungen ja gerade aus. Aber gleichzeitig lassen sich die Probleme des
Automobilverkehrs nicht ausblenden. Die Reaktion auf dieses Problem wird in der
Organisationswissenschaft als „umgekehrte Kopplung“ bezeichnet. Mit der Größe der Probleme
werden auch die Bekenntnisse zu ihrer Lösung lauter. Die Probleme, die Organisationen damit haben,
Werten wie Umweltschutz, Menschenrechten oder Effizienz gerecht zu werden, führen fast
automatisch zu einem verstärkten Bekenntnis zu genau diesen Werten. Man kann daraus fast ein
Suchschema ableiten: Je entschiedener eine Organisation sich in der Öffentlichkeit zu Umweltschutz,
Menschenrechten, Geschlechtergleichstellung oder Profitabilität bekennt, desto größer sind in der
Regel ihre Schwierigkeiten, genau diesen Ansprüchen gerecht zu werden.
Dies bietet Moralaposteln vielfältige Möglichkeiten, sich über die Differenz zwischen „offizieller
Wirklichkeit“ und „praktizierter Wirklichkeit“ zu echauffieren. Die öffentliche Empörung über die
Tricksereien von Volkswagen ist nur das jüngste Beispiel dafür. Dabei darf man nicht übersehen, dass
das „Aufhübschen“ der eigenen Schauseite zum professionellen Management in jeder Organisation
gehört. Gefilterte Reports, übersichtlich dargestellte Prozessabläufe oder geglättete Aussagen dienen
dazu, ein schlüssiges Bild der Organisation zu zeichnen. Den Außenstehenden soll durch eine
attraktive Fassade der Blick auf die Hinterbühne der Organisation verwehrt werden, um in Ruhe
Entscheidungen vorbereiten zu können, Konflikte vor der Außenwelt zu verbergen oder Fehler und
Peinlichkeiten zu verheimlichen. Man mag das scheinheilig finden – aber jede Organisation, die auf
den Aufbau von Fassaden verzichtet, wäre innerhalb kürzester Zeit am Ende.
Ein solches Schauseitenmanagement sollte selbstverständlich nicht als Schauseitenmanagement
erkennbar sein. Wenn ein Automobilkonzern für seine Zulieferer einen Selbsteinschätzungsbogen zur
Einhaltung von Arbeitsvorschriften erstellen lässt, kann man die Schauseitenfunktion schon allein
daran erkennen, dass dafür anders – als bei Produktions- oder Qualitätsfragen – keine eigenen
Abteilungen, sondern lediglich eine Werkstudentin zuständig ist. Aber diese Schauseitenfunktion darf
nach außen nicht kommuniziert werden, und es macht Sinn, wenn auch die Werkstudentin der
Meinung ist, dass diese Selbsteinschätzungsbögen das faktische Verhalten von Zulieferern verändern.
Das Scheitern des Managements
Das Management von Volkswagen ist letztlich nicht daran gescheitert, dass es geheuchelt hat. Keine
Organisation kann auf Heuchelei verzichten. Das Management ist vielmehr daran gescheitert, dass es
nicht professionell genug geheuchelt hat. Das Problem bei Volkswagen liegt darin, dass eine aus der
Sicht der betroffenen Abteilung effiziente und kostengünstige Maßnahme zur punktuellen Senkung
der Abgaswerte nicht im Hinblick auf Reputationsprobleme bei deren Bekanntwerden geprüft wurde.
Das Versagen des VW-Managements bestand darin, dass man über Jahre eine Organisationsstruktur
geduldet hat, in der solche Probleme nicht kommunizierbar waren und deswegen das
Schauseitenmanagement nur noch begrenzt von der Zentrale kontrolliert werden konnte.
Die Reaktionen des VW-Konzerns sind vorhersagbar. Organisationen in Legitimationskrisen nehmen
erhebliche Veränderungen in ihren Strukturen vor, weil gerade die hohen Kosten für solche
Strukturänderungen als Zeichen dafür gedeutet werden sollen, dass die Organisation ernsthaften
Änderungswillen zeigt. Neben der Veränderung des Regelwerks und der Schaffung neuer Abteilungen
für Compliance ist der Wechsel des Spitzenpersonals dabei das Mittel der Wahl. Schließlich ist die
effizienteste Form organisierter Heuchelei immer noch, über die öffentliche Demontage von
Führungskräften Besserung zu geloben. Die Fassade wird so repariert. Nur an der Verriegelung einer
maßgeblich auf dem Automobil basierenden Verkehrspolitik wird sich nichts ändern.
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als
Organisationsberater in der Automobilindustrie. Zum Thema ist gerade erschienen „Sisyphos im Management.
Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur“ (Campus 2015).