An VW wird das Falsche kritisiert

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An VW wird das Falsche kritisiert
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Von Stefan Kühl
E sgilt
dass
als wissenschaftlich gesichert,
durch den Autoverkehr jedes
Jahr weltweit Hunderttausende von Menschen ums Leben kommen - durch Verkehrsunfälle, Schadstoffvergiftung
oder
als Folge der Lärmbelastung.
Man
braucht zur Verdeutlichung den Blick
nicht nach Peking, Lagos oder Bogeta zu .
richten, in denen einem der Autoverkehr
buchstäblich den Atem raubt. Man kann
die Folgen problemlos
in München,
Frankfurt oder Zürich beobachten. Diese
Toten stellen nur deswegen keinen Dauerskandal in den Medien dar, weil die Menschen an Schadstoff--und Lärmbelastung
nicht unmittelbar, sondern zeitlich verzögert sterben, und die Verkehrsunfälle
über die Verantwortlichmachung
des Unfallverursachers
personalisiert
werden
können ..
Weswegen regt man sich also plötzlich
auf, wenn ein Automobilkonzern ein wenig bei der Messung der Abgaswerte getrickst hat? Die Verkehrspolitik befindet
sich nicht nur in den Industriestaaten in
einer Sackgasse. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich der motorisierte Individualverkehr weltweit durchgesetzt, ohne dass
anfangs die verkehrspolitischen
Effekte
abzusehen gewesen waren. Menschen haben sich daran gewöhnt, ihreArbeitsstelle mit dem Auto zu erreichen, Däs hat
dazu geführt, dass es als Recht betrachtet
wird sich auch in Städten mit einer Fließgeschwindigkeit von 50 km zu bewegen,
was wiederum den Druck auf die Politik
erhöht hat, die Straßennetze weiter aus. zubauen. Das setzt Anreize, sich ein Auto
zu kaufen, und dadurch wird wiederum
der Anspruch auf eine staufreie Fortbewegung gefördert - schließlich hat man
ja in ein Auto investiert.
In der Technikforschung werden solche Vernegelungseffekte
als "Lock-in"
bezeichnet. Die QWERTY-Schreibmaschinentastatur, .so das klassische Beispiel für einen technischen Lock-in, hatte
nur bei ihrer Einführung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die sinnvollste Verteiiung der Buchstaben, weil durch die
nur suboptimale Tastaturanordnung
die'
Schreibkräfte in ihrer Geschwindigkeit
"gebremst wurden und so das Verhaken
der Typenhebel verhindert werden konn. te. Obwohl das Verhaken von Typenhe-
beln angesichts von Computern heute
kein Problem mehr darstellt und eine
schreibergonomisch
effizientere Form
der Buchstabenanordnung
sich anbietet,
kommt es nicht zu einer Veränderung,
weil die Investitionen in Form des Erlernens einer neuen Tastaturanordnung zu
hoch wären. In der Verkehrspolitik haben wir es zurzeit mit genau diesem Effekt zu tun. Wirtschaft und Politik kommen aus dieser Verriegelung in der Verkehrspolitik nicht heraus - das zeichn~t
Verriegelungen ja gerade aus. Gleichzeitig lassen sich die Probleme des Autoverkehrs nicht ausblenden. Die Reaktion auf
dieses Problem wird in der Organisationswissenschaft als "umgekehrte Kopplung"
bezeichnet. Mit der Größe der Probleme
werden auch die Bekenntnisse zu ihrer
Lösung lauter. Die Probleme, die Organisationen damit haben, Wertell wie Umweltschutz, Menschenrechten' oder Effizienz gerecht zu werden, führen fast automatisch zu einem verstärkten Bekenntnis
zu genau diesen Werten. Man kann daraus fast ein Suchschema ableiten: Je entschiedener eine Organisation sich in der
Öffentlichkeit zu Umweltschutz, Menschenrechten,
Geschlechtergleichstellung oder Profitabilität bekennt, desto
größer sind in der Regel ihre Schwierigkeiten, genau diesen Ansprüchen gerecht
zu werden.
Dies bietet Moralaposteln vielfältige
Möglichkeiten, sich über die Differenz
zwischen "offizieller Wirklichkeit" und
"praktizierter Wirklichkeit" zu echauffi~ren ..Die öffentliche Empörung über die
Tricksereien von Volkswagen ist nur das
jüngste Beispiel dafür. Dabei darf ~.an
nicht übersehen,
dass das "Aufhubsehen" der eigenen Schauseite zum professionellen Management in jeder Organisation gehört. Gefilterte Reports, übersichtlich dargestellte Proz-essabläufe oder
geglättete Aussagen dienen dazu, ein
schlüssiges Bild der Organisation zu
zeichnen.
Den Außenstehenden
soll
durch eine attraktive Fassade der Blick
auf die.Hinterbühne der Qrganisation verwehrt werden, um in Ruhe Entscheidungenvorbereiten
zu können, Konflikte
nach außen zu verbergen oder Fehler und
Peinlichkeiten zu verheimlichen.' Man
mag das scheinheilig finden - aber jede
Organisation, die auf den Aufbau von Fassaden verzichtet, wäre innerhalb kürzester Zeit am Ende.
Das Management von Volkswagen ist
letztlich ll1~ht daran gescheitert, dass es
geheuchelt hat. Keine Organisation kann
auf H~uchelei verzichten. Das Management Ist daran gescheitert, dass es nicht
professionell genug geheuchelt hat. Das
Problem bei Volkswagen'1iegt darin, dass
eine aus der Sicht der betroffenen Abteilung effiziente und kostengünstige Maß,nahme zur punktuellen Senkung der AI:igaswerte nicht mit Blick auf Reputationsprobleme bei deren Bekanntwerden geprüft wurde. Das Versagen des VW-Managements bestand darin, dass man über
Jahre eine Organisationsstruktur
geduldethat,
in der solche Probleme nicht
kommunizierbar waren und deswegen
das Schauseitenmanagement nur noch begrenzt-von der Zentrale. kontrolliert werden konnte.
'
Die Reaktionen des VW-Konzerns
sind vorhersagbar. Organisationen in Legitimationskrisen
nehmen
erhebliche
Veränderungen in ihren Strukturen vor,
weil die hohen Kosten für solche Strukturänderungenals
Zeichen da:füf gedeutet werden sollen, dass die Organisation
ernsthaften Anderungswillen zeigt. Neben der Veränderung des Regelwerks
und der Schaffung neuer Abteilungen für
Compliance ist der Wechsel des Spitzenpersonals das Mittel der Wahl. Schließlichist die effizienteste Form organisier.ter Heuchelei immer noch, über die öffentliche Demontage von Führungskräften Besserung zu geloben. Die Fassade
wird 'so repariert. Nur an der Verriegelung einer maßgeblich auf dem Automobil basierenden Verkehrspolitik wirdsich
nichts ändern.
Stefan Kühl ist Professor fürOrqanrsatronssozlologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als
Organisationsberater in der Automobilindustrie,