Der blinde Fleck der BWL

Handelsblatt vom 07.03.2016
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Häring, Norbert
014
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Wirtschaft & Politik | Wirtschaftswissenschaften
Tageszeitung
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Der blinde Fleck der BWL
Mitbestimmung von Arbeitnehmern wird bei der Ausbildung von Managern kaum behandelt.
Norbert Häring Frankfurt
Wer in Deutschland eine gehobene Führungsposition in einem größeren Unternehmen ausübt, der muss sich fast auf
Schritt und Tritt mit den Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer auseinandersetzen. Die reichen vom Betriebsrat bis hinauf zu den Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten der großen
Kapitalgesellschaften. Martin Allespach
und Birgitta Dusse von der Europäischen Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt haben für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung
untersucht, wie angehende Manager im
BWL-Studium auf diesen Teil ihrer
Aufgabe vorbereitet werden.
Das Ergebnis ist eher ernüchternd. "Das
Thema Mitbestimmung ist nicht grundsätzlich Teil des Lehrplans. Die untersuchten Studiengänge greifen es selten
und selektiv auf", stellten sie fest.
Pflichtveranstaltungen, die jeder BWLStudent belegen muss, thematisierten
die Mitbestimmung selten. Das sei eher
in Wahlpflichtveranstaltungen der Fall
sowie in Masterstudiengängen zum Personalmanagement.
Das Ideal, das die Autoren im Kopf
haben, verdeutlichen sie anhand des
Lehrplans der Hochschule für Technik
und Wirtschaft in Berlin, den sie für seinen "explizit positiven Bezug zur
Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat"
loben: "Die Studierenden erkennen und
begreifen den Kompromisscharakter
von institutionellen, rechtlichen und
organisatorischen Strukturen sowie die
Funktionen von Verbänden und
Gewerkschaften."
Das BWL-Studium werde überwiegend
aufgrund von beruflichen Optionen und
materiellen Gründen gewählt und nicht
primär wegen fachlicher Interessen oder
Begabungen, stellen die Autoren fest.
Gerade BWL-Studierenden müssten
daher Vorzüge einer kooperativen
Beziehung von Management und
Arbeitnehmern erklärt werden. Wenn
das Thema stattdessen vernachlässigt
oder gar negativ eingekleidet werde,
drohe Ungemach. Dann könne es dazu
kommen, dass eine mitbestimmungsfeindliche Führungselite ausgebildet
werde.
Dafür finden die gewerkschaftsnahen
Autoren reichlich Indizien in den Studienplänen. Üblich sei "eine individualistische, unilaterale Sichtweise". Als Beispiel dient eine "Human-ResourceManagement"-Vorlesung zum Bachelor
an der Ruhr-Universität Bochum, wo es
heißt: "Es gilt dabei, die Employability
der Arbeitskräfte im individuellen und
unternehmerischen Verwertungsinteresse zu sichern. Employability ist die
Währungseinheit, über die der Austauschprozess gestaltet wird." Der
Masterstudiengang Management der
gleichen Fakultät biete zwar ein Modul
zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen
an. Doch auch darin werde eine individualistische Perspektive verfolgt und die
kollektive Vertretung der Beschäftigten
nicht erwähnt.
Die für beide Module verantwortliche
Professorin Uta Wilkens steht zu ihren
Modulbeschreibungen und hält den Studienautoren eine verzerrende Analyse
vor. "Der Wandel in den Arbeitsbeziehungen und die Individualisierung ist
explizit das Thema meiner Vorlesungen", gibt sie zurück. Dass kollektive
Gestaltung der Arbeitsbeziehungen vor
allem in wissensbasierten Branchen
kaum noch ein Rolle spiele, sei vielleicht "nicht unbedingt die Idealvorstellung der Gewerkschaften, aber ein Fakt,
mit dem sich angehende Manager auseinandersetzen müssen". Wie Personalmanagement unter unterschiedlichen
Bedingungen jeweils gestaltet werden
könne, lernten sie von ihr.
Jörn Littkemann von der Fernuniversität Hagen, die die meisten BWL-Studenten in Deutschland aufweist, betont
zwar, es werde dort mehr Mitbestimmung gelehrt, als aus den Modulbe-
schreibungen direkt ersichtlich sei. Er
bestätigt aber indirekt den Befund der
gewerkschaftsnahen Forscher. Littkemann verweist auf die Verkürzung der
Studienzeit für den Bachelor durch die
Bologna-Reform. Es sei daher nötig
gewesen, "sich auf die Kernbereiche der
Betriebswirtschaftslehre zu konzentrieren. Angrenzende Gebiete müssen dann
vertiefend in den darauf spezialisierten
Studiengängen behandelt werden". Ein
solcher spezialisierter Studiengang sei
der Bachelor of Law, wo Arbeitsrecht
eine große Rolle spiele.
Auch an der Goethe-Universität Frankfurt haben die Studienautoren kaum eine
Erwähnung von Mitbestimmungsthemen in den BWL-Studiengängen entdeckt. Studiendekan Andreas Hackethal
betont, man biete dort zwar derzeit
keine Veranstaltung speziell zur Mitbestimmung an. Viele Dozentinnen und
Dozenten integrierten Mitbestimmung
jedoch in ihren Stoff, "so dass unsere
Studierenden das Thema aus verschiedenen Perspektiven kennen lernen".
Für die Universität Münster stimmen
Dekanin Theresia Theurl und BWL-Professor Gerhard Schewe den Studienautoren zu: "Eine umfassende Beurteilung
der Corporate Governance eines Unternehmens ist nur möglich, wenn die
Rolle des Betriebsrates und der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ebenso
analysiert werden wie die Rolle von
Vorstand, Aufsichtsrat und Wirtschaftsprüfer", stellen sie fest und ergänzen:
"Vor diesem Hintergrund darf eine universitäre Ausbildung von Studierenden
der Wirtschaftswissenschaften nicht darauf verzichten, Lehrinhalte der betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmung zu vermitteln."
Kai Reimers, der Studiendekan der
RWTH Aachen, moniert, dass sich die
Böckler-Studie allein auf Modulbeschreibungen stützte. So habe sie auch
das Mission-Statement der Fakultät
ignoriert, Studierende auf eine "produk-
tive und sozial verantwortliche Karriere
in Industrie und Wirtschaft vorzubereiten". Er hält der Kritik entgegen: "Wenn
die Autoren mit uns Kontakt aufgenommen hätten, hätten wir die Vermutungen, auf die sie in ihrer Studie teilweise
angewiesen waren, gleich klären können."
Forscher Allespach will die Retourkutsche nicht gelten lassen. "Die Frage, wie
sich die Inhalte und Lernziele aus den
Modulhandbüchern in die Realität übersetzen, war nicht Gegenstand unseres
Projektes", verteidigt er sein methodisches Vorgehen. Wenn aber die Mitbestimmung ein gewichtiges Thema wäre,
dann wäre es schon merkwürdig, wenn
sich das nicht in den Modulbeschreibungen wiederfinde, gibt er zu bedenken
und erwidert: "Einfach mal nachfragen
ist mit den Regeln der empirischen
Sozialforschung nicht vereinbar."
Bei dieser negativen Auskunft will es
Allespach allerdings nicht belassen,
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denn er will das Thema weitertreiben.
Dabei will er die Lehrpraxis und die
Gründe für den blinden Fleck systematisch analysieren: Er plant bereits ein
weitergehendes Forschungsprojekt mit
Experteninterviews mit Lehrenden, Studierenden sowie Absolventen und
Absolventinnen.
ZITATE FAKTEN MEINUNGEN
Eine individualistische, unilaterale
Sichtweise dominiert Lehrgebiete mit
mitbestimmungs- relevanten Themen.
Martin Allespach, Birgitta Dusse Europäische Akademie der Arbeit
GLOSSAR
Mitbestimmung findet auf betrieblicher
Ebene gemäß Betriebsverfassungsgesetz durch Betriebsräte statt, die in
sozialen, personellen und wirtschaftlichen Belangen des Betriebs zu beteiligen sind - und auf Unternehmensebene
nach dem Mitbestimmungsgesetz durch
Belegschaftsvertreter in Aufsichtsratsräten. Corporate Governance oder Grund-
sätze der Unternehmensführung
bezeichnet den Ordnungsrahmen, in
dem die Unternehmensleitung stattfindet. Wichtig sind Kompetenzen von
Aktionärsvertretern, etwa in Aufsichtsrat oder Management und - wo einschlägig - von Mitarbeitervertretern. Shareholder Value ist ein Konzept, das die
Hauptaufgabe des Managements in der
Steigerung des Aktienwerts des Unternehmens im Sinne der Eigentümer des
Unternehmens, also der Aktionäre oder
Shareholder, sieht. Employability oder
Beschäftigungsfähigkeit stellt darauf ab,
nicht von der Beschäftigung bei einem
bestimmten Unternehmen abhängig zu
sein, sondern wechseln zu können. Sie
zu erhalten, dafür können Arbeitgeber,
Staat und Arbeitnehmer Verantwortung
tragen.
Einführungsvorlesung für Studenten der Betriebswirtschaftslehre: Was machen Gewerkschafter in
Aufsichtsräten von Unternehmen?
Thomas Raupach
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