Vom Olivenhain in Athen zum Schloss in Wolfenbüttel – Gedankengänge zu Orten der Bildung und Kultur Lutz Stratmann, Niedersächsischer Minister für Wissenschaft und Kultur Sehr geehrter Herr Hoffmann, sehr geehrter Herr Dr. Ermert, sehr geehrter Herr Kollege Storm, sehr geehrter Herr Bürgermeister Gummert, sehr geehrte Frau Kollegin Saalmann, meine sehr geehrten Damen und Herren, „Die Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel dient satzungsgemäß der Weiterentwicklung der kulturellen Bildung in unserer Gesellschaft. Dies bewirkt sie insbesondere als Ort der Fort- und Weiterbildung von haupt-, neben- und ehrenamtlichen Kräften, die in künstlerischen und kulturvermittelnden Arbeitsfeldern als Multiplikatoren tätig sind, sowie als Forum des kulturfachlichen und kulturpolitischen Diskurses.“ Dies ist die Einleitung zu den aktuellen Grundinformationen über die Akademie. Knapper und präziser kann man den Aktionsradius der heute zu feiernden Einrichtung kaum beschreiben. Ein „gut so, weiter so“ könnte ich folgen lassen und dann zum kommunikativen Teil des Festaktes bitten. Die Prägnanz dieser beiden Sätze lädt aber geradezu dazu ein, ihnen Assoziationen und Gedanken entgegenzuhalten. Das fällt mir als letztem Redner umso leichter, weil Sie bereits von kundiger Seite mit vielen Fakten versorgt wurden. Einst – wenn Sie mir nun bitte in die Antike folgen wollen –, erwarb Platon (um 387 v. Chr.) in Athen den Hain des hellenischen Helden Akademos, wo er einen Kultbezirk für die Musen einrichtete und philosophischen Unterricht zu erteilen begann. Dort debattierten die Schüler Fragen, die ihr Lehrer Platon angeregt, aber nicht zu einer Lösung gebracht hatte und die somit ob ihrer Mehrdeutigkeit vielfältige Ansatzpunkte zum Weiterdenken boten. Platons Lehre ging von einem universalen Bildungsbegriff aus und bot eine Vielfalt der Fächer. Man befasste sich mit Metaphysik, Ontologie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Dialektik, Ethik, mit Verfassungstheorie, Mathematik und Geometrie, Astronomie, Kosmologie, Physik, Seelenkunde, Sprachwissenschaft, philosophischer Theologie und Dämonenlehre. Dort also müssen wir die Ursprünge akademischer Lehranstalten verorten. Erlauben Sie mir nun, zurückzukehren in die Gegenwart, hierher, an den Ort, der zu Recht den Namen Akademie trägt. Auch wenn das Themenspektrum der Bundesakademie nicht derart umfangreich ist wie das Fächerangebot zu Platons Zeiten, so umfasst es doch viele Künste und regt auch den spartenübergreifenden diskursiven Dialog an. Ob allerdings der Verzicht auf die Dämonenlehre zu verschmerzen ist, oder ob diese sich womöglich im rhetorischen Subtext verbirgt, darüber kann man später diskutieren. Allein der Name „Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel“ ist schon Programm. Er verbindet den Gedanken einer Akademie für den kulturwissenschaftlichen und künstlerischen Austausch mit dem eines Ortes, dem die Qualität eines „locus genii“ zukommt. Wolfenbüttel, 1118 erstmals urkundlich erwähnt, war von etwa den 1430er Jahren bis 1753 Residenzstadt des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel. Im frühen 17. Jahrhundert war hier der Komponist und Musikschriftsteller Michael Praetorius Hofkapellmeister. Nach ihm haben wir ja inzwischen der Musikpreis des Landes Niedersachsen benannt. Auch die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, eine der ältesten unversehrt erhaltenen Bibliotheken der Welt, war schon damals ein Magnet für gelehrte Geister. Mit der seinerzeit größten europäischen Büchersammlung wurde sie von Barockgelehrten als achtes Weltwunder angesehen. Hier wirkten 1690 bis 1716 Gottfried Wilhelm Leibniz und 1770 bis 1781 Gotthold Ephraim Lessing als Bibliothekare, deren Ruf Gelehrte aus ganz Europa nach Wolfenbüttel zog. Heute eine moderne Forschungsbibliothek von internationalem Rang mit einem immensen Bestand und deutsche Nationalbibliothek für das 17. und 18. Jahrhundert, verdankt sie ihren Weltruhm den mittelalterlichen Handschriften, darunter das „Evangeliar Herzog Heinrichs des Löwen“, den mehr als 4000 Erstdrucken sowie aus jüngster Zeit der Sammlung von sog. „Malerbüchern“, Unikaten malender Dichter und dichtender Maler mit Werken von Picasso, Günter Grass, Miró und vielen anderen. Der Tradition verpflichtet, offen für die Moderne. Lessing war, wie Sie wissen, ein vielseitig interessierter Dichter, Denker und Kritiker. Als führender Vertreter der deutschen Aufklärung wurde er zum Vordenker für das neue Selbstbewusstsein des Bürgertums. Seine theoretischen und kritischen Schriften zeichnen sich aus durch einen oft witzigironischen Stil und treffsichere Polemik. Das Stilmittel des Dialogs kam dabei seiner Intention entgegen, eine Sache stets von mehreren Seiten zu betrachten und auch in den Argumenten seines Gegenübers nach Spuren der Wahrheit zu suchen. Diese erschien ihm dabei nie als etwas Festes, das man besitzen konnte, sondern stets als ein Prozess des sich Annäherns. Mehr noch, er war sogar der Meinung: „Die Suche nach Wahrheit ist köstlicher als deren gesicherter Besitz.“ Hier sind wir wieder auf den Spuren Platons und gleichzeitig mitten in der Gegenwart, denn Dialog, Kommunikation, Experiment sind methodische Merkmale des Arbeitsprozesses hier in der Bundesakademie. Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat in seinem jüngsten Roman „Die Vermessung der Welt“ die Forscher Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt einander begegnen lassen. Dieser Daniel Kehlmann kam im Jahre 2004 im Rahmen des Literarischen Collegiums der Stiftung Niedersachsen hier in Wolfenbüttel „mit Lessing ins Gespräch“, so jedenfalls lautet der Band der Göttinger Sudelblätter mit Beiträgen der beteiligten Autorinnen und Autoren. Dort nennt Kehlmann Lessing „einen Virtuosen des Ärgers“. Was ihn „in hellen Zorn versetzen konnte“ war letztendlich immer das gleiche: er ertrug Intoleranz ebenso wenig wie Unfreiheit. Lessing legte dabei Wert auf die Unterscheidung von Innerer und Äußerer Freiheit. Während Äußere Freiheit eine soziale Größe sei und Zwänge ausschließe, die aktuell bestünden und von Mitmenschen ausgingen, beschreibe die Innere Freiheit einen Zustand, in dem der Mensch durch Einsatz seiner Rationalität die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutze und sich dabei auch von inneren Zwängen wie Trieben, Verhaltensmustern, Gewohnheiten und ähnlichem befreie. Der Schlüssel zur Inneren Freiheit ist zweifelsohne Bildung. Oder, um mit Bourdieu zu sprechen, „inkorporiertes Kulturkapital“, also erworbene und verinnerlichte Bildung, die Aneignung von Kultur durch die Familie und das Bildungssystem. Oder nochmals Daniel Kehlmann: „Kulturen, so befand Lessing am Ende seines Lebens, entwickeln sich wie Individuen, mit großen Rückschritten zwar, aber aus Fehlern lernend.“ Letzteres scheint mir eine wesentliche Bildungsvoraussetzung: das Akzeptieren von Fehlern. Innovation ist schlechterdings nicht möglich, wenn man nicht das Scheitern mit einkalkuliert. Deshalb muss es Räume geben, die die Freiheit des Experiments in Praxis und Theorie ermöglichen. Die Bundesakademie ist ein solcher Ort Künste und kulturelle Bildung leisten einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt und zur Förderung des Kreativitätspotentials der Gesellschaft. Kulturelle Bildung wird demzufolge eine wichtigere Rolle in den Bildungseinrichtungen einnehmen müssen, und zwar in Schule, in außerschulischen Bildungsinstitutionen und auch –stärker noch als bisher – in den Kultureinrichtungen selbst. Kulturelle Bildung darf sich auch nicht ausschließlich auf Kinder und Jugendliche konzentrieren, sondern muss alle Altersgruppen einbeziehen. Das ergibt sich vor dem Hintergrund der zu erwartenden demographischen Entwicklung, die ebenso häufig wie zutreffend mit der Kurzformel „Wir werden weniger, älter und bunter“ umschrieben wird. Diesem gesellschaftlichen Wandel haben sich nicht nur die Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik zu stellen, sie betrifft auch die Kulturpolitik. Hier ist der Aspekt neuer Zielgruppen einzubeziehen, also z. B. der wachsenden Zahl der gut gebildeten und aktiveren Älteren ebenso wie der ebenfalls wachsenden Zahl von jüngeren und älteren Mitbürgern mit Migrationshintergrund. Kulturelle Bildung muss in ihrer Dimension als integrativer Faktor eigentlich erst noch systematisch entdeckt und entwickelt werden. Kulturelle Bildung gehört als wichtige Voraussetzung für eine breite Beteiligung aller Menschen am kulturellen Leben recht verstanden zur „Daseinsvorsorge“ der staatlichen Gemeinschaft für ihre Mitglieder und für die Qualität des Ganzen. Wie die meisten von Ihnen wissen, wird dies auch im Zusammenhang mit den sogenannten GATS-Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO diskutiert, Stichwort: Handel mit Dienstleistungen. Nach meiner Überzeugung kann dieser freie Handel nicht sozusagen „ungebremst“ auf alle Bereiche von Künsten und Kultur und schon gar nicht auf kulturelle Bildung übertragen werden. Für die Bewältigung all dieser Zukunftsherausforderungen sind Einrichtungen wie die Bundesakademie unverzichtbare Partner. Es geht um ästhetische Erfahrung im Kontext der Allgemeinbildung. Das weite Feld einer unmittelbaren kulturellen Arbeit mit Menschen aller Altersstufen ist zu vermessen, wobei die Kulturinstitutionen, die Kulturwirtschaft, die Bildungsträger, der Arbeitsmarkt generell, einzubeziehen sind. Kompetente Kulturvermittler sind gefragt. Wir brauchen folglich qualifizierte Fachkräfte und daher ein gut ausgebautes System der Aus- und Fortbildung. Gerade vor dem Hintergrund enger Haushalte müssen die vorhandenen Strukturen in unserem Land effektiver genutzt und enger miteinander verzahnt werden. Die Bundesakademie ist bereits eingebunden in solche Netzwerke. Zum einen koordiniert sie zukünftig die Fortbildungsangebote der freien Kulturverbände in Niedersachsen, zum anderen beteiligt sie sich an der Entwicklung gemeinsamer Angebote mit den künstlerischen Fachbereichen und Hochschulen im Rahmen der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge. Kulturelle Bildungsangebote werden von vielen unterschiedlichen Anbietern ermöglicht: von NonProfit-Organisationen bis zu gewerblichen Anbietern, von privaten und öffentlichen Institutionen, von Künstlerinnen und Künstlern, getragen von ehrenamtlichem und bürgerschaftlichem Engagement. Sie alle machen die Klientel der Bundesakademie aus. Apropos Arbeitsmarkt: während in Deutschland das Wachstum der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung in den Jahren 1995 bis 2003 stagnierte, ist die Zahl der Erwerbstätigen in den Kulturberufen im gleichen Zeitraum insgesamt um 31 Prozent gestiegen. Oder anders gesagt: Heute arbeiten in den Kulturberufen mehr Menschen als etwa in der Automobilindustrie, und die Zahl der Museumsbesucher liegt in Deutschland fast zehnmal so hoch wie die Zahl der Besucher von Bundesligaspielen. Doch lassen Sie mich wieder ein wenig abschweifen von der Welt des Faktischen. Wir sind Platon und seinen Schülern begegnet, Lessing trafen wir in Wolfenbüttel. Aber wenn man über ästhetische Bildung spricht, so kreuzt zwangsläufig auch Friedrich Schiller unseren Weg. In seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ protestiert er gegen das Zwangsdiktat der Vernunft der Aufklärung ebenso wie gegen die Willkür der Sinne bzw. der Natur. Noch bevor der Mensch anfange, in Worten und Kategorien zu denken, nehme er seine Umwelt über die seine Sinne wahr, sagte er. Er begreife, er erfasse die Dinge, er eigne sich die Welt an. Erst durch die sinnliche Wahrnehmung entwickle der Mensch Sprache und damit Vernunft, und erst das ließe ihn, wie Schiller sagt, „moralisch“ handeln. Schillers Begriff von Vernunft ist der einer kreativen Aktivität. Wahrnehmung ist ein ganzheitlicher Prozess, Sinne und Vernunft sind nicht voneinander zu trennen, im Gegenteil, sie bilden eine Einheit. Wenn man so will, ist ästhetische Bildung die zentrale Aufgabe von Bildung überhaupt. Was aber sind ästhetische Erfahrungen? Sie sind Erfahrungen der Differenz zu bisher Erfahrenem, der Diskontinuität, der Überraschung, des Genusses, der Kontemplation. Sie entziehen sich einem vordergründigen Nutzungs- und Verwertungsprozess. „Art as Experience“, wie es der amerikanische Philosoph und Pädagoge Dewey bereits 1934 formulierte. Oder wie der Kunstpädagoge Gert Selle sagt, der lange Jahre an der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg lehrte und auch Mitglied im Beirat der Bundesakademie war: „Ästhetische Erfahrungen und Empfindungen sind ein Teil unserer „Grundausstattung““. Ende der 1970-er; Anfang der 1980-er Jahre, als Hilmar Hoffmann mit vielen anderen Kulturschaffenden die Forderung nach einem erweiterten Kulturbegriff, einer breiteren Kulturpraxis und nach entsprechenden Bildungsangeboten stellte, beginnt die Gründungsgeschichte der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel. 1986 nahm sie schließlich ihre Arbeit auf als „Ort für Kunst, Kultur und ihre Vermittlung“. wie die Bundesakademie sich gerne selbst definiert. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein ertragreicher, ein konstruktiver Dialog/Diskurs nicht an Landesgrenzen halt macht. Seit Anbeginn war der Bund ein verlässlicher Partner. Und es ist ein gutes Signal, heute zu hören, dass der Bund auch weiterhin Projekte der Akademie mitfinanzieren wird. Niedersachsen als Sitzland steht selbstverständlich zu seiner Verantwortung und wird die Förderung dieser Institution beibehalten, wie dies im vergangenen Jahr in einer Zielvereinbarung unterschrieben wurde. Die von Platon gegründete Akademie bestand - wenn auch nicht durchgängig - bis zu ihrer Schließung durch Kaiser Justinian I. im Jahr 529 rund 900 Jahre. Hinter der Bundesakademie Wolfenbüttel liegen jetzt zwanzig Jahre, zwanzig erfolgreiche Jahre! Hier wurden unverzichtbare Erfahrungen gesammelt und weitergegeben, viele konstruktive Debatten geführt und auch nachhaltige Anregungen in Richtung Kulturpolitik gesandt. Wünschen wir der Akademie eine lange fruchtbare Zukunft und lassen Sie uns den genius loci genießen!
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