AB NACH MÜNCHEN! KUNSTHANDWERKERINNEN HEUTE LYDIA GASTROPH Geboren 1957 in Kirchheimbolanden/Rheinland-Pfalz Seit 1979 in München Vater: evangelischer Pfarrer Mutter: Kindergärtnerin, Pfarrfrau Kinder: Ein Sohn KINDHEIT Bis zum Schuleintritt lebte ich mit meinen Eltern und meinen beiden Schwestern in einem Dorf, später in verschiedenen Kleinstädten in der Pfalz. 1970 zogen wir in ein sehr großes, um 1900 erbautes Pfarrhaus mit großem Garten. Das stark von der Religion geprägte dörfliche und kleinstädtische Familienleben empfand ich schon früh als beengend und einschränkend. Ich wollte berühmt werden und die Welt verändern als Forschungsreisende und Entdeckerin, als Archäologin oder Astronautin. Später, nach ersten Kontakten zum studentischen Leben in Heidelberg, wollte ich Friedensforscherin am damals neu gegründeten Stockholm International Peace Research — Ohrschmuck »Tropfen«, Gold 900/000, hohl montiert, 2013, 14 x 10 mm 10 Institute werden und schrieb mich 1976 für ein Studium der Politik und Soziologie in Marburg ein. AUSBILDUNG Nach zwei Semestern in Marburg waren mein Freiheitsdrang und mein Wunsch, aus dem bürgerlichen Leben auszubrechen, nicht mehr zu unterdrücken. 1977 brach ich das Studium ab und zog nach Kreta. Hermann Jünger und seinen Schülern in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus. Hätte ich diese Ausstellung früher gesehen, hätte ich niemals den Mut gehabt, mich als Autodidaktin in dieser hochkarätigen Klasse zu bewerben. 1984 wurde ich Meisterschülerin bei Hermann Jünger; 1985 legte ich die Gesellenprüfung als Goldschmiedin ab und beendete mein Studium an der Akademie. Entscheidend für meine weitere Lebensplanung war eine Schmuck-Verkaufsausstellung mit »Lebender Werkstatt« im Kaufhaus Beck am Marienplatz, gemeinsam mit Barbara Seidenath, Eugenie Hinrichs und Christoph Jünger. Ich erkannte ein enormes Potential und sah einen Bedarf an neuem, zeitgenössischem Schmuck, manufakturmäßig in kleinen Serien und in höchster künstlerischer Qualität hergestellt. Darüber hinaus entdeckte ich die Qualität der Teamarbeit. Besonders die Zusammenarbeit mit Barbara Seidenath war in hohem Maße inspirierend. Daraus sollte später die Schmuckmanufaktur »Gastroph + Seidenath« entstehen. Aus Messingblech, Messingdraht, Zinnlot, Muscheln und anderem Strandgut fertigte ich Schmuckstücke, mit deren Verkauf ich meinen Lebensunterhalt finanzierte. Mit der Entdeckung meiner handwerklichen, künstlerischen und kreativen Möglichkeiten, beschloss ich von meiner eigenen Hände Arbeit zu leben. Weil mir diese Arbeit Freude und Genugtuung verschafft und ich so selbständig und selbstbestimmt mein Leben gestalten kann. Ich erkannte aber auch, dass ich mich ohne fundierte Ausbildung nicht weiterentwickeln würde, um meine Fähigkeiten voll zu entfalten. Allmählich entstand der Wunsch, aus meiner autodidaktischen Tätigkeit einen »anständigen« Beruf zu machen. Eine ehemalige Studentin der Münchner Kunstakademie machte mich auf die Klasse für »Schmuck und Gerät« von Professor Hermann Jünger an der Münchner Kunstakademie aufmerksam. Den Ruf »Ab nach München« habe ich damals ganz deutlich vernommen. Ich entschied spontan, mich an dieser Kunstakademie zu bewerben und schickte einen Schuhkarton voller Schmuck als Bewerbungsmappe an Professor Hermann Jünger, verließ Kreta und zog nach München. BERUF UND BERUFUNG Vor allem zwei Ereignisse betrachte ich als entscheidend für meinen beruflichen Werdegang. Ich wurde zur Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie zugelassen, bestand alle Prüfungen und bekam einen der international begehrten und raren Studienplätze in der Goldschmiedeklasse. Erst nach Beginn meines Studiums besuchte ich die Ausstellung »Körper – Zeichen« von Zum einen die Begegnung mit der Kunstakademiestudentin in Kreta während meiner »Hippiezeit«, die mich auf Hermann Jünger und seine Goldschmiedeklasse aufmerksam machte, was schließlich zu meinem Studium in München führte. Ich war völlig unbedarft. Ich wusste Diese sehr erfolgreichen Wochen im Kaufhaus Beck haben meinen späteren Berufsweg maßgeblich beeinflusst. Das Kaufhaus Beck war für mich eine praktische »Lehrveranstaltung«, was und wie ich später arbeiten und wovon ich leben wollte. Ein Testlauf für den Schritt in die Selbständigkeit. 11 LYDIA GASTROPH nicht einmal, dass eine der Voraussetzungen für das Studium eine abgeschlossene Goldschmiedelehre war. Allein mein Interesse und meine Spontaneität waren maßgeblich für diesen entscheidenden Schritt. Und zum anderen die Konfrontation mit dem Sterben und Tod einer Freundin, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Abschied und Vergänglichkeit führte. Schmuck Meine erste Werkstatt richtete ich 1985 mit Hilfe eines Ateliergründungszuschusses der Danner-Stiftung ein. 1986 eröffnete ich gemeinsam mit Barbara Seidenath die Schmuckmanufaktur »Gastroph + Seidenath«. Ganz bewusst haben wir Ideen und Arbeitsprozesse entwickelt und Schmuckmodelle entworfen, die für die Reproduzierbarkeit geeignet waren. Diese ausgesprochen fruchtbare Zusammenarbeit endete 1994 mit dem Umzug meiner Partnerin nach Amerika. Heute verarbeite ich neben Gold vor allem Silber – gegossen und montiert – und nach eigenen Entwürfen in Idar-Oberstein geschliffene Steine und Glas. Nach wie vor fertige ich keine Einzelstücke oder Kundenaufträge, sondern entwerfe Schmuckstücke, die ich dann in Kleinserien produziere. w e i s s ... über den tod hinaus Der Tod einiger mir sehr nahestehender Personen rückte den Zustand unserer Bestattungskultur ins Zentrum meiner Beobachtungen. Ich stellte ein enormes Defizit bei der Gestaltung der »letzten Dinge« fest. Wie sich dieses beheben lässt, zeigte mir der Sarg, den Lene Jünger für ihren Vater schreinerte. Gemeinsam mit ihr gründete ich 2010 »w e i s s … über den tod hinaus«, seit 2012 bin ich allein für das Geschäft verantwortlich. Im Rahmen dieses Unternehmens zeige ich Möglichkeiten, den letzten Abschied individuell zu gestalten. Unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler fertigen Bestattungsgegen12 stände auf höchstem handwerklichem Niveau. Damit leisten wir nicht nur einen Beitrag, handwerkliche Traditionen und Techniken zu bewahren und weiterzuentwickeln. Durch Ausstellungen, Vorträge, Kooperationen mit Museen, Galerien, Kirchen, Hospizvereinen etc. räumen wir dem Tod und den Toten den ihnen zustehenden Platz in unserer Gesellschaft ein. ARBEITSPLATZ Zurzeit arbeite ich allein in einem ca. 25 m2 Raum in der Maxvorstadt, sehr zentral gelegen, nahe der Kunstakademie und mitten im Museumsviertel von München. Im Lauf der Jahre habe ich mir hier ein hervorragendes berufliches Netzwerk aufgebaut. In München besteht ein großes Interesse an zeitgenössischer Handwerkskunst und Kultur. Die Stadt ist inzwischen Zentrum der zeitgenössischen Schmuckkunst. Künstler, Sammler, Käufer und Galeristen treffen sich hier einmal jährlich auf der Handwerksmesse mit der Schmuckschau. Und last but not least: Die Münchnerin zeigt sich gerne mit ausgewählten Schmuckstücken. KÜNSTLERISCHES STATEMENT »Der Tod und die Schönheit sind zwei tiefgründige Dinge, die ebenso viel Schatten wie Licht in sich tragen, als seien sie zwei Schwestern, schrecklich und schöpferisch zugleich, dasselbe Rätsel und dasselbe Geheimnis bergend.« (Victor Hugo) — Kati Jünger, Urne, Steinzeug, gedreht und montiert, 2011, H. 22 cm, D. 25 cm VERKAUF Schmuck verkaufe ich überwiegend über Galerien für zeitgenössische Schmuckkunst in unterschiedlichen Städten im Inund Ausland. w e i s s ... über den tod hinaus Särge, Urnen etc. verkaufe ich über Ausstellungen und zunehmend über das Internet www.lydiagastroph.de. AB NACH MÜNCHEN! Der Satz trifft wörtlich auf mich zu. »Ab nach München« war der Ruf, dem ich in meiner »Hippiezeit« in Kreta folgte. Er führte zum Abbruch meines mehrjährigen Griechenlandaufenthaltes und zur Bewerbung für ein Studium in der Klasse für »Schmuck und Gerät« an der Münchner Kunstakademie. Damit habe ich aus einer autodidaktisch erworbenen Fähigkeit einen künstlerischen Beruf gemacht, mit dem ich mich und meinen Sohn ernähren kann. München ist mein Lebensmittelpunkt geworden. Seit 1979 lebe und arbeite ich hier. Ich schätze an der Stadt eine geradezu geniale Mischung aus Großstadtleben und Rückzugsmöglichkeiten in der Natur. 13
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