Das Saft-Experiment

JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 4 4 2
Das Saft-Experiment
E
s gibt neue Erkenntnisse aus dem Pubertierlabor. Dem Versuchsleiter ist
es gelungen, das Ordnungsprinzip seines Pubertiers zu erforschen. Um
das Fazit vorwegzunehmen: Es gibt kein Ordnungsprinzip. Es herrscht
jedoch, was Verantwortungsbewusstsein und Organisationstalent
angeht, auch keine völlige Willkür. Manchmal ist das Pubertier auf
diesem Feld zu erstaunlichen Großtaten von Disziplin und Ehrgeiz
imstande.
Carla ist zum Beispiel problemlos dazu in der Lage, mit öffentlichen
Verkehrsmitteln in den Sommerferien bis nach Biscarosse Plage auf einen Campingplatz zu
reisen, um dort Jugendliche aus diversen Ländern kennen zu lernen. Sie verliert weder ihren
Ausweis noch ihren Schlafsack. Sie kann ohne größeren Ansehensverlust in mäßigem
Französisch Lebensmittel sowie eine ausgesprochen hässliche Pfeffermühle mit einem
Stadtwappen von Arcachon kaufen. Und: Das Pubertier findet wochenlang in praktisch
jedem Ort der Welt ein kostenloses W-LAN. Es erinnert bei der Zielgenauigkeit der WiFiSuche an einen gut ausgebildeten toskanischen Trüffelhund.
Ebenfalls vollkommen mühelos organisierte das Pubertier nach seiner Rückkehr einen
Oktoberfestausflug mit seinen Freunden, dessen Planung stark an die logistischen
Herausforderungen von Hannibals Alpenüberquerung erinnerte. Allerdings wurden keine
Elefanten mitgenommen, dafür kräftig gebaute Begleiter in karierten Oberhemden. Das
Pubertier erreichte durch charmante Überredungskunst den unmöglich scheinenden Einlass
für alle acht Wiesnfreunde und ergatterte einen Tisch, der mit einer Bowlingtruppe aus Texas
geteilt werden musste, aber immerhin. Das Versuchsobjekt Carla, soviel ist bis hierhin
festzuhalten, kann wirklich viel, auch im internationalen Austausch. Eine Saftflasche
aufzuräumen bringt sie jedoch an die Grenzen ihrer Möglichkeiten.
Die Saftflasche steht im Wohnzimmer, was nicht unbedingt das natürliche Habit von
Saftflaschen darstellt. Besonders dann nicht, wenn Saftflaschen leer sind. Sie wohnen dann
bis auf Weiteres im Keller. Der Versuchsleiter entdeckt die Flasche am Sonntagmorgen und
bittet das Pubertier, sie aufzuräumen. Das Pubertier reagiert darauf mit Unverständnis und
fragt zunächst, warum ausgerechnet sie das tun solle. Nach einer kaum fünfminütigen
Debatte erklärt es, dass im Keller Spinnen seien und lehnt ab, dorthin zu gehen. Schließlich
willigt es doch ein, die Flasche später nach unten zu tragen, wenn es dem Versuchsleiter
damit einen persönlichen Gefallen täte.
Eine Stunde später steht die Flasche immer noch im Wohnzimmer. Auf die erneute Bitte,
die Flasche JETZT aufzuräumen, fordert das Pubertier den Versuchsleiter auf, endlich mal zu
chillen. Der Versuchsleiter, zuvor wie immer ruhig und besonnen, chillt daraufhin kein
bisschen und droht damit, die Flasche in das Zimmer der Probandin zu stellen, wo sie bis an
deren Lebensende stehen bleiben könne. Die Probandin entgegnet ruhig, das sei kein
Problem, denn dort stünden bereits vier Flaschen.
Bei der Inaugenscheinnahme des Zimmers stellt der Versuchsleiter fest, dass dort
tatsächlich mehrere Flaschen mit teilweise nicht mehr identifizierbarem Inhalt auf dem
Schreibtisch, dem Boden sowie einer Kommode stehen. Offenbar gedenkt Carla, in ihrem
Labor neues Leben zu züchten. Der Versuchsleiter versucht es nun mit dem
Belohnungsprinzip und verspricht die Zubereitung von Schokoladenpudding, wenn die
Flaschen vollständig und innerhalb der nächsten Stunde entsorgt würden.
Eine knappe halbe Stunde später steht die Saftflasche nicht mehr im Wohnzimmer –
sondern im Esszimmer. Die Flasche hat nunmehr knapp vier Meter zurückgelegt. Der
Versuchsleiter macht sich Notizen und wartet ab. Bis zum frühen Abend sind tatsächlich alle
Flaschen in den Keller verbracht worden. Vereinbarungsgemäß macht sich der
Versuchsleiter an die Produktion des versprochenen Schokoladenpuddings, der vom
Pubertier mit großem Genuss verzehrt wird. Am nächsten Tag entdeckt der Versuchsleiter
ein benutztes Puddingschälchen im Wohnzimmer. Manchmal kommt dem Versuchsleiter
sein Leben sinnlos vor. •
28. SEPTEMBER 2015