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JAN WE ILE R
ME IN L E BE N A L S ME NSCH
FOLG E 5 04
Spazierganglabor
W
ährend an Werktagen bei Pubertieren ein steter Wechsel von
einerseits
geradezu
katatonischer
Zockerstarre
und
andererseits rastlosem Sporttreiben zu verzeichnen ist, wird der
Sonntag im Wesentlichen dadurch gefüllt, dass Pubertiere
lange schlafen, um dann etwas auszuruhen und auf der Couch
zu chillen. Zwischendurch sind sie empfänglich für Nahrung,
nicht jedoch für Gespräche oder körperliche Betätigungen. Das
findet der Versuchsleiter prinzipiell in Ordnung, denn die
Pubertiere sind auf diese Weise wehrlos seinen Vorträgen ausgeliefert, in denen er das
Nichtstun geißelt und seinen Pubertieren erzählt, dass es zu Zeiten seines eigenen
Urgroßvaters so etwas wie Sonntag für Kinder gar nicht gegeben habe, weil sie erst in die
Kirche, dann in die Sonntagsschule und schließlich in den Garten mussten, um dicke Bohnen
auszumachen. Die Pubertiere ignorieren ihn und widmen sich brummenden, zischenden und
piependen Vorgängen an ihren Mobilgeräten.
Der Versuchsleiter hat Lust auf ein Experiment und erinnert sich an den Satz des
Kabarettisten Hanns-Dieter Hüsch, dass es in jeder Familie Spazierganggeber und
Spaziergangnehmer gebe. Der Versuchsleiter möchte das überprüfen und begibt sich in die
Rolle des Spazierganggebers. Als solcher setzt er sich zu den Pubertieren und spricht: „So,
liebe Kinder, jetzt machen wir mal einen schönen langen Sonntagsspaziergang.“ Dann
schreibt er mit, was die Pubertiere antworten, nämlich: „Digger, es ist neblig, mich kriegt nix
von der Couch, es ist fast dunkel, da habe ich angst, ich muss noch die goldene Lanze nach
Ascharoth bringen und meine Skills verbessern.“ Alles Ausreden, notiert der Versuchsleiter
und führt ins Feld, dass Kinder regelmäßig gelüftet werden müssten, weil sie sonst bei einem
etwaigen Notverkauf nicht genug bringen würden.
Das männliche Pubertier Nick behauptet, Spazieren gehen sei eine totale Oppa-Tätigkeit.
Niemand unter vierzig gehe spazieren und er mache überhaupt nur lange Wege, wenn diese
zu einem sinnvollen Ziel führen. „Unser Zuhause ist das Ziel“, sagt der Versuchsleiter, aber
das weibliche Pubertier winkt ab und stellt fest, dann sei ja alles gut, denn dann sei sie bereits
am Ziel. Und außerdem ginge sie nicht mit, weil sie gestern auf der Suche nach einem Paar
Turnschuhe bereits zwölf Kilometer durch die Stadt gelatscht sei.
Nun probiert der Versuchsleiter eine andere Taktik und gibt als Ziel ein Wirtshaus an, in
welchem Kuchen gegessen werden kann. Das männliche Pubertier bemerkt oberschlau, dass
wenn das Wirtshaus das Ziel sei, man ja anschließend mit dem Taxi nach Hause fahren
könne. Der Versuchsleiter wird sauer und bringt sämtliche Jacken ins Wohnzimmer, worauf
er als Sklaventreiber, Diktator, Alpha-Kevin und Frischluftnazi bezeichnet wird.
Auf den ersten hundert Metern bleibt die Gruppe noch dicht zusammen, was auch an der
Konversation liegen könnte, denn der Versuchsleiter und seine Gattin sprechen über
Weihnachtsgeschenke. Der Versuchsleiter wünscht sich einen schönen Wasserkocher, weil
er den alten apokalyptisch hässlich findet. Von jenem behauptet die Gattin jedoch, er sei nicht
hässlich, sondern markant und darüber hinaus ein Geschenk ihrer Mutter. Der Versuchsleiter
hofft, dass das ultrabrutal scheußliche Teil einfach stirbt.
Als die Sprache auf Donald Trump kommt, lässt das männliche Pubertier abreißen und
trödelt, es muss mehrfach auf ihn gewartet werden. Bei der Konversation über die SPDKanzlerkandidatur kommt das weibliche Pubertier komplett zum Stillstand und beklagt, dass
die Themen für sie echt zu low seien. Das Ziel „Wirtshaus“ wird nach einem Sitzstreik der
Pubertiere auf der Straße einen Kilometer vor dessen erreichen in „Zuhause“ abgeändert.
Insgesamt stoppt der Versuchsleiter eine Spaziergangdauer von 31 Minuten und vierzehn
Sekunden, was er gut, aber ausbaufähig findet. Aus lauter Begeisterung schlägt er eine
schöne Teeplauderstunde vor und bittet seinen Sohn, das Teewasser aufzusetzen. Das
männliche Pubertier lässt wenige Augenblicke später den Wasserkocher fallen, der durch
den Verlust des Griffes irreparabel beschädigt wird. Der Versuchsleiter steckt seinem Sohn
dafür später heimlich fünf Euro zu. Auf diese Weise haben beide etwas von dem Spaziergang
gehabt. •
5. DEZEMBER 2016