Guido Fluri

Montag, 27. Juli 2015 / Nr. 171 Neue Luzerner Zeitung Neue Zuger Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Urner Zeitung Bote der Urschweiz
Tagesthema
3
Versorgt – und bis heute stigmatisiert
ZEITZEUGE 1300 ehemalige
Heim- und Verdingkinder
haben beim Bund ein Gesuch
um Soforthilfe eingereicht.
Eine 79-jährige Luzernerin
erzählt von ihrem Leidensweg.
letzte Heimstation. Ab dem Zeitpunkt
ihrer Entlassung aus dem Heim hat folgende Vision Agatha geprägt: Unabhängigkeit, zwischenmenschliche Solidarität
und Aufstehen gegen Ungerechtigkeit.
«Das zu beherzigen, ist mir bis heute
gelungen, und ich habe mir mein Selbstwertgefühl durch dieses Leitbild selbst
erarbeitet», sagt die heute 79-Jährige.
Nur durch Verdrängung erträglich
SARAH WEISSMANN
[email protected]
Wäre es nach den Behörden gegangen,
würde Agatha Ammann* heute nicht
existieren. Das ehemalige Heimkind
wohnt seit 25 Jahren in der Stadt Luzern
und erzählt in ihrer Wohnung von ihrem
Leidensweg. Die 79-Jährige ist eine der
101 Zentralschweizer, die beim Bundesamt für Justiz ein Gesuch um Soforthilfe eingereicht haben (Ausgabe vom
18. Juli 2015).
Im Januar 1936 kam Agatha im Kantonsspital Zürich zur Welt – ihre Mutter,
damals eine Hilfsarbeiterin, kämpfte für
Agathas Leben. Der Vater war Alkoholiker,
und Agatha sollte als viertes Kind der
Familie geboren werden, doch aus Armutsgründen wollten die Behörden, dass
Agathas Mutter abtreibt. «Meine Mutter
hat sich gegen diese Diktatur gewehrt.
Kurz vor ihrem Tod sagte sie mir, ich
hätte mit jedem Herzschlag geschrien,
dass ich leben will.» Für einen Moment
gewann die Mutter den Kampf, sie brachte ein gesundes Mädchen zur Welt.
Kaum abgenabelt, wurde Agatha in ein
Säuglingsheim im Kanton Aargau gebracht – eine Strafe für die ungehorsame
Mutter. «Sie durfte mich nicht einmal in
den Arm nehmen.» Bis heute ein bleibendes Trauma für Agatha. Die Bindung
zur Mutter, ein herzlicher Umgang fehlten ihr das Leben lang. «Diese menschenverachtenden Massnahmen wurden systematisch durchgeführt. Menschenrechte wurden verletzt.»
Ein Leben lang unterprivilegiert
Nach dem Säuglingsheim wurde Agatha
vom Fürsorgeamt ins Josefheim in Dietikon im Kanton Zürich gebracht. Dort
blieb sie bis zum zehnten Lebensjahr.
Anschliessend kam Agatha in ein katholisches Waisenheim im Rheintal. Ein
Waisenheim, weil es Platz hatte. «Wir
wurden einfach versorgt, und das möglichst billig.» Von diesem Zeitpunkt an
bestimmten Zucht, Drill und Schläge
Agathas Alltag. Gearbeitet wurde unentgeltlich. «Ich war tüchtig und nie zu faul
zum Arbeiten.» Aber die Mittwoche haben
sich in Agathas Kopf eingebrannt. Mit
blossen Händen musste sie die blutigen
Frauenbinden der Schwestern waschen.
«Jenseits, dass man so etwas von Kindern
verlangt. Erstens ist das der Infektionen
wegen gefährlich und zweitens einfach
nur ekelhaft. Bestialisch war der Gestank.»
Heute verurteilt sie vor allem die christlichen Werte aufs Schärfste. «Die Schwestern gingen gegen 19 Uhr zum Abend-
Auch Kinder von Fahrenden, vor allem Jenischen, wurden von den Behörden ihrer Familien entzogen.
Im Bild zu sehen sind «Kinder der Landstrasse» auf einer Aufnahme von Hans Staub aus dem Jahre 1953.
gebet. Wenn sie zurückkamen, kassierten
wir immer mit dem Stock Schläge. Dieser dogmatische Katholizismus, in dem
man nur Angst eingeflösst bekam und
keinerlei mütterliche Gefühle erfahren
durfte – nichts als Zucht war das.» Teilweise seien die Schläge so stark gewesen,
dass Agatha in der Schule nicht mehr
schreiben konnte. Die Lehrer hätten sich
nicht dafür interessiert, auch das verurteilt Agatha. Mit Tränen in den Augen
erzählt sie: «Wir hatten den Stempel der
Unterprivilegierten, und für die hat man
sich nicht eingesetzt. Das zieht sich wie
ein roter Faden durch mein Leben.»
Keystone/Fotostiftung Schweiz/Hans Staub
che Agatha betreuen musste. «Das war
eine ungeheure Herausforderung.» Doch
ihr wurde gedroht. Neben dem Armenheim befand sich gemäss Agatha eines
der schlimmsten Erziehungsheime der
Schweiz – «eingezäunt mit hohen Mauern, wie in einem Gefängnis». Wenn sie
nicht still sei, müsse sie dorthin, hiess
«Menschenrechte
wurden verletzt.»
AG AT H A A M M A N N * ,
EHEMALIGES HEIMKIND
Zucht war an der Tagesordnung
Mit 13 Jahren begann Agatha zu rebellieren. Sie wollte nach Hause und
unbedingt eine Lehre absolvieren. «Erst
zu diesem Zeitpunkt wurde ich wach
und habe verstanden, was hier abläuft.»
Agatha wurde aufmüpfig und musste
als 15-Jährige ins Armenhaus. In diesem
ehemaligen Bürgerheim waren hilfsbedürftige Menschen untergebracht, wel-
es. Wegen ihrer Aufmüpfigkeit musste die
damals 17-Jährige zum sogenannten Armenhausvater. «Das war ein grosser,
ekelhafter, buckliger Mensch. Ich sehe
ihn noch heute vor mir. Er begann mich
sexuell zu belästigen. Ein strenggläubiger
Katholik, und ich war ihm schutzlos ausgeliefert.» Das liess sich Agatha aber nicht
gefallen. Sie schrie los. «Ich habe ihm
gedroht, wenn er mich nicht gehen lässt,
würde ich dem Waisenhausvater alles
erzählen.» Nach drei Tagen wurde Agatha
dann in eine Haushaltsschule nach Sargans versetzt. Heute ist sie dankbar für
ihren Mut. «Der wusste schon, wo er
mich unterbringen musste, damit ich
keinen Ärger mache», sagt sie mit einem
Schmunzeln. In dieser Schule durfte sie
dann auch ein Haushaltslehre absolvieren. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen durfte Agatha an den Wochenenden
nicht nach Hause und musste in ihrer
Freizeit kochen und putzen, damit war
sie aber zufrieden.
Doch nach einem Jahr stand das Fürsorgeamt wieder vor der Tür. Agatha
wurde in eine Bäckerei nach Genf gebracht. «Von morgens um sechs bis
abends um neun musste ich arbeiten.»
Mit 18 Jahren wollte sie zu ihrer Mutter
nach Zürich. Am Bahnhof wurde sie
jedoch erneut vom Fürsorgeamt abgefangen und in die Spinnerei eines Fabrikheims in Toggenburg gebracht – ihre
Im Alter von 20 Jahren galt man zu
jener Zeit als volljährig, und Agatha zog
zu ihrer Schwester nach Zürich. Dort fand
sie eine Arbeitsstelle im Detailhandel.
«Ich konnte mich befreien und war endlich unabhängig.» Sie heiratete und brachte drei Kinder zur Welt. Agathas Lebensweg führte sie im Laufe der Zeit in den
Kanton Zug und dann in die Stadt Luzern.
An beiden Orten arbeitete sie als Hilfspflegerin in einem Heim für betagte
Schwestern, in Luzern bis zur Pensionierung. «Ich bin sehr dankbar für diese
Arbeit, es kam zu einem Rollentausch,
und ich durfte Wertschätzung erfahren.
Ich konnte den Stachel von damals in
eine Blume umwandeln.»
Heute sind für Agatha der Staat sowie
die Kirche verantwortlich für das Trauma, das all die Opfer der fürsorgerischen
Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein Leben lang mit sich tragen.
«Verdrängung war jahrelang die einzige
Strategie, um diese Pein schmerzhaft im
Stillen zu dulden.» Viele Betroffene
seien damals vom Staat in die Fabriken
der Grossindustriellen zwangseingewiesen worden. «Sie mussten unbezahlte
Sklavenarbeit verrichten.» Die Industriellen hätten sich so bereichern können.
«Es waren gerade diese zur Sklavenarbeit
Verurteilten, die einen grossen Teil zur
wirtschaftlichen Entwicklung der heutigen Schweiz beigetragen haben.» An all
den Opfern, die verdingt, misshandelt,
gefoltert und gepeinigt wurden, hafte
ein Leben lang die Stigmatisierung. Auch
Agatha macht diese Erfahrung noch
heute. In einem offiziellen Schreiben
der Behörden wurde sie als Unterprivilegierte bezeichnet.
«Entschädigung ist reichlich spät»
Erst in den vergangenen Jahren wurde auf politischer Ebene gefordert, dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte aufzuarbeiten. «Die viel diskutierte Wiedergutmachung in Form von
Geld finde ich reichlich spät und empfinde es als Degradierung aller Opfer –
Hunderte sind bereits gestorben.» Für
sie ist Geld heute die Werteerklärung
und die Entschädigung deshalb notwendig. Agatha bestreitet ihren Unterhalt mit Ergänzungsleistungen. Dank
der Soforthilfe erhielt sie 10 000 Franken.
«Ich bin dankbar, denn für mich bedeutet die Summe etwas mehr Sicherheit, Freiheit und Lebensqualität. Auch,
wenn es sich gerade einmal um das
Trinkgeld handelt.»
* Name der Redaktion bekannt
«Die historische Aufarbeitung ist von zentraler Bedeutung»
INITIATIVE saw. Im März 2014 wurde
unter der Leitung der Guido-Fluri-Stiftung durch ein überparteiliches Komitee
die Wiedergutmachungsinitiative für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen
lanciert. Dies, weil es bis heute keine
gesetzliche Grundlage für eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung
und finanzielle Wiedergutmachung gibt.
Für die schwer betroffenen Opfer will die
Initiative darum einen Fonds von
500 Millionen Franken errichten. Daneben sollen die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Präsident der Stiftung
ist der Zuger Unternehmer Guido Fluri
(49), selber ein ehemaliges Heimkind.
Guido Fluri, die oben porträtierte
Frau wird noch heute mit dem Stigma ihrer Kindheit konfrontiert.
Guido Fluri: Ich bin ganz vielen Betroffenen begegnet, die sich für ihr Erlebtes
immer wieder rechtfertigen müssen. Es
ist so: Wer in der Kindheit keine Anerkennung bekommen hat, kann auch
kein Selbstwertgefühl entwickeln. Diese
Menschen kommen deshalb immer wieder an den Punkt zurück, dass sie nichts
wert seien. Das sind die Folgen der
jahrelangen Traumatisierung. Es gibt
aber auch viele Opfer, die ihre Vergan-
genheit aufgearbeitet haben und dadurch
ein Stück loslassen konnten.
Wo steht die Aufarbeitung heute?
Fluri: Nachdem das Parlament 2013 bei
den administrativ versorgten Menschen,
wie bereits 2004 bei den Zwangssterilisierten, keine Entschädigung zugesprochen hatte, entschied ich mich in einer
Nachtübung für eine Volksinitiative. Mir
war wichtig, dass die Vereine, die jahrelang um Wiedergutmachung gekämpft
hatten, auch einbezogen wurden. Ich war
in den letzten eineinhalb Jahren mit
vielen Parlamentariern im Gespräch, und
kurz nach der Einreichung der Initiative
hat uns der Bundesrat einen indirekten
Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative präsentiert. Nebst dem Anerkennungsbeitrag war für mich aber immer
die historische Aufarbeitung von zentraler Bedeutung. Eine Gesellschaft kann
nur auf die Zukunft bauen, wenn die
trübe Vergangenheit aufgearbeitet wird.
Der Gegenvorschlag sieht aber nur
300 Millionen Franken vor.
Fluri: Wir sind dem gegenüber offen. Aber
es darf nicht sein, dass der Anerkennungsbeitrag auf dem Buckel der Betroffenen
runtergehandelt wird. Wichtig bei der
ganzen Debatte ist, dass man nicht einfach
sagt: Früher war das Leben halt schwieriger. Die Menschen wurden systematisch
missbraucht – man hat ihnen die Würde
genommen. Die Opfer leben seit Jahr-
Anerkennungsbeitrag für ihr grosses Unrecht geleistet wird. Bis unsere Initiative
in die Abstimmung käme, könnte es noch
fünf bis sechs Jahre gehen. Für den Gegenvorschlag spricht die Geschwindigkeit, da
jedes Jahr viele Betroffene sterben. Bei
der Annahme würden die Opfer bereits
2017 Geld aus dem Fonds erhalten.
G U I D O F LU R I ,
URHEBER
W I E D E R G U T M AC H U N G S I N I T I AT I V E
Welche Rolle spielt die Kirche bei der
Aufarbeitung und der Anerkennung?
Fluri: Es waren einige Dialoge notwendig,
bis Vertreter der Kirche unserem Unterstützungskomitee beigetreten sind. Die
Kirche hatte im letzten Jahrhundert eine
grosse erzieherische Aufgabe, und dabei
stand nicht immer die Nächstenliebe im
Vordergrund. Ich habe Hoffnung, dass
die Kirche noch eine aktivere Rolle wahrnehmen wird. Sie ist eine moralische
Instanz und setzt unserer Gesellschaft
die Messlatte der Werte vor. Es braucht
einen Befreiungsschlag seitens der Kirche
für die Missbrauchsfälle, welche sie zu
verantworten hat.
zehnten mit dieser Belastung. Heute sind
sie oft verarmt und vereinsamt. Mit Geld
kann man das Leiden nicht wiedergutmachen, aber es ist notwendig, dass ein
Und der Bauernverband? Auf den
Höfen arbeiteten viele Verdingkinder.
Fluri: Mit dem Präsidenten des Bauernverbandes, Markus Ritter, bin ich seit
Beginn der Initiative ebenfalls im Gespräch. Nach anfänglicher Zurückhaltung
«Eine Gesellschaft
kann nur auf die
Zukunft bauen, wenn
die Vergangenheit
aufgearbeitet wird.»
ist uns auch hier eine Annäherung gelungen. Der Ehrenpräsident Hansjörg
Walter ist im Unterstützungskomitee der
Wiedergutmachungsinitiative, und das
hatte Signalwirkung.
Was passiert, wenn das Parlament
den Gegenvorschlag ablehnt?
Fluri: Wir sind zurzeit mitten in der Vernehmlassung und sind zuversichtlich.
Wenn das Parlament jedoch den Gegenvorschlag ablehnen sollte, treten wir in
den Abstimmungskampf ein. Ich gehe
davon aus, dass ich für die Kampagne
nochmals einen substanziellen Millionenbetrag einschiessen müsste.
Was muss noch getan werden?
Fluri: Es gibt sehr viele Betroffene, die in
unserer Gesellschaft untergehen und
nicht über ihr Schicksal reden können.
Genau diese Opfer brauchen unsere
Unterstützung. Neben dem Trauma, das
sie von damals davongetragen haben, ist
die Einsamkeit mit den seelischen Verletzungen das Schlimmste. Sie sind in
sich gefangen, und es ist unsere Verantwortung, diese Menschen zu erreichen, damit sie über diese Traumata
reden und die Vergangenheit besser
verarbeiten können, auch wenn die Narben für immer bleiben werden.