WIEN–VENEDIG Als die ÖBB kürzlich verlauteten, die Bahnstrecke Wien–Venedig mit Direktzügen einstellen zu wollen, gesellte sich zu dem Gefühl, hier einer ökologischen und verkehrspolitischen Fehlentscheidung beizuwohnen, auch der Kummer darüber, dem realen Abbild einer persönlichen Erinnerung beraubt zu werden. Es war die Wehmut, dass gewisse Reisen von nun an nur mehr in der Erinnerung existieren würden, es kein Anschauungsobjekt mehr gäbe, das diese Erinnerungen wachrufen könnte. So wie der Schmerz über den Abriss eines Hauses, in dem man jahrelang gewohnt hat. Der Zug zwischen Wien, Tarvis und der Lagunenstadt war für mich schon im zarten Alter von 16 Jahren nichts anderes als die reinste Form von Freiheit. Spätabends, gegen halb elf am Abend, kam der Zug in Leoben an, und ich bestieg ihn mit jugendlicher Kühnheit – erstmals alleine von zu Hause wegzufahren. Bei mir ein Interrailticket, bereit, den Mief der steirischen Kleinstadt für einige Zeit hinter mir zu lassen, aufzubrechen in eine neue Welt, von der ich nichts wusste, außer dass ihre erste Station Venedig war. Lange Haare hatte ich, mühsam über die letzten 15 Monate wachsen gelassen, nicht nur, aber auch für dieses Unternehmen. Ich verbrachte die meiste Zeit der Fahrt am Gang bei offenem Fenster. Ja, damals konnte man noch die Zugfenster öffnen … Es gab zwar genug Sitzplätze, aber der Wind dieser frischen Julinacht durch das offene Fenster war der Inbegriff von Unabhängigkeit und Aufbruch. Von Leoben bis Villach steckte ich wohl die ganze Zeit den Kopf hinaus, nur manchmal vor sich bedrohlich nähernden Masten zog ich ihn ein und ließ die langen, frisch gewaschenen Haare im Wind flattern. Der Wind, die Luft, der ganze Zug, sie gehörten mir. Die halbe Nacht lang. Als ich am Morgen in Venedig aus dem Zug stieg, hatte ich eine Mittelohrentzündung. Die Fahrt mit dem Direktzug Wien–Venedig war die Initiation meiner erwachenden Reiseleidenschaft. Wo sonst war es möglich, innerhalb weniger Stunden vom Okzident quasi in den Orient einzutauchen, am besten schlafend das auch vom Zugfenster wenig erbauliche Kanaltal zu durchqueren, schließlich den endlosen Verschub in Mestre über sich ergehen zu lassen, mit Blick auf Neubauten und eine grässlich verschmutzte Lagune, bis man endlich die Ankunft in Venedig erlebte, schon gleich nach dem Bahnhofsvorplatz den orientalisch anmutenden Fassaden ansichtig wurde, den Spitzbögen in verschwenderischem Marmor. Der Zug, der nüchterne, war der Schlüssel zum Eingang in diese fremde Welt. Und immer wieder traf ich Menschen, die nur um des Zugfahrens willen unterwegs waren – vor allem in diesem Zug. Der Jugendliche etwa, der von Udine zu seiner Freundin in Coneglione reiste, stets nur den ÖBBWaggon benutzte, um zum Wochenende mit seiner Liebsten zu gelangen, diesen Waggon, weil er gemütlicher, moderner als der italienische war, in dem man nicht so gemütlich zwei Sitzbänke zusammenschieben oder die Heizung bzw. Klimaanlage regulieren konnte. Noch eindrücklicher war die Begegnung mit einer bildhübschen, jungen Frau, ich glaube aus Kärnten, die mir erzählte, dass sie fast jede Woche nach Venedig fahre. Die paar Stunden runter, um den Tag in der Lagunenstadt zu verbringen und dann mit dem Nachtzug wieder nach Hause zu fahren. Ein Capuccino in Venedig allein würde diese Strapazen bereits rechtfertigen. Ich dachte, ich werde sie noch oft sehen – ein ebenso häufiger wie illusorischer Gedanke, denn ich begegnete selbstverständlich nie mehr wieder. Es ist auch zu bezweifeln, ob die mittlerweile nicht mehr ganz blutjunge Dame weiterhin ihrer Leidenschaft ungehemmt frönen kann. Denn die einst einwandfreie Bahnanbindung Wien–Venedig war in letzter Zeit schon schlimmen Verfallserscheinungen ausgesetzt. So war der Nachtzug zwar in passablen sieben Stunden in Mestre, das war’s dann aber schon – und die Uhr schlug 2.50 Uhr. Der erste Bus nach Venedig ging aber erst kurz vor fünf Uhr. Und jetzt soll man gleich mit dem Bus von Tarvis nach Venedig fahren. Nein, so nicht … dann noch lieber fliegen. Der erste Aufenthalt in Venedig dauerte nicht lange. Die Schmerzen in meinen jugendlichen, von Freiheit durchdrungenen Ohren waren dann doch zu stark. Am selben Tag fuhr ich wieder nach Hause. Mit dem Direktzug Venedig–Wien.
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