Der deutsche Kulturraum als jüdische Lebenswelt Historische Einführung Von Prof. Dr. Jakob Hessing, Hebrew University Jerusalem 1. Die Moderne: Elemente eines Paradigmenwechsels • • • • 1440-49 Gutenberg: Buchdruck - Voraussetzung der Säkularisierung 1514 [1543] Kopernikus: Erde dreht sich - eine Kernthese der Säkularisierung 1517 Luther: Schisma im Christentum; Bibelübersetzung ~ deutsche Sprache 17. Jhdt ff.: 30jähriger Krieg ~ Achsenzeit der Aufklärung ~ Ende des Feudalismus ~ Geburtsstunde der Nation 2. Juden und deutscher Kulturraum vor seiner Politisierung Jiddisch ~ Deutsch aus dem Rheinland um 1000 n.Chr. Juden in Mittel- und Osteuropa hießen immer Aschkenasim 1939 gab es 15 Millionen Aschkenasen und nur eine Million Sepharden Westgrenze dieses jiddischsprachigen Judentums - Preußen u. Österreich Hlg. Röm. Reich Dt. Nation: diffuser Oberbegriff einer christlichen 'Einheit'; zerbricht mit Reformation, 30-jähr. Krieg etc. gerade in Deutschland • Im historischen Magnetfeld: Deutschland bleibt verspätete Nation • Im späten 18. Jhdt noch ein scheinbar freier Ort der Aufklärung: Lessing-Mendelssohn • Nathan der Weise - Vernunftsreligion: Kern der Säkularisierung ... und zweifelhaftes Ende • • • • • 3. Französische Revolution und die Folgen • • • • Ende des Feudalismus = Geburt der Nation Historische Dialektik: napoleonische Eroberung ~ Deutschlands Erwachen als Nation Juden wieder ausgegrenzt: 1819 Hep-Hep-Bewegung... ... und schließlich 1819-1848: "Heilige Allianz" = christliche Fassade 4. Heinrich Heine (1797-1856): ein paradigmatisches Leben • • • • • Französische Revolution: Wunschbild und Traum Heilige Allianz und Taufe 1825 1830: Julirevolution und neue Hoffnung 30er Jahre in Paris: Juste Milieu und die Enttäuschung 1848: Matratzengruft und Rückkehr zu (jüdischem) Gott 5. 1848: Tragödie des deutschen Bürgertums und die Juden • Bürger: homines novi in postfeudaler Zeit = Gesellschaftsklasse der "Zukunft" • Träger des Paradigmenwechsels der Moderne: Buchdruck - Aufklärung - Wissenschaft industrielle Revolution • Ein deutscher Begriff: Bildungs-Bürgertum • Auch die deutschen (emanzipierten) Juden: homines novi der postfeudalen Zeit • Auch sie suchen sich über die "Bildung" zu integrieren © Jakob Hessing 1 • Ihre Auffangsschicht daher : das Bürgertum; und seine Tragödie: auch ihre Tragödie 6. Nach 1848: Politisierung des Kulturraums • • • • • Österreich und Preußen: zwei Monarchien, Partner in der Heil. Allianz Zwei Feudalsysteme, auf die Moderne sozial nicht vorbereitet Lösen nationale Frage (= Moderne) nicht, entzweien sich um kleindeutsch-großdeutsch ... ... und auch diese Begriffe noch einmal: Kultur-Begriffe 1866: Aufspaltung des Kulturraums, "dt." Judentum zerbricht in "nationale" Einheiten 7. Die Juden in Österreich • Die Erfahrung der Besiegten: Österreich verinnerlicht den Niedergang um eine Generation früher als Preußen • Fin de siיcle: Kultur in der Sackgasse • Schnitzler: Reigen, Leutnant Gustl • Herzl und Freud: ein Vergleich • [Joseph Roth: Radetzkymarsch (1932) - der späte Rückblick] 8. Die Juden in Preußen • • • • Warnlicht: Antisemitismus der Gründerjahre Post-assimilatorische Generation: geboren seit den 70er Jahren Namen (und Nuancen): Buber 1878, Rosenzweig 1886, Scholem 1897 Im Vergleich zu Österreich: Phasenverschiebung (Herzl ~~ Buber) 9. Wendepunkt: Erster Weltkrieg • • • • • • • • • • • • • • • • Eckpfeiler des deutsch-jüdischen Projektes brechen zusammen: die alte, "bürgerliche" Ordnung; der Glaube an den "Fortschritt; die "Kultur" in der Krise; und damit auch die Assimilation/Akkulturation der Juden Auf politischer Ebene: zwei Extreme A. Revolution November 1918 - Mai 1919 sozialistisch-anarchistische Reaktion Kurt Eisner (1867-1919) und Gustav Landauer (1870-1919): Zwei Intellektuelle der postassimilatorischen Generation ... umgebracht als Führer der bayrischen Revolution B. Der liberale Bildungsbürger: Walther Rathenau (1867-1922) Ingenieur, der der Technologie kritisch gegenübersteht sein Ziel: internationale Kooperation; auch er: umgebracht Auf sozialer Ebene: neue Identifikation mit den "Ostjuden" Der Begriff: Geschichte und Logik Erster Weltkrieg: Krise des Westens, Begegnung mit verlorener Tradition [Heine, über Polen]; A. Zweig, mit Hermann Struck 1920: Das ostjüdische Antlitz; Grischa Scheunenviertel, Volksheim: Franz Kafka und Felice Bauer ~ 1923 Krise der Bildung: die verlorene Tradition Martin Buber (1878-1965): zwischen Ost und West (aufgewachsen bei Salomon Buber); Chassidismus; Kulturzionismus; Jüdische Renaissance ~ Jüdischer Verlag - "Der Jude" Franz Rosenzweig (1886-1929): Hegel und die Abwendung; Stern der Erlösung; Freies Jüdisches Lehrhaus 1920-6 - Lernen und Lehren Buber/ Rosenzweig: Bibelübersetzung - Luther und das Schließen eines historischen Kreises Gershom Scholem (1897-1982): Der vom deutschen Judentum lange verdrängte mystische Dunkelraum - Trauma des Exils und Erlösungssehnsucht Agnon in Berlin; Karl Steinschneiders Übersetzungen © Jakob Hessing 2 In der Literatur: Bürgerliche und Unbürgerliche • Jahrhundertwende und Phänomene der Dekadenz • Bruch des Rechtsprinzips: A. Zweig, Lion Feuchtwanger, Jakob Wassermann, [Kafka] • Expressionisten; der Fall Else Lasker-Schüler 10. Das Ende: Adolf Hitler • • • • Wiederkehr der Geschichte: Versailler Verträge - "Feind" Frankreich Rücknahme der Spaltung: Anschluß Ende der Emanzipation: Nürnberger Gesetze, Westjudentum = Ostjudentum, Kulturbund Die Vernichtung © Jakob Hessing 3
© Copyright 2024 ExpyDoc