Behnke, Pfarrerin Angelika

Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Pfarrerin Angelika Behnke, Projektstelle „Erwachsen glauben“ in der EKBO
4. Sonntag nach Trinitatis, 28.06.2015, 18 Uhr
Predigt über Johannes 9,1-16.35-38
Friede sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt! Amen
Hört eine Begebenheit, die der Evangelist Johannes überliefert:
Als Jesus vorüberging, sah er einen Menschen, blind von Geburt an.
Und es fragten ihn seine Jünger und sprachen:
Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?
Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt, noch seine Eltern,
sondern es sollen offenbar werden die Werke Gottes an ihm.
Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist;
es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.
Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.
Als er dies sprach, spuckte er auf die Erde und machte aus dem Speichel und der Erde eine weiche Masse und strich
die Masse auf seine Augen;
und er sprach zu ihm: Geh hin, wasche dich im Teich Schiloach - was übersetzt heißt: der Gesandte.
Da ging er weg und wusch sich und kam sehend zurück.
Die Nachbarn nun und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatte, sprachen:
Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte? Einige sprachen: Er ist’s; andere: Nein, aber er ist ihm ähnlich.
Er selbst aber sprach: Ich bin’s!
Da fragten sie ihn: Wie sind deine Augen aufgetan worden?
Er antwortete: Der Mann, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: Geh zum
Teich Schiloach und wasche dich. Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend.
Da fragten sie ihn: Wo ist er? Er antwortete: Ich weiß es nicht.
Da brachten sie den Mann, der blind gewesen war, zu den Pharisäern.
Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei gemacht und ihm die Augen aufgetan hatte.
Auch die Pharisäer fragten ihn, wie er sehend geworden sei.
Er aber sprach zu ihnen: Einen Brei legte er mir auf die Augen und ich wusch mich und bin nun sehend.
Da sprachen einige der Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.
Andere aber sprachen: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?
Und es entstand Zwietracht unter ihnen.
Es kam aber vor Jesus, dass sie den, der blind gewesen war, ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, sprach er:
Glaubst du an den Menschensohn? Er antwortete und sprach: Herr, wer ist’s, dass ich an ihn glaube?
Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen und der, der mit dir redet, der ist’s!
Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
Das Licht der Welt erblicken.
Ungewohnt noch die Farben,
schmerzend die gleißende Flut.
Formen, die noch nicht ins Hirn passen wollen.
Das Licht der Welt erblicken.
Geborgensein hat ein Gesicht.
Dunkelrot ist nicht mehr bloßes Gefühl.
Regen - nicht nass und kalt, sondern ein verschwenderisches Glitzern in der Luft.
Rauschender Flügelschlag, schriller Vogelruf –
anmutiger Freiheitstanz im durchsichtigen Blau des Himmels.
Das Licht der Welt erblicken.
Neu geboren werden…
1
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Hier, im Schatten der mächtigen Stadtmauer, kauerte er nun schon seit Jahren.
Der Gewürzhändler hatte sich daran gewöhnt, dass sich dieser Blinde jeden Morgen neben seinem
Verkaufstisch niederließ. Er wurde geduldet.
Nie war er aufdringlich, nur selten sprach er. Und manchmal legte ihm der Brotverkäufer die hart
gewordenen Reste des Tages vor die Füße.
Er kannte sie alle – obwohl er sie mit seinen Augen noch nie gesehen hatte.
Da waren die Fremden, deren Schritte verhalten und ehrfürchtig in den Straßen der Tempelstadt
klangen.
Die Kinder, die sich einen Spaß daraus machten, ihn mit kleinen, spitzen Steinchen zu bewerfen, und
dann kichernd davonstolperten.
Er roch den Angstschweiß der römischen Besatzer, wenn sie die Treppen der Stadtmauer
hinaufhasteten.
Knirschender Sand zwischen den Zähnen, aufgewirbelt von Menschen, die ihn erblickten und schnell an
ihm vorbeieilten. Sie wollten mit diesem nichts zu tun haben: Ein Sünder! – Das sah man doch: Blind,
von Gott bestraft! GOTT IST GERECHT!
Andere blieben stehen, zeigten mit dem Finger auf ihn – ja auch das spürte er! – und tuschelten
miteinander. – Sein Gehör war viel zu gut, um die Worte nicht zu verstehen. Sie taten weh, diese
Worte. Aber noch schlimmer war es zu hören, wie jemand geräuschvoll Speichel sammelte und mit
einem kurzen Zischen verächtlich vor ihm ausspie.
Dann zuckte er jedes Mal zusammen und drückte sich noch enger an die abweisend-harte Häuserwand,
an der sein Rücken lehnte.
Du bist Schmutz, du bist Abschaum.
Hier an der staubigen Straße, neben der Kloakenrinne der - ach so heiligen - Stadt wirst du verenden,
ein letztes Mal das „Warum“ auf den Lippen.
Die Frage, die ihn quält, seit er denken kann. Warum gerade ich? Warum hat man mich überhaupt zur
Welt kommen lassen?
Für die Leute war es einfach: Irgendwas werden er oder seine Eltern schon verbrochen haben; Gott
bestraft die Schuldigen, manchmal eben mit Blindheit.
Aber so sehr er auch in seiner Vergangenheit und der seiner Eltern wühlte – er fand keine Gründe dafür,
dass er blind geboren war.
„Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern?“ – Wieder solche messerscharfen Worte.
Aber diesmal nicht im Vorübergehen hingeworfen… Er hört, wie sich eine Gruppe von Leuten langsam
um ihn versammelt. Angst kriecht in ihm hoch. Seine Finger krallen sich fester um den Blindenstock.
Liebe Gemeinde,
es ist, als würden die Jünger diesen Jesus noch nicht gut kennen, als hätten sie nichts von dem
begriffen, was er ihnen täglich vorlebte: Gottes Gegenwart. Ihnen fällt hier nichts Besseres ein, als nach
der Schuld zu fragen.
Da sprudelt Gottes Liebe wie eine unerschöpfliche Quelle – und sie bewegen immer noch das rostige
Instrumentarium alter Zeiten.
Keine Frage legt einen Menschen mehr auf Vergangenes fest als die Frage nach Schuld! Aber
rückwärtsgewandtes Leben lässt uns krumm werden und erstarren. Es hört irgendwann auf, Leben zu
sein.
Jesus lässt sich gar nicht erst ein auf diese Frage. Er löst von den Fesseln des Früheren.
Es widerspricht dem Glauben an einen neumachenden Schöpfergott, Schuld an Menschen zu binden und
sie auf ihre Schuld festzulegen.
Jesus holt zuerst seine Jünger da raus: Er befreit sie von der Frage, wer wann was falsch gemacht hat. Er
durchbricht den lebensfeindlichen Kreislauf, stets und ständig Vergangenes zum Zählappell antreten zu
lassen.
Es geht nicht darum, Schuld und Sünde zu leugnen, wenn diese geschehen. – Es geht darum, sie als
nicht für immer an unsere Person gebunden zu erfahren. Dann beginnen wir Jesus zu begreifen. Ein heilvoller Anfang, wenn die Frage nach meiner Sünde und Schuld mich nicht blind sein lässt für die
Zukunft.
2
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Der Blinde traut seinen Ohren kaum:
„Weder dieser hat gesündigt, noch seine Eltern, sondern es sollen offenbar werden die Werke Gottes an
ihm.“
Das klingt so ganz anders als das, was sonst in seinen Ohren hängen bleibt. Sowas hatte er noch nie
gehört. Aber er merkt, dass ihm diese Antwort gut tut, auch wenn er sie nicht ganz verstehen kann. An
mir nutzlosen, blinden Bettler sollte Gott wirken? Derselbe Gott, den man drüben im Tempel lobt? Der
mir selbst so fern ist? Gott in der Gosse?
Die Angst weicht einem vorsichtigen Staunen, das ihn aufstehen lässt. Da wird weder von der Schuld
seiner Eltern noch von seiner Schuld geredet! Das bohrende „Warum“ verliert an Kraft, wird sinnlos.
Und er spürt, dass in ihm etwas zu hören ist, das ihn auf die Seite der Sehenden bringt.
Es fühlt sich ganz neu an!
Noch ganz benommen von diesen Eindrücken ist er, als ihm klar wird: Die Männer stehen immer noch
um ihn herum. Noch nie haben sich Fremde so lange für ihn interessiert. Moment! – Spie da nicht
wieder jemand auf die Erde? ...
Der, den sie Rabbi nennen, steht jetzt ganz dicht vor ihm. Er kann seinen Atem spüren. Da berührt
dieser Mann ganz zart sein Gesicht – an den Stellen, wo seine Augen sein müssen. Nur wer ihn liebt,
hat ihn bisher hier berühren dürfen: Seine Mutter, sein Vater. Und einmal hat er die Liebe einer Frau
gespürt. Sie hatte sein Gesicht geküsst und seine Wangen wild liebkost. Doch irgendwann fragte sie
ihn: „Warum?“. Und er wusste, dass sie ihn bald verlassen würde.
Jetzt sind da wieder Hände. Sie bestreichen liebevoll seine Augen mit einer grobkörnigen Masse. Und
obwohl es kribbelt und brennt im Gesicht, ist der Blinde doch ganz überwältigt von diesem Rabbi, der
sich ihm zuwendet und es wagt, so behutsam, ja, aber deutlich, seinen wunden Punkt zu berühren.
Liebe Gemeinde,
wir werden Zeugen einer Schöpfungsgeschichte, einer Geburt. Gott nimmt feuchte Erde und erschafft
den Menschen. Aus seinem Munde kommt Lebensodem. Jesus nimmt Erde und seinen Speichel, um dem
Blinden neues Leben zu schenken. Dieser spürt die geballte Energie dieses einmaligen Anfangs. Er hört,
ge-horcht, nutzt diese Kraft, um durch die halbe Stadt zum Teich Schiloach zu laufen. Er wäscht sich –
klares Wasser! - reinigt sich von dem, was früher war. Die Zweifelnden und die Gegner Jesu - ihre Augen
werden schmal am Sabbat – sie sehen ihn zurückkommen: sehend. Noch ziemlich verwirrt. Und dann
steht er ihm gegenüber: Im wahrhaftigsten Sinne des Wortes „erblickt er das Licht der Welt“. Jesus sah
ihn an, hat ihn aufgesucht, fand ihn. „Herr, ich glaube!“ – Das ist nicht die Antwort auf die Frage
„Warum“! - Die versinkt im dunklen Gestern. Es ist das Ja zum Neu-geboren-Sein, das Ja zu Gottes
Möglichkeiten. Der Mann, dem die Augen aufgetan wurden, wird zum Zeichen dafür, dass Gott weiter
an seiner Schöpfung wirkt. Wir sind und bleiben auf ihn als den Schöpfer angewiesen. Denn es gibt
noch eine unfertige Seite der Schöpfung, einen Rest Chaos, noch nicht vollendet. Dafür steht die
Blindheit des Blinden. Doch Jesus, Gottes Gesandter (- Schiloach), sucht ihn auf im tiefsten Dunkel und
lässt es Licht werden. Da zählt nicht mehr, was vorher war. Er gewinnt damit viel mehr als die Sehkraft.
Er kommt zum Glauben, der ihn in Ewigkeit heil macht an Leib und Seele.
Es kann auch heute geschehen, dass Christus seine blinden und in Dunkelheit gefangenen,
hoffnungslosen Menschen aufsucht.
… Und findet sie …
und spricht zu ihnen:
„Der mit dir redet, der ist’s!“
Worüber redet er mit dir, mit mir? Vielleicht über die Finsternis, die mancher tief in sich selber spürt
und deren kalte Macht erst im Aussprechen vor Christus ihre wahre Unersättlichkeit preisgibt. Vielleicht
über die Fragen: Wo sind meine wunden Stellen? Wo hat man mich so verletzt, dass ich keine Energie
mehr habe, allein zum Schiloach-Teich zu gehen?
Meine Schuld? Das Unrecht anderer, dass ich nicht mehr spüre, ob Gott mich noch sieht und ansieht?
Über all das redet Christus vielleicht mit uns. Bleiben wir aufmerksam! Gewiss aber spricht er mit uns
über jenes Licht, das so hell ist, dass selbst die Finsternis aus Grabhöhlen weichen muss.
3
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Licht der Welt, es geht von Christus aus, ja, er ist es selber! „Solange ich in der Welt bin – durch
meinen Geist und mein Wort – bin ich das Licht der Welt“. Es gibt keinen Ort mehr, an dem mein
Licht nicht scheint – manchmal schmerzlich, doch auf ewig heilsam.
Neu geboren werden.
Das Licht der Welt erblicken…
Welcher Moment könnte kostbarer sein?
AMEN
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