Präsident Kennedy verhängt Seeblockade über Kuba

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BERLIN, DIENSTAG, 23. OKTOBER 1962
Nr. 5206 / 18. JAHRGANG
y*
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ausw,
25 Pfg.
Präsident Kennedy verhängt
Seeblockade über Kuba
Botschaft des Präsidenten von .,größter nationaler Dringlichkeit"
Nationaler Sicherheitsrat tagte — Flottenaufmarsch in der Karibischen See
W a s h i n q t o n (UPI). Präsident Kennedy hat am Montagabend über Kuba die
Blockade verhängt.
Der Präsident kundiqte die Blockade m einer vom Fernsehen und Rundfunk über
tragenen Rede an das amerikanische Volk an.
Kennedv saqte, durch das Einstromen sowjetischer Waffen sei Kuba in eine Angriffsbasis verwandelt worden, von der aus ein Offensivkrieg gegen die Vereinigten
Staaten geführt werden könne.
Den ganzen Tag über gab es in Washington eine nicht abreißende Serie von Konferenzen der höchsten politischen und militärischen Reqierunqsqremien. Binnen drei
Stunden traten im Weißen Haus der Nationale Sicherheitsrat, das Kabinett und die
Außenminister Gromyko
heute in Ost-Berlin
Treffen mit Ulbricht und Bolz
N e w Y o r k (AP). Der sowjetische Außenminister Groymko trifft heute morgen um
8 Uhr auf dem Rückflug von den Vereinigten
Staaten zu einem Besuch in Ost-Berlin ein. Er
wird mit Ulbricht und Zonen-Außenminister
Bolz zusammentreffen.
Vor dem Start in New York lehnte er es ab,
Führer beider Parteien im Kongreß zusammen..
darüber Auskunft zu geben, wie lange er in
Alle Dienststellen wahrten strikte Geheimhaltung, so daß lediglich bekannt wurde, Ost-Berlin bleiben werde.
daß entscheidende Beschlüsse unmittelbar bevorstünden.
Geheimhaltung bis zur letzten Stunde
W a s h i n g t o n (AP/dpa). Die ersten Berichte darüber, daß sich eine wichtige politische Entscheidung anbahne, kamen am Sonntag. Sie wurden dadurch ausgelöst, daß Präsident Kennedy eine Wochenend-Wahlreise
plötzlich abbrach und nach Washington zurückkehrte.
Amtlich wurde als Grund dafür eine leichte
Erkältung angegeben, von der ihm jedoch
nichts anzumerken war. Das löste die Frage
aus, ob es sich möglicherweise um eine „diplomatische Krankheit" handele.
Dazu kam, daß Außenminister Rusk fast den
ganzen Sonntag in seinem Amt arbeitete, daß
sich Kennedys Pressesekretär Salinger entgegen der Gewohnheit einige Stunden Im Weißen Haus aufhielt, daß das Außenministerium,
das Verteidigungsministerium und andere politische Ämter außerordentlich gut besetzt waren.
Zugleich wurde bekannt, daß starke Einheiten der Luftwaffe, der Marine und der Marineinfanterie im karibischen Raum konzentriert
wurden. Die amtliche Erklärung sprach von den
üblichen jährlichen Marine-Manövern bei
Puerto Rico. Es wurde mitgeteilt, daß 40
Schiffe und 20 000 Marineinfanteristen an den
Manövern teilnehmen würden, darunter der
atomgetriebene Flugzeugträger „Enterprise"
und sechs Amphibienfahrzeuge. Drei Bataillone Marineinfanterie sollten am Ufer der
Insel Vieques östlich von Puerto Rico eine
Landeoperation durchführen.
Aus diesem Aufmarsch erwuchsen Spekulationen über eine entscheidende Aktion gegen
das Castro-Regime auf Kuba, zumal die Flottenleitung verfügte, daß Journalisten die
Flotte nicht begleiten dürften.
Am Montag gab das Weiße Haus bekannt,
daß Präsident Kennedy die führenden Abgeordneten und Senatoren beider Parteien „in
dringenden Angelegenheiten" nach Washington gebeten habe. Pressesekretär Salinger
wollte allerdings nicht sagen, ob die Parteiführer direkt mit dem Präsidenten sprechen
würden.
Am Mittag gab Salinger bekannt, daß Kennedy die amerikanischen Fernsehgesellschaften ersucht habe, ihm nach Mitternacht (mitteleuropäischer Zeit) eine halbe Stunde Sendezeit für eine Rede über „ein,Thema von größter nationaler Dringlichkeit" (subjeet of the
highest national urgency) zu reservieren.
Gleichzeitig teilte Salinger mit, daß Kennedy
Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrates, des
Kabinetts und der Führer beider Parteien im
Kongreß einberufen habe.
Der amerikanische UNO-Chefdelegierte Adlai Stevenson soll die Einberufung des Sicherheitsrates verlangt haben.
Während ein republikanischer Senator in
Salt Lake City eine Seeblockade gegen Kuba
als bevorstehend vermutete, nahm die Richtung der Spekulationen in Washington eine
überraschende Wendung. Bei zahlreichen Geheimbesprechungen in den verschiedenen
Ämtern wurden der Berlin-Fachmann des
State Department, Hülenbrandt, und der Sowjetexperte Thompson, die beide am Gespräch Kennedys mit dem sowjetischen
Außenminister Gromyko über Berlin in 'der
vorigen Woche teilgenommen hatten, gesehen,
nicht aber der Leiter des Büros für interamerikanische Fragen, Martin.
Überraschend wurden gestern mittag die amerikanischen Fernsehgesellschaften durch Präsident Kennedy ersucht, ihm um 19 Uhr (Mitternacht MEZ) eine Sendezeit von einer halben
Stunde für eine Rede über „ein Thema von größter nationaler Dringlichkeit" zur Verfügung
zu stellen.
Photo: AP
Chinesen werfen Panzer
in die Schlacht am Himalaja
Indische Truppen nach blutigen Kämpfen auf dem Rückzug
Vierte Offensive an der Grenze nach Burma
N e u - D e l h i (AP/UPI/dpa). Die blutigen Kämpfe an der Himalaja-Grenze zwischen Rot
china und Indien dauerten auch am Montag mit unverminderter Heftigkeit an. Zum erstei
Male setzten die Rotchinesen gestern auch Panzer in der Provinz Ladakh ein, die mit Artille
rieunterstützung weitere indische Stützpunkte angriffen. Ebenfalls am Montag eröffneten di<
Kommunisten eine neue Front nahe der indisch-burmesischen Grenze. Auch hier stehen die
Inder in schweren Abwehrkämpfen. Nach amtlichen Berichten aus Neu-Delhi befinden sich di<
indischen Tnippen an allen Frontea auf dem. Rückitig, Die Verluste auf beiden Seiten sollet
Strengste Geheimhaltung seit dem Krieg sehr schwer sein.' Genauere Angaben wurden nicht gemacht. Ergänzend wurde bekannt, dal
Über Washingtons Ämter war inzwischen
ein Vorhang des Schweigens niedergegangen. die Rotchinesen mehrere Divisionen eingesetzt haben.
Die Geheimhaltungsmaßnahmen wurden als so
In der ersten Rundfunkansprache an das
In Ladakh sind acht indische Stützpunkte
streng wie nie seit dem zweiten Weltkrieg be- Volk seit seinem Regierungsantritt erklärte überwältigt
worden. Weitere sieben mußten
zeichnet. Nur das Verteidigungsministerium Ministerpräsident Nehru am Montag: «Kein
machte eine Ausnahme. Während die Presse- Preis ist zu hoch für unsere Freiheit. Wir kön- bei Rückzugsoperationen aufgegeben werden.
sekretäre White yom Außenministerium und nen uns nicht einer Aggression oder einer Be- Im Kampfgebiet in Assam wurden ebenfalls
Salinger vom Weißen Haus beharrlich schwie- herrschung durch andere unterwerfen. Wir mehrere indische Stützpunkte überrannt.
Wie in Neu-Delhi verlautete, will die indigen, Mt^c das Pentagon mit Einzelheiten über müssen uns stählen für die Aufgabe, die uns
den militärischen Aufmarsch in Florida und auf gestellt ist. Vielleicht sind wir zu weich gewe- sche Regierung die USA und Großbritannien
den Inseln des Karibischen Meeres um so frei- sen und haben manche Dinge als selbstver- um die Lieferung von automatischen Schnellqebiqer.
ständlich angenommen. Die Freiheit kann man feuerwaffen ersuchen. Die britische Regierung
aber niemals als selbstverständlich annehmen." beriet am Montag ununterbrochen mit den
Landungsmanöver abgesagt
An der indisch-chinesischen Grenze sei in- USA und den Commonwealth-Staaten über die
Neue Spekulationen löste die plötzliche Ab- folge einer „fortgesetzten und schamlosen ernste Lage an den rot-chinesischen Grenzen.
sage des für heute geplanten Landemanövers Aggression chinesischer Streitkräfte" eine In Peking wurden die Häuser aller indischen
auf der Insel Vieques aus. Das Pentagon teilte ernste Situation entstanden. Der Zeitpunkt sei Diplomaten unter Bewachung gestellt.
mit, daß die Landungseinheiten in einem Wir- gekommen ,an dem alle Inder „diese Gefahr,
belsturm zerstreut worden seien.
die die Freiheit unseres Volkes und die Unab- Moskau schweigt
Inzwischen sind in Indien alle pensionierten
hängigkeit unseres Landes bedroht, erkennen
Information der Verbündeten
müssen". Das indische Volk müsse sich wapp- Armeeoffiziere bis 65 Jahre wieder zu den
Schließlich wurde am Abend bekanntgege- nen, um der chinesischen „Bedrohung" zu be- Waffen gerufen worden. In Neu-Delhi verlauben, daß die Botschafter der Verbündeten der gegnen. „Was die Zukunft uns auch bringen tet, Nehru habe den sowjetischen MinisterUSA sowie verschiedener neutraler Staaten ins mag, ich möchte, daß ihr den Kopf hochhaltet präsidenten Chruschtschow um Vermittlung
Außenministerium gebeten worden seien. Un- und volles Vertrauen zu der großen Zukunft in dem Konflikt gebeten. Die sowjetische
Presse hat bisher die Kampfhandlungen mit
ter den betroffenen Verbündeten sind sowohl unseres Landes habt."
keinem Wort erwähnt. Während sich die USA
die Botschafter der NATO-Staaten wie die der
und Großbritannien sofort eindeutig auf die
lateinamerikanischen Länder. Es hieß, sie wür- Die vier Kampfabschnitte
Indiens gestellt haben, wurde das rotden noch vor der Rede Kennedys von dem geNach indischer Darstellung begann die rot- Seite
planten amerikanischen Schritt unterrichtet chinesische Offensive zunächst am Sonnabend chinesische Vorgehen bisher nur von Albanien
werden. Weiter wurde erklärt, Kennedy wün- in der Provinz Ladakh von Norden mit Stoß- unterstiityt.
sche die lateinamerikanischen Vertreter nach richtung auf das Chip-Chap-Tal. Zur selben
seiner Rede ein zweites Mal zu sehen. Nach Zeit griffen starke indische Truppenverbände Feuerüberfall auf Quemoy und Matsu
der Rede Kennedys soll eine Pressekonferenz im Osten Tibets an der indisch-tibetisch-bhutaTaipeh (dpa). Rotchinesische Artillerie-Eindes Pentagon stattfinden.
nesischen Grenze an. Die wichtigen Stütz- heiten haben in der Nacht zum Montag vom
punkte Dhola und Khingsemane fielen schon Festland aus die vor der Küste liegenden
Paris: „Der entscheidende Schuß"
am gleichen Tage. Am Sonntag eröffneten die nationalchinesischen Inseln Quemoy und Matsu
Wahrend in London die Vorgänge in Wa- kommunistischen Truppen eine dritte Front in unter Feuer genommen. Wie es in einem am
shington mit Überraschung aufgenommen wur- Ladakh im Gebiet des Pangong-Sees, und am Montag veröffentlichten Kommunique des Verden und die britische Botschaft in Washington Montag griffen die Chinesen östlich der alten teidigungsministeriums in Taipeh hieß, wurdem Vernehmen nach aufgefordert wurde, zu Front in Assam, nahe der Grenze nach Burma den. 71 Granaten auf Quemoy und 19 auf
versuchen, Aufklärung zu erhalten, erklärten
Matsu abgefeuert.
Regierungskreise in Paris, die bevorstehende
Maßnahme sei kein Warnschuß mehr, sondern
der entscheidende Schuß, der zum Halten
zwingt. Daraus wurde geschlossen, daß Paris
von Washington zuvor konsultiert worden war.
Schiffskatastrophe vor Norwegen
Passagierdampfer auf Riff gelaufen und gesunken — Bisher 30 Tote geborgen
R ö r v i k (UPI/AP). Eine Schiffskatastrophe
hat sich in der Nacht zum Montag vor der
nordnorwegischen Küste ereignet. Das 2172
BRT große Schiff mit dem Namen „Sanct
Svithun" war auf ein Riff gelaufen und ist gesunken. Bis Montagabend wurden 48 Überlebende und 30 Tote geborgen. Es ist noch
nicht bekannt, wie viele Personen sich an Bord
befanden.
Die Funkstation im Hafen Rörwik hatte am
Sonntagabend gegen 23 Uhr SOS-Rufe von der
„Sanct Svithun" erhalten, daß sie in der Nähe
des Leuchtturms Grinda bei Rörvik auf Grund
gelaufen sei und rasch sinke. Drei Schiffe liefen sofort von Rörvik aus. Die Suche war durch
schwere See und schlechte Sicht behindert. Als
die Rettungsschiffe an der angegebenen Position eintrafen, konnten sie weder eine Spur
des Schiffes noch seiner Insassen entdecken.
Erst viele Stunden später wurden die ersten
überlebenden aus Rettungsbooten geborgen.
Einer der überlebenden des Schiffsunglücks,
ein Kapitän, der auf der „Sanct Svithun" als
Passagier gefahren war, berichtete in Rörvik,
er habe sich unter Deck aufgehalten, als das
Schiff von einem gewaltigen Stoß erschüttert
wurde. Kurz darauf sei die Elektrizität aus„Indien wird sich einer Aggression nidit unterwerfen", sagte gestern in Neu-Delhi Nehru. gefallen, das Schiff sei von dem Felsenriff
Unser Bild: Indiens Verteidigungsminister Menon (links) im Gespräch mit dem Ober- tierabgeglitten und sei rasch gesunken. Glückkommandierenden der Luftstreitkräfte, Luftmarschall A. M. Engineer.
Photo-, AP licherweise habe es keine Panik gegeben. Die
Leute an Bord seien ruhig in die Boote gestiegen und in die Nacht hinausgerudert.
Die „Sanct Svithun" war auf der Fahrt von
Berqen nach Kirkenes.
Unglück auf dem Mississippi
I Lutcher (AP). Mehreren amerikanischen
Löschbooten ist es in der Nacht zum Montag
gelungen, ein Großfeuer an Bord des norwegischen Tankers „Boheme" zu löschen, der am
Sonntagmorgen auf dem Unterlauf des Mississippis mit einem Schleppzug zusammengestoßen und in Brand geraten war. Das schwere
Unglück hat wahrscheinlich 19 Todesopfer gefordert. Zwei Besatzungsmitglieder erlitten
lebensgefährliche Verletzungen.
Flugzeug mit
95 Passagieren verunglückt
J u n e a u / A l a s k a (AP). Ein Flugzeug mit
95 Passagieren mußte am Montag unweit von
Sitka (Alaska) wegen eines Propellerschadens
aufs Meer niedergehen. Ein Flugzeug der amerikanischen Küstenwacht sichtete mehrere
Schlauchboote auf dem Wasser.
Nach ersten Berichten sind alle 95 Passagiere
und die siebenköpfige Besatzung gerettet
worden.
Unsere Meinung:
Der Gewerkschaftsnund
—idt. Der gestern in Hannover eröffnete
6. ordentliche Bundeskongreß des Deutschen
Gewerkschaftsbundes steht mehr als die meisten vorausgegangenen Gewerkschaftskongresse im Blickfeld einer kritisch gestimmten
Öffentlichkeit. Das ist in den drei Punkten
der Tagesordnung dieses Kongresses selbst
begründet, die (wie in unserem Bericht auf
Seite 3 dargelegt ist) mit der Neufassung des
Grundsatzprogramms von 1949, einer Reform
der DGB-Satzung und der Neuwahl des DGBVorsitzenden ein Mammut-Programm angekündigt hat, von dessen Bewältigung für
eine Beurteilung künftiger Gewerkschaftsarbeit und ihrer Rolle I n Staat uricl Gesellschaft einiges abhängen dürfte. Während durchaus Gewißheit darüber zu bestehen scheint,
daß weite Kreise des DGB Abschied wenigstens von einigen Teilen alter Gewerkschaftsgeschichte und -tradition zu nehmen gewillt
wären, muß bezweifelt werden, ob es dem
Kongreß gelingen wird, einigermaßen Klarheit
in das verwirrende "Kapitel gewerkschaftlicher
Machtverhältnisse zu bringen. Der zunächst
ein wenig intern und in der Tagesordnung
mehr beiläufig denn vorrängig wirkende
Punkt „Reform der DGB-Satzung" wird
also besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes war auf dem 5. DGB-Bundeskongreß
im Jahre 1959 in Stuttgart der Auftrag erteilt
worden, dem Kongreß in drei Jahren einen
neuen Salzungsentwurf vorzulegen, der in erster Linie auf eine Koordinierung der im DGB zusammengeschlossenen sechzehn Einzelgewerkschaften und auf eine handfeste Stärkung des
Gewerkschaftsbundes, also der Spitze der
Dachorganisation, zielt. Es liegt nahe, daß bei
sechzehn Einzelgewerkschaften durchaus recht
unterschiedliche Auffassungen darüber herrschen, inwieweit die einzelne Gewerkschaftsorganisation gut daran, tut, einen Teil ihrer
Autonomie an die Dachorganisation abzugeben. Die Industriegewerkschaft Metall zum
Beispiel hat kein Hehl daraus gemacht, daß
sie auf gar keinen Fall mit einer solchen Beschneidung der Selbständigkeit einverstanden
ist. Sie kann registrieren, daß der neue Satzungsentwurf zwar diese und'jene Machtverteilung zugunsten der Dachorganisation durchzusetzen versucht,••die recht problematische
und mit schlechten Erfahrungen beladene uneingeschränkte Tarifautonomie der einzelnen
Gewerkschaften aber kaum anzutasten scheint.
Es muß also befürchtet werden, daß es nicht
gelingen wird, einem Machtmißbrauch der
Einzelgewerkschaft einen Riegel vorzuschieben, einer Macht, der bisher nicht selten allzusehr an den Interessen der Gewerkschaftsmitglieder denn an der Gesamtheit gelegen
ist. In der gegenwärtigen Situation kommt es
aber gerade darauf an, daß die Gewerkschaften
auch als Interessenverbände keine einseitige
Politik betreiben, mit der die oft komplizierten
wirtschaftspolitischen Probleme erschwert statt
optimal gelöst werden.
Leider haben die Einzelgewerkschaften als
Interessenverbände einer nur zu rund einem
Drittel organisierten Arbeitnehmerschaft den
Anspruch erhoben, schlechthin für alle Arbeitnehmer zu sprechen, haben in der kritischen
Lage einer unaufhaltsam rotierenden LohnPreis-Spirale oft mehr gefordert und durchgesetzt, als es im Hinblick auf die Volkswirtschaft und das Wohl der in ihr lebenden Individuen zu verantworten gewesen ist. Wenn
also mit einer Reform der DGB-Satzung tatsächlich eine Hoffnung vorhanden ist, so liegt
sie doch in erster Linie darin, daß eine mit größeren Befugnissen versehene Dachorganisation
eine weniger egozentrische Wirtschafts- und
Sozialpolitik betreiben würde, eine Gewerkschaftspolitik, die durch ein stärkeres Eingehen auf gesamtwirtschaftliche Notwendigkeiten charakterisiert wäre und einzelgewerkschaftliche. Ambitionen zumindest eindämmen
könnte. Damit steht und fällt die Frage, ob die
Gewerkschaft in Staat und Gesellschaft verantwortungsbewußter Partner ist oder ein
.Staat im Staate".