Regina Einig über die Autorin-pdf

Die Tagespost
Feuilleton
Samstag, 18. Juli 2015 Nr. 85 / Nr. 29 ASZ
Lichter Kontrapunkt
Warum es ein Unglück für eine Frau ist, keine Thomistin zu sein – Die Romanautorin Natalia Sanmartı́n Fenollera ficht gegen die Irrtümer der Moderne
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VON REGINA EINIG
„Den Unverdorbenen bleibt der Blick für das Wesentliche vorbehalten. Und wesentlich ist im Roman der tägliche Gang zur alten Messe.“
Der Benediktinerabtei von Le Barroux in Südfrankreich kommt in Natalia Sanmartin Fenolleras Werk eine Bedeutung zu.
Foto: IN
F
ünf
Bände
gegen die Häresien setzte der
Kirchenvater Irenäus
von Lyon (135–202)
den falschen Propheten seiner Zeit entgegen. Einen würdigeren Namensgeber
Die Literatur-Serie
der Tagespost
hätte die spanische
Wirtschaftsjournalistin Natalia Sanmartı́n Fenollera für das Reiseziel ihre Romanheldin Prudencia Prim
kaum finden können. Als Bibliothekarin
eines belesenen Konvertiten gerät Señorita
Prim in San Ireneo de Arnois in eine alternative Gesellschaft, „eine Kolonie glücklicher Menschen, die auf der Suche nach
einem einfachen ländlichen Leben aus der
modernen Welt geflohen waren“.
Man lasse sich nicht irritieren von dem
todernsten Blick der jungen Schönheit im
pastellfarbenen Retrokostüm auf dem Cover. „Das Erwachen der Señorita Prim“ ist ein
federleichter Roman, humorvoll und intelligent geschrieben. Zimtduft und Jane-Austen-Romantik wehen durch San Ireneo,
„wo verschlossene Türen als unhöflich den
Nachbarn gegenüber angesehen werden“.
Mit feiner Ironie führt die Autorin die Feder
gegen das landläufige Geschwätz von der
Gleichberechtigung der Frau. Wenn Señorita Prim am unzeitgemäß kalorienreich ge-
Poeten, Priester
und Propheten
Natalia Sanmartin Fenollera.
Foto: Archiv
deckten Kaffeetisch mit hochgebildeten Fe- hat. Zum Beispiel die Chance, von Kindern
minismuskritikerinnen plaudert, darf die zu lernen, wenn man sich nur die Zeit für
Leserin ihre Waage vergessen und die Seele sie nimmt. Dass Ikonen keine Kunstwerke
baumeln lassen. Was gibt es in Zeiten des sind, sondern Fenster, bringt ein kleines
Diätwahnsinns eigentlich Bodenständige- Mädchen der Romanheldin bei. Befreit von
res als Backen? Warum bloß lassen Frauen den Zwängen moderner Lehrpläne und
sich die Freude am Zusammensein mit Kin- pseudointellektuellem Ballast schärfen die
dern vermiesen, statt die Welt mit ihnen ge- vier Geschwister im Haus ihres Onkels
meinsam zu entdecken? Männern im Büro ihren Blick für die Schönheit des Lebens.
zuzuarbeiten kann der erste Schritt in die Bildungsziel dieser häusliche Schule ist,
falsche Richtung sein und die süffisante „dass die Kinder einmal all das von sich beWarnung der Frauen aus San Ireneo lautet: haupten können, was die modernen SchuEin Mädchen, das mehr als acht Stunden len nicht zu produzieren in der Lage sind“.
am Tag arbeitet, ist rückständig, der Fünf- Der erfolgreiche Weg zum unabhängigen
Stunden-Tag mit viel Zeit für die Familie Denken ist nämlich mit vermeintlichen pähingegen ein Zeichen wahren Fortschritts.
dagogischen Todsünden gepflastert: KlassiDabei geht es in diesem beschwingten scher Frontalunterricht paart sich in dieUtopia alles andere als betulich oder gar bil- sem Haushalt mit pädagogischem Eros.
dungsfeindlich zu. San Irineo de Arnois, Señorita Prim wird „Zeugin der Leidenwiewohl weitgehend autark, ist nicht zu schaft“, mit der ihr Arbeitgeber seinen
verwechseln mit einem Bruderhof der Hut- Nichten und Neffen die komplexesten Fraterer, sondern entpuppt sich als Hochburg gen erklärt. Als Anhänger der scholastider klassischen Bildungsideale. Mit dersel- schen Methode steht er auf Kriegsfuß mit
ben Überzeugungskraft, mit der Irenäus die den Erziehungsgrundsätzen der letzten
Irrlehren seiner Zeit bekämpfte, verweigern fünfzig Jahre. Das stupende Literaturversich die Bewohner den etablierten akade- ständnis der Kinder und ihre Fähigkeit zum
mischen und emanzipatorischen Spielre- selbstständigen Denken lassen Kritik an
geln des 21. Jahrhunderts. Mag Señorita diesem akademischen Abenteuer als KleinPrim als überzeugte Gegnerin der Ehe auch geisterei erscheinen.
vor den resoluten Damen des Dorfes in
Die Botschaft dieses wunderbar polieinen Schmollwinkel flüchten, als diese ihr tisch unkorrekten Romans ist positiv: Der
die kollektive Suche nach einem passenden christliche Glaube immunisiert den MenEhemann ankündigen, dem Zauber von schen gegen die Fallstricke seiner Zeit. KeiSan Ireneo entzieht sie sich
ner hat das intensiver vernicht – wie sollte sie auch?
innerlicht als der vom
Wo intelligente Frauen ein
Skeptizismus zur katholiRefugium kultivieren, weil
„Señorita Prim findet schen Tradition bekehrte
sie zu dem Schluss gekomChef Prudencia Prims, der
in der theologischen nach
men sind, „dass der moderdem Tod seiner
Bibliothek einen
ne Lebensstil den Frauen
Schwester deren Kinder
zuviel abfordert, den Famiaufgenommen hat. Seine
Zufluchtsort“
lien ein unnatürliches Lespirituelle Reise brachte
ben aufzwingt und den
ihn, „der zwanzig Jahre keiMenschen die Fähigkeit
nen Fuß in die Kirche genimmt, Dinge in Frage zu stellen“, kann die setzt hatte“, in die Benediktinerabtei Le
Flucht vor „dem Drachen des Skeptizis- Barroux in Südfrankreich. Doch waren es
mus“ gelingen und der Glanz alter Kultu- nicht die Mönche, sondern „die Kinder, die
ren wieder auferstehen. Für ein „perfektes ihn dorthin geführt haben, wo er heute
Produkt des modernen Bildungssystems“ ist“. Den Unverdorbenen bleibt der Blick
wie Prudencia Prim, das daran leidet, dass für das Wesentliche vorbehalten. Und wedie Welt das Gefühl für Harmonie und sentlich ist im Roman der tägliche Gang
Schönheit verloren hat, wird das Haus mit zur alten Messe in eine kilometerweit entder üppigen theologischen Bibliothek zum fernte Benediktinerabtei. Schönheit, Liebe,
Zufluchtsort. Die erfolgreiche Hochschul- Freundschaft und auch die Kindheit in all
absolventin mit dem staunenerregenden ihren Facetten bestimmen in Wahrheit ein
Lebenslauf ist – nomen est omen – gescheit erfülltes Leben. Erst, als sich Prudencia
genug, um die Möglichkeiten zu erkennen, Prim unsterblich in den treuen Anhänger
die sich insbesondere einer Frau eröffnen, der überlieferten römischen Liturgie versobald sie die Götzen der Moderne erst ein- liebt, erkennt sie ihr größtes Manko: nicht
mal erfolgreich aus ihrem Leben verbannt zu glauben. Keine Thomistin zu sein und
dem Geliebten geistlich fremd bleiben zu eigenen Grenzen und das Bewusstsein,
müssen, versperrt ihr das Tor zum Glück. dem Geliebten nicht genug geben zu könSich den eigenen Unglauben als Wurzel nen, sind menschliche Tragödie genug, die
vieler seelischer Verluste ins Bewusstsein zu nur der Dritte im Bund lösen könnte.
rufen – das ist der Weckruf dieses Romans.
Auch sprachlich gelingt dieser Spagat
Señorita Prim erwacht, als ihr klar wird, zwischen Tradition und Moderne. So gradass ihre Gottvergessenheit den Geliebten ziös sich Señorita Prim auch den Hut aufs
davon abhält, sich ernsthaft in sie zu verlie- kluge Köpfchen setzt, so sicher umschifft
ben.
das Buch jeden Anflug hausbackener FrömEine Katechese erteilt ihr das Mädchen melei. „Ein Glaubensbekenntnis ist ungeTesseris: „Die Geschichte der Erlösung ist fähr so theoretisch wie ein Kopfschuss“, erein wahres Märchen“, allerdings ähnele die fährt sie. Und ihr Chef beschreibt seine BeGeschichte der Erlösung keinem Märchen, kehrung als „eine Operation am offenen
sondern die Märchen und Legenden äh- Herzen. Als würde man einen Baum aus der
neln der Geschichte der Erlösung. Es sind Erde reißen und woanders wieder einpflandie nach weltlichen Maßstäben Unbedeu- zen.“ Besser könnte es kein Jugendkatechistenden, denen die selbstbewusste Pruden- mus formulieren.
cia Prim tiefere Einsichten verdankt. Ein
Das Drama der menschlichen Freiheit,
weiser Benediktiner baut ihr schließlich die die Gottes ausgestreckte Hand verschmäBrücke zum personalen Gott: „Seien Sie hen kann, wird im Roman in der Person der
nicht überrascht, wenn Sie schließlich he- alten, der Familie entfremdeten Mutter anrausfinden, dass die Schönheit nicht ein gedeutet, die mit der Bekehrung des Sohnes
Was, sondern ein Wer ist.“ Als die spanische nicht zurechtkommt. Ihr Problem ist, „dass
Originalausgabe 2013 bei
es niemanden gibt, dessen
Planeta in Barcelona erAutorität sie sich beugen
schien, traf das Buch als
muss“. Denn keinen MenGeschichte über die Ent„Ein Pater zeigt der schen zu haben, „deren
schleunigung spontan den
Aufgabe es ist, das zu sagen,
Protagonistin, dass
Nerv gestresster Zeitgenoswas man nicht hören will“,
die Schönheit eine kann auch eine Facette der
sen. Inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt, liegt
Person sein könnte“ Armut sein. Für Señorita
es in siebzig Ländern vor.
Prim zeichnet sich am EnIn Deutschland schwelgten
de ein Weg aus ihrem Didie Kritiken in Lob und
lemma ab, „die Wahrheit
Unverständnis. Doch unterschätzen Urteile nur anerkennen zu wollen, wenn die Reliwie „eine Ode an das, was wirklich zählt“ gion aus dem Spiel bleibt“. Wie Natalia
(Cosmopolitan) und „geschlechterpolitisch Sanmartı́n Fenollera das Happy-End der
provokanter Kitsch“ (FAZ) dieses literari- Selbstbesinnung in eine Italienreise kleidet,
sche Debüt. „Das Erwachen der Señorita ohne trivial zu werden, erinnert an kluge
Prim“ wirkt wie ein lichter Kontrapunkt zur Mütter, die den Kindern das als fade veroft düster anmutenden Traditionalistenli- schmähte Gemüse unter einer knusprigen
teratur im Stile eines Jean Raspail.
Panade servieren, damit es den heißgeliebDer 1970 geborenen Autorin liegen die ten Pommes ähnelt.
kirchen- und gesellschaftspolitischen GraVor dem Skeptizismus grauen darf es
benkämpfe der nachkonziliaren Jahre so den Leser am Ende des Romans immer
fern, dass man ihr den ideologiefreien Blick noch. Als Krankheit aller Generationen
auf die katholische Tradition auf jeder Seite lässt er Menschen früher altern und raubt
des Romans abnimmt. „Das Erwachen der sogar Kindern ihre Ungezwungenheit.
Señorita Prim“ kommt ohne Weltunter- Doch am Ende bewährt sich San Ireneo de
gangsszenarien und apokalyptische Schil- Arnois als Bollwerk der Tradition gegen die
derungen einer sich selbst aufgebenden Moderne. Beim Schlussakkord erscheint
Lehrtradition aus. Um das Drama des Un- Señorita Prim nahezu als Covergirl des dritglaubens zu veranschaulichen, braucht die ten Buchs des heiligen Irenäus „Gegen die
Autorin kein Städte in Chaos und Anarchie Häresien“. Darin hält der Kirchenvater fest:
versinken zu lassen. Das Unglück, keine un- Jugendfrisch habe der Heilige Geist den
beschwerte Kindheit in einer intakten Fa- Glauben in das Gefäß der Kirche hineingemilie erlebt zu haben, genügt Señorita Prim tan, und jugendfrisch erhalte er das Gefäß,
als Folie und zur Nachdenklichkeit. Die in dem er sich befinde.