20 Bremen SONNABEND 12. DEZEMBER 2015 21 D I E WAC H S E N D E S TA DT, T E I L 5 : H U C KE L R IE D E I S T SANIERUNGSGEBIET UND GIBT SICH MIT SEINEN PROJEK TEN EIN NEUES PROFIL Ein Kiosk als Klammer V SPORTANLAGE STADTWERDER NEUSTADT N EUSTADT USTA USTADT TAD TA TADT AD A DT T K ir c hw eg B un WER DER SEE te n to r s te ns ße eg tr a i nw r Ko Huckelriede aus der Luft – der Ortsteil in der Neustadt liegt zwischen dem Werdersee und der FOTO: STUDIO B Neuenlander Straße. or dem Kiosk am Deichschart steht ein kleiner Tannenbaum, es gibt einen Klapptisch mit Stühlen davor, ein Regal, das mit Büchern zum Ausleihen bestückt ist und die Kiste mit Weihnachtsdekoration – freie Wahl, wer will, kann sich bedienen. Was es nicht gibt: Alkohol und Zigaretten, die KioskKlassiker. Diese Bude ist anders, sie ist ein Projekt. Träger ist der Beschäftigungsträger bras. Seit zweieinhalb Jahren betreibt er den Kiosk am Werdersee in Huckelriede, dort, wo vorher schon eine Bude stand, die zuletzt freilich nur noch eine Ruine war, „ein Schandfleck“, sagt Jürgen Stanek aus der Geschäftsführung von bras. Stanek hat damals zugegriffen, als das Ortsamt mit dem Vorschlag kam, den alten Kiosk weiterzuentwickeln. Einfach war’s nicht: „Zuerst haben wir rote Zahlen geschrieben.“ Das ist besser geworden, aber darauf allein war bras nicht aus. Die weinrote Bude ist ein Arbeitsplatz, zurzeit für Nadine Knöchelmann. Sie lernt in dem Job, findet sich in feste Zeitstrukturen ein, gewöhnt sich an den Kontakt mit Menschen, rechnet und zählt nach, solche Sachen. Nicht selten, sagt sie, dass die Menschen nur deshalb kommen, um ihr Herz auszuschütten oder einfach zu sabbeln, irgendwas. Es gibt auch Kultur am Kiosk. Feste im Sommer und Herbst mit Samba, Flohmarkt und Zirkus. Ein Fest vor Weihnachten mit brandheißen Nummern von Feuerkünstlern und Chormusik. BayerThiemig wünscht sich noch mehr – „Lesungen wären toll, schreiben Sie das, die Leute sollen sich melden“. Ein Kiosk als Klammer von Initiativen, von Kultur und von Kommerz, denn Geld verdient werden muss auch. Der Ortsteil Huckelriede ist dadurch mindestens einen Schandfleck losgeworden, profitiert jetzt aber auch von einem zusätzliHI chen Treffpunkt. ROLANDKLINIK BREMEN-HUCKELRIEDE Anke Bayer-Thiemig (rechts) und Nadine Knöchelmann führen den Kiosk am Deichschart in Huckelriede. FOTO: FRANK THOMAS KOCH HUCK HUCKELRIEDE HUC HU H UCK CKE CKELRIEDE KELR ELR LR RI DE DE Erholungsflächen (der Werdersee vor allem) und 94 Hektar Landwirtschaft. CAMBRAIDREIECK Bu • Einwohner: 7236, ungefähr jeder de der ich • Zu- und Fortgezogene: jeweils rund 1000 rs BEZIRKSSPORTANLAGE SÜD sac to • Haushalte: 4072 hse en nda nt dritte hat einen Migrationshintergrund mm • Fläche: 567 Hektar, davon 232 Hektar Nie • Arbeitslosenquote: 17 Prozent • Wahlergebnis bei der Bürgerschaftswahl am 10. Mai 2015: SPD: 32,2 %, CDU: 15,9 %, Grüne: 19,9 %, Linke 14,4 %, AFD: 5,4 %, FDP: 4,0 % S HUCKELRIEDER PARK QUELLE: SENATOR FÜR WIRTSCHAFT © WESER-KURIER WILHELM-KAISENSCHULE Ne © uen WE lan SE der R- Str H a b e n h au s e r L KU aße an d s t r aß e RI ER • BE RD Au IN G QU EL LE :M AP Z .C OM to ba hn zu br i ng er Ar s te n Der Hotspot von Huckelriede A Ingrid Moke und Michael Groher vor ihrem Rohbau auf dem Cambrai-Dreieck in Huckelriede. Die FOTO: CHRISTINA KUHAUPT beiden gehören zu einer Baugemeinschaft. Ein anderes bras-Projekt, das gerade erst begonnen hat, soll an den Kiosk angedockt werden: Langzeitarbeitslose, die ihren Hauptschulabschluss nachholen und nebenbei auch werkeln. Was dabei herauskommt, Holzspielzeug zum Beispiel, wird Teil der Produktpalette des Kiosks. Die Bude als Plattform, auch für ein Engagement der Schüler rund um den Werdersee, wenn sie Müll einsammeln oder Kinder zum Spielen animieren. So stellt sich bras das vor. Gute Ideen, „aber du brauchst immer einen Menschen, der sich dafür einsetzt“, sagt Stanek. In der Bude und davor ist das Anke, die von den Stammkunden geduzt wird. Anke Bayer-Thiemig, Mitarbeiterin von bras und die Konstante im Kiosk: „Ich kenne hier Hinz und Kunz.“ VO N JÜ R G E N HI N R I CHS cht Jahre, und die Zeit des Wartens ist immer noch nicht um. So lange schon wird geträumt und diskutiert, geplant und wieder verworfen, gestritten und Frieden gemacht. Ein mal angenehmes, mal nervenzehrendes Projekt, das sich eine Gruppe von Menschen vorgenommen hat. Nicht alle sind heute noch dabei, aber doch die meisten, sie müssen mittlerweile eine verschworene Gemeinschaft sein. 30 Erwachsene und zwölf Kinder, die von Sommer an unter einem gemeinsamen Dach wohnen werden. Dann ist ihr Haus fertig, das zurzeit noch im Rohbau auf dem Grundstück in Huckelriede steht – das Haus einer sogenannten Baugemeinschaft, von denen es in Bremen anders als zum Beispiel in Hamburg noch nicht viele gibt. Das Interesse an diesem Modell ist zwar vorhanden, nur scheuen die Menschen offenbar den großen Aufwand, der dahinter steckt, und die Tücken, wenn es zum Beispiel um die Finanzierung geht. Initiativen gibt es unter anderem für das Hulsberg-Viertel und für zwei Standorte in Walle. Der Ort, an dem in Huckelriede das Gebäude mit seinen 21 Wohnungen entsteht, ist das sogenannte Cambrai-Dreieck, der neue Hotspot von Huckelriede. Die fast 16 000 Quadratmeter große Fläche auf der Ecke Niedersachsendamm/Buntent- orsdeich war jahrzehntelang einer „Spontanvege- trum, eine Kindertagesstätte und ein Café – Infratation“ überlassen, wie die Behörden den struktur für die ganze Gegend. Wildwuchs nennen. Im Rücken hat sie große RieUnd dann ist auf dem Grundstück eben auch gelbauten aus den 1930er-Jahren, frühere Kaser- noch das Haus der Baugemeinschaft. Ingrid Moke nenbauten, die heute für Wohnen genutzt werden. und Michael Groher gehören dazu. Sie wird allein Nach vorne, über den Buntentorsdeich hinweg, in eine der Wohnungen einziehen. Er tut es zusamliegt der Huckelrieder Park. Noch mehr Naherho- men mit seiner Frau. Die beiden sind gekommen, lung nur ein paar Hundert Meum das Projekt, das unsere Zeiter weiter nördlich, dort ertung seit gut zweieinhalb Jahstreckt sich der Werdersee. ren begleitet, noch einmal zu Keine schlechten Vorausseterklären. „Als wir uns hier das zungen für ein Gebiet, das letzte Mal für ein Gespräch tradie Bürgerschaft Ende 2008 fen, standen wir zwischen in ihr Sanierungsprogramm Brombeeren“, sagt Moke. Dafür ausgewählte Stadtteile mals hatten sie die Hoffnung, aufgenommen hat. dass das Haus bis Ende 2014 Michael Groher, Baugemeinschaft Die Pläne für das Cambraifertig ist. Doch es gab ProDreieck kommen gut voran: bleme. „Bis die BaugenehmiEine kleine Siedlung mit 39 Reihenhäusern in Grö- gung da war, hat es ein Jahr gedauert“, erzählt ßen zwischen 80 und 140 Quadratmetern und Prei- Groher. Irgendein Problem mit veränderten Pläsen, die nach Angaben des Investors zwischen nen. Verwaltungskram. Lustig fanden sie’s nicht. 130 000 Euro und rund 200 000 Euro liegen. Die Der Rohbau hat auch länger gedauert als erwarHäuser, so weit man das sehen kann, sind bereits tet. Und die Kosten? Sind gestiegen. Zu Anfang der bezogen. Planungen wurden sie von der Baugemeinschaft Nebenan ein ansehnlicher Backsteinbau mit 47 auf rund 3,5 Millionen Euro taxiert, mittlerweile, geförderten Wohnungen, die barrierefrei sind. Ei- sagt Groher, sind sie bei 3,9 Millionen Euro angenige davon wird der Martinsclub für betreutes Woh- langt. Eigentümerin des Hauses wird eine GmbH nen nutzen. Geplant ist in dem lang gezogenen Ge- sein, deren Gesellschafter der Verein der Baugebäude der Gewoba außerdem ein Quartierszen- meinschaft ist. Die Mitglieder beteiligen sich mit „Bis die Baugenehmigung da war, hat es ein Jahr gedauert.“ Einlagen an der GmbH und sind später Mieter, nicht Eigentümer. „Das mussten sich viele erstmal klarmachen, dass sie auch in Zukunft Miete zahlen müssen“, sagt Moke. Je höher die Einlage, desto geringer der Mietzins. Alle zehn Tage Plenum in den acht Jahren, dazu die vielen Arbeitsgruppen zur Detailplanung – Zeit genug, sich mit allem vertraut zu machen, hatten die Mitglieder allemal. Es gibt für das Projekt ein Mobilitätskonzept, das Ziel: möglichst wenig Autos, am besten gar keine. Bremen hat eine Stellplatzverordnung, wer baut, muss für Parkplätze sorgen. „Wir konnten viele davon mit Jahreskarten der BSAG ablösen“, erzählt Groher. Es gibt ein Blockheizkraftwerk, dezentrale Energieversorgung. Es wurde ökologisch gebaut, wo es ging und nicht zu teuer war. Michael Groher, 62 Jahre alt, ist Rentner, er hat früher in der IT-Branche gearbeitet. Ingrid Moke, 56 Jahre alt, ist Lehrerin. Unter den 30 Erwachsenen, die gemeinsam ihren Traum verwirklichen, sind viele Akademiker, genauso aber auch Menschen, die nicht studiert haben und als Krankenschwester, Drucker oder Erzieher arbeiten. Eine bunte Mischung, auch zwischen jung und alt. Das jüngste Kind ist ein Jahr alt, der älteste Erwachsene 73 Jahre alt. Sie alle werden vom Sommer an eine neue Adresse haben und auf dem CambraiDreieck wohnen, mitten in Huckelriede. „Schule muss sich öffnen“ chule? So nicht mehr, meint Oliver Seipke. Nicht wie gestern oder vorgestern. „Schule muss sich öffnen“, sagt der Leiter der Wilhelm-Kaisen-Oberschule in Huckelriede, „wir wollen ein Bildungszentrum für das gesamte Quartier werden.“ Ein Campus, meint er, offen für alle. Schule, auch wenn sie immerhin schon eine Ganztagsschule ist, dürfe sich inhaltlich, organisatorisch und zeitlich nicht mehr auf die alten Grenzen beschränken. Dann, als Seipke weiter ausholen will, ertönt der Gong. Die Pause ist zu Ende. „Auch so etwas“, sagt er, „es ist nicht gut, den Unterricht so streng zu vertakten.“ 45 Minuten das eine, 90 Minuten das andere Fach. „Das muss organischer werden, den Gong sollte man am besten abstellen.“ Er hat’s probiert, er wird’s wieder tun. Die Schule an der Valckenburghstraße mit ihren rund 540 Schülern und 55 Lehrern und Sozialpädagogen hatte lange Jahre einen schlechten Ruf. So richtig weg davon ist sie noch nicht, Seipke räumt das ein, „es gibt Vorurteile“. Er hält sie für unberechtigt und unterlegt das mit Fakten: „40 bis 45 Prozent unserer Schüler gehen auf die gymnasiale Oberstufe.“ Allein, dass die Schule jetzt eine Oberschule ist, habe bereits viel Positives bewirkt. Und dann müsse man eben in die Zukunft schauen, Projekte initiieren wie „Made in Huckelriede“, wenn Schüler in den Werkstätten Kunsthandwerk herstellen und die Sachen mit Unterstützung ihrer Lehrer auf Märkten und Basaren verkaufen. Schule, die rausgeht, in den Stadtteil hinein. Oder Kontakte auch international herstellt, es gibt einen Austausch mit Schülern in der Türkei und in England. Zum Campus sollen die Sportanlagen gehören, die in unmittelbarer Nachbarschaft lie- gen. „Der Zaun muss weg“, wünscht sich der Direktor. Daneben ist noch Platz, eine freie Fläche. Geplant wird, dort mit einem großen Zelt die Zirkusschule Jokes anzusiedeln, ein Vorhaben, das seit Jahren im Schwange ist, aber nicht so recht vorankommt. Schnell gehen soll es mit diesem Projekt: Der Hausmeister gibt seine Wohnung auf dem Campus auf, Platz für Jugendliche, die sich dort nach der Schule aufhalten könnten. Fließende Übergänge zwischen Schule und Freizeit. Seipke: „Uns darf doch nicht egal sein, was die Schüler nach 16 Uhr machen.“ Es gibt ein Manko der Schule, das offenkundig ist: Sie liegt versteckt, am Ende einer Sackgasse. Ganz das Gegenteil von guter Anbindung. Doch erstens sollen in Zukunft die Sportanlagen dazu kommen, was das Areal zur anderen Seite hin öffnet. Und zweitens wird demnächst für mehr als eine Million Euro eine neue Achse gebaut. Keine Straße und nicht für Autos, sondern ein breiter von Lampen beschienener Weg, der von der Valckenburghstraße zur Kita Kornstraße führt und von dort weiter durch einen Grüngürtel zum Buntentorsteinweg mit Ziel Werdersee. Die Wilhelm-Kaisen-Oberschule als Glied einer Kette. Teil der Campus-Idee. Schön, sagt Seipke, aber immer noch nicht genug. Er streitet dafür, dass auf seinem Gelände eine Grundschule gebaut wird. Nicht in der Gartenstadt Werdersee, dem nächsten großen Baugebiet in Huckelriede, sondern bei ihm. Die Gründe liegen für den Direktor auf der Hand: „Man hat die Klassen ein bis zehn zusammen, vielleicht irgendwann sogar eine Oberstufe. Und wir würden die Schülerschaft sozial besser durchmischen.“ Einen Namen für die Grundschule hat er schon: Helene-KaiHI sen-Schule. Oliver Seipke vor seiner Schule an der Valckenburghstraße. Der Direktor sitzt auf einer Bank, die seine FOTO: FRANK THOMAS KOCH Schüler gebaut und angemalt haben: „Made in Huckelriede“.
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