Vertiefungstext

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Agrargeschichte Vertiefungstext
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Religiöses Brauchtum der Innerschweizer Bergbauern
Im Voralpengebiet der Schweiz, zu dem auch die Alpen rund um den Vierwaldstättersee zählen,
blieben politische, wirtschaftliche und kulturell-religiöse Traditionen am ehesten und längsten
gewahrt. Die Resistenz gegenüber neuen Entwicklungen und der Moderne war hier am
ausgeprägtesten. Dies zeigt sich unter anderem am Betruf, der sich hier besonders gut erhalten
hat. Der Betruf, der von den katholischen Älplern in den Schweizer Voralpen jeweils bei
einbrechender Dämmerung in langgezogenen, weithin tragenden Tönen einer kirchlich
anmutenden Melodie gesungen wird, nimmt eine Art Zwischenstellung zwischen Gebet und
Zaubersegen ein. Sein typischer Inhalt ist die Anrufung Gottes, der Mutter Gottes und der
Heiligen, besonders der Bauern- und Viehpatrone, sie möchten die Alp, das Vieh und die
Menschen vor Unheil bewahren.
1941 verweist der Urner Landarzt Eduard Renner in seiner volkskundlichen Darstellung
«Goldener Ring über Uri» am Beispiel des Betrufs auf den Einfluss, den vorchristliche
Zauberpraktiken und animistisches Denken bis weit ins 20. Jahrhundert auf die traditionelle
Innerschweizer Bergbevölkerung ausübten:
«Abend für Abend, solange das Sennten auf der Alp weilt, wird der Älpler hinausschreiten über
den Alpboden und auf dem luftigen Egg, mit weithin tönender Stimme betenrufen. Es ist dies
ein uralter Brauch, und nur der Senn oder dort, wo jeder Bauer einzeln alpt, der Hausvater, darf
das hehre Amt ausüben. Ein froher Jauchzer geht dem Betruf voran. Dann singt der Rufer in
feierlich-ernstem Choraltone, durch die Vola [= hölzerner Trichter], hinaus in die aufsteigende
Nacht:
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt,
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, voll der Gnade und Wahrheit.
Bei der Verkündigung des Geheimnisses: Und das Wort ist Fleisch geworden beugen der Senn
und alle, die es hören im weiten Umkreis des Gebirges, fromm das Knie. Ist der letzte Vers
dieses Evangeliums verhalt, so folgt der Ruf des Senns:
Har Chuoli zuo lobä,
All Schritt und Tritt i Gottes Namä lobä!
Und in aller Heiligä Gottes Namä lobä.
Hier auf dieser Alp ist ein goldener Ring,
darin wohnt die lieb Muetter Gottes mit ihrem herzallerliebsten Kind.
Ave Maria! Ave Maria! Ave Maria!
Jesus! Jesus! Jesus!
O Du herzallerliebster Herr Jesus Christ!
Wir bitten Dich, b’hiet uns die Alp und alles, was dazue gheert und ist.
Das walt Gott und der lieb heilig Sant Antoni,
Das walt Gott und der lieb heilig Sant Wendel,
Das walt Gott und der lieb heilig Sant Jakob,
Der well is alläsämä ä güeti glickhaftigi Nachtherbrig haltä.
Das walt Gott und der lieb heilig Sant Josef,
Der well is zu Trost und Hilf cho ufem Todbett.
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Eisenbahnen und Bergbahnen in der Zentralschweiz
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Das walt Gott und der lieb heilig Sant Galli,
Und diä andärä liebä Heilige und Userwähltä Gottes alli.
Das walt Gott und das lieb heelig Chryz, Amä.
Gelobt sei Jesus Christ! Gelobt sei Jesus Christ! Gelobt sei Jesus Christ! »
(aus: Eduard Renner: Goldener Ring über Uri. Zürich 1976, S. 165-166)
Die Texte des Betrufs zeigen eine eigentümliche Mischung aus bewussten christlichen und
unbewussten nichtchristlichen Elementen. In der Einleitung wird mit dem Johannes-Evangelium
die grosse Form und Stimmung gefunden. Der mittlere Teil setzt die Mutter Gottes ins Zentrum
und wird mit dem doppeldeutigen Ausruf «Lobä» eingeleitet, der sowohl eine Lobpreisung der
göttlichen Schöpfung wie auch ein gängiger Lockruf für das auf der Alp gesömmerte Vieh ist.
Danach werden unter anderem mit den Heiligen Antoni und Wendel die Schutzpatrone des
Viehs und der Hirten angerufen, gefolgt von Sankt Galli, an dessem Namenstag wichtige
Viehmärkte abgehalten werden. Volkskundler erkennen in der Mehrteiligkeit des Betruf und in
der mehrfachen Wiederholung der Lobsprüche Elemente einer magischen Volksfrömmigkeit.
Einerseits ruft der Betruf also mithilfe der Schutzheiligen den christlichen Gott und die Jungfrau
Maria um Schutz und Hilfe an. Andererseits aber soll die Kraft der mächtigen Worte an sich
wirken. Die mit einem Trichter verstärkte Reichweite ihres Schalls legt den Wirkungskreis des
Segens, von Renner als «Goldener Ring» bezeichnet, und damit die Bannwirkung ihrer Magie
gegen böse Zauberkräfte fest.
Literatur:

Peter Hersche: Agrarische Religiosität. Landbevölkerung und traditioneller Katholizismus in
der voralpinen Schweiz 1945 – 1960. Baden 2013

Eduard Renner: Goldener Ring über Uri. Ein Buch vom Erleben und Denken unserer
Bergler, von Magie und Geistern und von den ersten und letzten Dingen. Altdorf 1941.
Neuauflage: Zürich 1976.

Richard Weiss: Volkskunde der Schweiz. 3. Auflage. Zürich 1984.

«Betruf in der Zentralschweiz». In: Lebendige Traditionen der Schweiz. www.lebendigetraditionen.ch.
Autorin: Erika Flückiger Strebel, 2015
© Albert Koechlin Stiftung, Luzern
www.waldstätterweg.ch
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