Österreichische Literatur im Kalten Krieg

Mitschrift zur Vorlesung
Österreichische Literatur
im Kalten Krieg
WS 2015/16
LV-Leitung: Assoz. Prof. Dr. Günther Stocker
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
Kapitel 1
Grundkonstellationen des Kalten Krieges und literaturhistorische Grundlagen
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte!
ist alltäglich geworden. Der Held
!bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,!
die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,!
wenn nichts mehr geschieht,!
wenn das Trommelfeuer verstummt,!
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
!und der Schatten ewiger Rüstung den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen!
Für die Flucht vor den Fahnen,
!für die Tapferkeit vor dem Freund,!
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung!
jeglichen Befehls.
(Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit, 1953)
Die Zeitphase des Kalten Krieges wird als „Fortsetzung des Krieges“ gefasst, wobei
die aggressive Haltung der Supermächte stark durchscheint. Es liegt eine Auflösung
der konkreten Schlachtfelder und einer „normalen Kriegssituation“ vor (Atomkrieg).
Die Spannung des Krieges wird dadurch alltäglich. Auch die Literatur bzw. die Kultur allgemein wurden stark für politische Zwecke instrumentalisiert. Es herrschte eine
Art Bekenntniszwang, auf welcher Seite man sich befand. Dabei gab es AutorInnen,
die als Proklamisten der verschiedenen Seiten agierten. Die Kunst und die Literatur
setzten sich mit Zeitungen und Radio- bzw. TV-Stationen auseinander, welche klar
polarisiert zuordenbar waren.
„Der Kalte Krieg war „ein totaler Konflikt, der alle Bereiche des öffentlichen und zunehmend auch
Privatlebens berührte. […] ein permanenter und aktiv betriebener `Nicht Frieden´[…], in dem die
Auseinandersetzung politisch-ideologisch, ökonomisch, technologisch-wissenschaftlich, kulturellsozial und militärisch geführt wurde, und seine Auswirkungen sich bis in den Alltag zeigten.“
(Bernd Stöver)
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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Der Kalte Krieg fand demnach deutlichen Eingang in Film und Literatur:
! Literatur: George Orwell (Nineteen-Eighty-Four, 1949), Graham Greene (The
Quiet American, 1955; Our Man in Havana, 1958), John le Carré (The Spy, who
Came in from the Cold, 1963; Tinker Taylor Soldier Spy, 1974 etc…) oder Giovanni Guareschi (Don Camillo und Peppone, 1948ff.)
! Kinokomödien: Stanley Kubrick (Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb, 1964); Billy Wilder (One, Two, Three, 1961); Alfred
Hitchcock (Torn Curtain, 1966; Topaz, 1969); Ian Fleming (James Bond, 1953ff.)
Der Begriff „Kalter Krieg“
Nach Herbert B. Swope (1946) wird der Begriff unter den Atomkontrollverhandlungen der USA und UdSSR, bei denen sich die ehemaligen Alliierten feindlich gegenüberstehen und die Situation einem Krieg ohne Waffen (kalt) gleicht, zusammengefasst. 1947 steht auch in einer Broschüre von Walter Lippmann der Begriff „Kalter
Krieg“ als Beschreibung für die Situation der USA mit ihren „Verbündeten“. Im Oktober 1945 verwendete scheinbar zuerst George Orwell in einem Artikel in „The Tribune“, indem er beschreibt, dass kleine Waffen der Demokratie gehören, weil sie klein
und billig seien, und so vom Volk benutzt werden können. Große und teure Waffen
gehören jedoch den Tyrannen, die sich dann damit bekämpfen. Oder auch nicht,
denn Tyrannen bzw. Supermächte treffen „geheime“, „unausgesprochene“ Vereinbarungen, diese Waffen nicht zu gebrauchen, da das die Zerstörung von jedem von
ihnen bedeuten würde. Er spricht dabei von einem „permanent state of war“, „a peace
that is no peace“.
Henry Truman hielt eine Rede darüber, dass man den Kommunismus eindämmen
müsse, damit er sich nicht weiter ausbreite („Truman-Doktrin“). Die Antwort der
UdSSR darauf war, „Es gibt das imperialistisch/antidemokratische Lager (Westliche
Mächte + USA) und das antiimperialistische/demokratische Lager (Kommunistische
Staaten). Und diese beiden sind unversöhnlich.“
Gefährliche Krisen
!
!
1948/49: Erste Berlinkrise
Einkapselung der Stadt bzw. Blockade durch die Sowjetunion
Keine Energie – und Lebensmittelversorgung
1948/49: Jugoslawienkrise
Der kommunistische Politiker (Josip Bros) Tito wollte mit seinem Land Jugoslawien einen anderen Weg einschlagen als die Sowjetunion unter Stalin (Sozialismus, der eine Selbstverwaltung der Betriebe vorsah im Gegensatz zum Hegemoniebestreben der Sowjetunion). Dies führte zum Bruch Titos mit Stalin.
1948: Jugoslawien wird aus der „Kominform“ ausgeschlossen.
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!
!
!
!
!
!
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1950/53: Koreakrieg
USA und UdSSR unterstützen jeweils Süd – und Nordkorea mit Waffen, Truppen
etc. Bis heute gibt es nur einen Waffenstillstand und keinen Friedensschluss.
1956: Ungarn-Aufstand
Gegen kommunistische Regierung, wurde von dieser jedoch blutig zerschlagen.
12./13.8.1961: Bau der Berliner Mauer
Der Mauerbau wurde zum Symbol des Kalten Krieges.
16.10.-28.10.1962: Kubakrise
Die Welt stand knapp vor dem Einsatz von Atomwaffen; die USA hatten Waffen
auf Kuba stationiert.
1965: Vietnamkrieg (US Truppen im Südvietnam)
Gilt aufgrund der indirekten Beteiligung der Supermächte (vor allem USA,
UdSSR) als Stellvertreterkrieg im Kalten Krieg.
1968: Prager Frühling
Versuch einer umfassenden friedlichen Systemreform mit dem Ziel einer Staatsund Gesellschaftsordnung, die sich vom sowjetischen Modell befreit.
Reformbewegung wurde getragen von leitenden Funktionären der KPC (Kommunistische Partei der Tschechoslowakei)
Markante Endpunkte des Kalten Krieges
!
!
1989: Fall der Berliner Mauer
1991: Auflösung der Sowjetunion
Ein entscheidendes Merkmal des Kalten Krieges ist das bipolare Denksystem, wonach
sehr stark getrennt nach „Gut“ und „Böse“ zwischen den USA und der UdSSR unterschieden wurde. In allen Bereichen war oppositionelles Denken vorhanden (z.B. in der
Kunst: abstrakt im Westen, realistisch im Osten). Der Diskurs des Kalten Krieges
beschreibt dabei eine zusammenfassende Einheit aller genannten Gedanken, Aussagen
und dem Wissen darüber, „socially shaping, but also socially shaped.“
Österreich im Spannungsfeld des Kalten Krieges
Geopolitisch stand Österreich zwischen den Fronten in der perfekten Vermittlerposition. Dies hat jedoch nichts bedeutet, weil Österreich von Grund auf westlich orientiert war. Österreich war dabei von den Alliierten der Sowjetunion, Großbritannien,
USA und Frankreich besetzt. Selbst Stalin wollte Österreich neutral behalten, um die
geplante Koexistenz der Staaten zu sichern.
Der österreichische Anti-Kommunismus ging stark von der Sozialistischen Partei aus
(starkes Medium dafür war die Arbeiterzeitung). Der Anti-Kommunismus vereinte
die beiden Lager, die sich im Februar 1934 noch gegenseitig bekriegt hatten. Dies war
besonders wichtig für die Stabilität der neuen Republik. Auch, wenn die Kommunisten und ihre Partei in Österreich nicht sehr bedeutend waren, konnte die Sowjetuni-
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
on als Besatzer nicht ignoriert werden. Es gab eine ständige Bedrohung eines Putschs
durch die Sowjetunion.
Der Staatsvertrag kam lange nicht. Am 27. April 1945 (noch vor Ende des 2. Weltkrieges am 8. Mai 1945) wurde bereits eine Unabhängigkeitserklärung Österreich proklamiert. Karl Renner wurde von Stalin beauftragt, eine Regierung zu bilden. Am 29.
April 1945 trat die provisorische österreichische Staatsregierung erstmals zusammen.
Die politische Unabhängigkeit kam jedoch erst am 15. Mai 1955 mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages. Aufgrund der Besatzungsmächte war es in dieser Zeit allgemein sehr schwer, eine „nationale“ Identität als ÖsterreicherIn zu entwickeln. Ab
1948 kam zusätzlich hinzu, dass die Entnazifizierung nicht weiter ausgeführt wurde,
was für zusätzliche Spannungen sorgte.
„Re-Orientation“ des österreichischen Volkes
Eine sogenannte „Re-Orientation“ wurde durch Kultur, Literatur usw. geschaffen. Die
Überlegenheit der westlichen Unterhaltungskultur wurde propagiert und die USA
fassten auch das ökonomische Ziel des europäischen Marktes ins Auge („CocaKolonialismus“). Ein Beispiel dafür ist die Sendung „Radiofamilie Floriani“, die über
den von den Amerikanern kontrollierten Radiosender „Rot-Weiß-Rot“ ausgestrahlt
wurde. Ingeborg Bachmann fungierte dabei auch als Drehbuchautorin. Die Sendung
gilt als politisch, erziehend und prägend. Zudem gab es den sogenannten „MarshallPlan“, wobei die USA Geld in die vom Krieg zerstörten Länder (auch, um sich am
Markt zu etablieren) pumpten. Im Gegenzug dazu exportierte die Sowjetunion sehr
viel an Ressourcen und Waffengütern aus ihren besetzten Gebieten. Die Menschen
unterschieden so zwischen „Feind“ und „Freund“.
Politische Medien und Institutionen des Kulturbetriebes
SOWJETUNION
USA
!
„Österreichische Zeitung“
!
„Wiener Kurier“
!
„Russische Stunde“ (RAVAG)
!
Radio „Rot-Weiß-Rot“
!
„(Österreichisches) Tagebuch“
!
FORVM
!
Volksstimme
!
Amerika-Häuser
!
Globus-Verlag
!
Congress for Cultural Freedom
!
Neues Theater in der Scala
!
Kosmos-Theater
Autoren wie Hans Weigel setzten sich stark für junge AutorInnen ein und förderten
sie, „damit sie nicht ins kommunistische Lager wechseln, weil es dort Geld gibt.“
(„Abwehr der kommunistischen Taktik“)
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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Das Fehlen politischer Themen und eine programmatische Abwendung von der Zeitgeschichte werden bis heute als Charakteristika der österreichischen Literatur zwischen 1945 und den sechziger Jahren betrachtet. Die Literaturwissenschaft geht von
einer „Polarisierung“ der Literatur in eine moderne, sprachexperimentelle Linie einerseits und eine formal konservative Linie andererseits aus. Diese These bestimmt den
Blick zurück und hat zur Folge, dass zahlreiche Romane, Erzählungen etc., die nicht
in dieses Schema passen, von der Germanistik unbeachtet geblieben sind, denn es gab
in der Nachkriegsliteratur sehr wohl eine Auseinandersetzung mit politischen Themen, zumeist freilich an den Rändern des literarischen Geschehens, abseits der dominierenden Strömungen, in wenig renommierten Genres oder bei Autorinnen und Autoren, die nie in den Kanon der österreichischen Literatur Eingang gefunden haben.
Das Projekt rund um die Vorlesung stammt aus der Forschung nach der Methode des
New Historicism, welcher das Verhältnis von Text und Kontext in neuer Art und
Weise denkt. Es geht vielmehr um den wechselseitigen Austauschprozess von Text
und Kontext, von literarischen und nichtliterarischen Texten. Literarische Texte
werden als Brennpunkte konvergierender Kraftlinien (Stephen Greenblatt) bezeichnet
und stellen Kraftfelder und Orte des Meinungsstreits dar.
Literatur nach 1945
Die Idee der Polarisierung hat den Blick strukturiert, indem man nur nach diesen
beiden Tendenzen gesucht hat. Texte, die nicht in dieses Schema passten, wurden
nicht beachtet. Es herrschte eine Dominanz konservativer AutorInnen und Schreibweisen.
Die Literatur, die sich mit politischen, zeitgeschichtlichen Themen beschäftigt, wurde
vermieden bzw. nicht beachtet. Die These von der Abwendung von zeitgeschichtlichen Themen hat auch eine gewisse Berechtigung, da die dominierenden AutorInnen
der Nachkriegszeit kein Interesse an der Verarbeitung der eigenen nationalsozialistischen/austrofaschistischen Geschichte bestand.
Man schrieb eher über allgemein Menschliches. Diese Form der Literatur, die sich
von der Zeitgeschichte entfernt hat, gab es auch in Deutschland, wurde dort aber
nicht vorherrschend. In Österreich versuchte man, sich rückwendend ein ÖsterreichKonzept zusammenzubauen. Spezifische dafür war eine Einsetzung von AutorInnen,
die Unterstützer des Austrofaschismus waren, später jedoch auch in KZ waren. Diese
haben ein bestimmtes Bild von Österreich der 30er Jahre bestimmt.
Die Zeit des Nationalsozialismus galt lediglich als kurze Unterbrechung der österreichischen Kontinuität. Dies hängt auch mit der These des „Ersten Opfers“ nach der
Moskauer Deklaration zusammen. Wichtige Vertreter der Nachkriegskultur und Literatur kamen also aus den Reihen der AustrofaschistInnen. Viele Vertreter auch der
jungen SchriftstellerInnengeneration wendete sich ebenfalls von der Zeitgeschichte ab
und gehörten ebenfalls dem Trend der Rückheitsgewandtheit an.
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„Die jungen österreichischen Schriftsteller jedenfalls spüren, dass sie, wenn sie Dichter sein sollen,
österreichische Dichter sein müssen [...] wurzelnd im Muttergrund der nationalen Literatur. Sie finden das Österreichische aber nicht mehr in der Umwelt, sondern in der Vergangenheit, und sie
nähren sich nicht aus jener, sondern aus dieser. Nichts haben sie mit dem Optimismus der Gegenwart gemein, sehr viel aber mit der Geistesverfassung ihrer Großväter und ihrer Urahnen.“
(Eisenreich 1962, 124)
Gerhard Fritsch der jungen Generation hat 1967 zu einem Aufsatz zur österreichischen Literatur festgehalten, dass die österreichische Literatur keinen Borchert und
keine Gruppe 47 hervorgebracht. Dies trifft in der Tendenz zu, übersieht aber die
vielen Ausnahmen. Die zweite Tendenz, die Avantgarde-Literatur, hat sich auch explizit nicht mit Zeitgeschichte auseinandergesetzt. Vielmehr ging es um Sprachreflexion, Sprachexperimente usw. Es wurde nicht explizit auf der politischen Ebene Gesellschaftskritik geübt. Zahlreiche Texte, die nicht in das Schema der Hegemonialliteratur passten, wurden vernachlässigt. Die Auseinandersetzung mit politischen Themen fand an den Rändern bzw. in weniger renommierten Genres statt, die im Kanon
nur schwer Eingang fand.
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Kapitel 2
Agententhriller aus Österreich: Gefährliches Terrain
Die bekanntesten Bilder aus dem Wien der Nachkriegszeit stammen aus dem britischen Film „Der Dritten Mann“ aus dem Jahr 1949. Dieser Film fängt die Atmosphäre einer emblematischen zerstörten Großstadt nach dem zweiten Weltkrieg ein. Er
gewann in Cannes die goldene Palme und zählt heute als einer bekanntesten Nachkriegsfilme. Anton Karas komponierte die Filmmusik, welche ebenfalls sehr berühmt
ist. Die weitgehend unbekannten Autoren Milo Dor und Reinhard Federmann haben
als Reaktion auf den Film „Der Dritte Mann“ in relativ kurzer Zeit gemeinsam zwei
Thriller geschrieben, die in der österreichischen Besatzungszeit in Wien angesiedelt
sind. Die Romane der beiden Autoren wurden unmittelbar nach dem Krieg nicht beachtet. Federmann hat einen beeindruckenden Heimkehrer-Roman geschrieben, welcher nur als Fortsetzungsroman in einer Zeitung erschienen ist. Erst seine Tochter
brachte einige seiner Bücher später heraus. Die beiden Autoren waren verzweifelt, da
ihre ambitionierten Projekte keine Anerkennung fanden. „Der Dritte Mann“ kam in
Wien im März 1950 in die Kinos, welcher von den Kritikern gelobt wurde. Dor und
Federmann ging es jedoch nicht um die Bilder einer zerstörten Nachkriegsstadt.
Vielmehr nahmen sie die prägenden Erfahrungen der Nachkriegsjahre als historische
Traumata in ihren Romanen auf. Ihrer Inspirationsquelle „Der Dritte Mann“ erwiesen
die beiden ironische Referenzen (Der Barbesitzer, der den „Dritten Mann“ mehrmals
gesehen habe; Autogrammkarten von Orson Welles aufgestellt).
Die beiden Thriller lehnen sich an die Hard-boiled-Literatur aus Amerika an. Diese
Literatur war im deutschsprachigen Raum nach dem Krieg weitgehend unbekannt
und galt als nicht vertretbar, als jugendgefährdende Literatur und Schund. Als Vorbilder dieser Literatur gelten Raymod Chandler und Dashiell Hammett. Dor und Federmann waren die ersten, die dieses Genre in die deutschsprachige Literatur einführten. Harte Kerle als Protagonisten, welche frauenverachtendes Vokabular benutzen,
zwielichtige Bars und harte Getränke gehören zu dieser Gattung der Literatur. Das
interessante an diesen Politthrillern ist jedoch, dass sie sich mit zeitgeschichtlichen
Themen auseinandersetzen in einer Schärfe, die in anderen Genres so nicht möglich
war.
Alex Lutin als Sensationsjournalist und Alkoholiker berichtet als Protagonist nachträglich erzählt von dem, was er erlebt hat. Im Roman „Internationale Zone“ gibt es
hingegen keine Hauptfigur, vielmehr ist es ein ganzes Figurenensemble, um welches
sich der Roman dreht. Die beiden Autoren machen eine Reihe von Anspielungen an
die zeitgenössische literarische Debatte und an AutorInnen, z.B. ist eine Figur aus
„Internationale Zone“ ganz stark an Paul Celan angelehnt. Der Besitzer der zwielichtigen Bar hat den Namen Teddy Basil (Otto Basil war ein Herausgeber). Die Figur
Armin Koestler, ein Techniker und Frauenheld, spielt auf Arthur Koestler an, der
sich in seiner Literatur intensiv mit dem Stalinismus auseinandergesetzt hat. Die sow-
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jetischen Agenten sind mit den Namen von Autoren versehen, welche nach Hierarchien geordnet sind (Alexander Puschkin, Konstantin Simonow, Kornejtschuk).
Internationale Zone
Ein sowjetischer Schmuggler als Protagonist entführt Menschen aus den westlichen
Besatzungszone und gibt sie an die Sowjets. Dabei handelt es sich um Doppelagenten,
Überläufer oder „interessant erscheinende“ Menschen. Sie landen in de Gulags (sowjetischen Zwangsarbeitslagern) oder werden hingerichtet. Real existierende Gulags
werden im Roman erwähnt. Der Roman bricht dabei immer wieder in die Gewaltabgründe des Stalinismus ein, indem auf Recherchen aus der Arbeiterzeitung und andere Zeitungsberichterstattung zurückgegriffen wird. Es ist heute schwer feststellbar,
inwieweit diese einzelnen Fallgeschichten zur Propagandaberichterstattung der Nachkriegszeit zählen. Auch persönliche Erfahrungen der Autoren von Schwarzmarkt und
Zigarettenschmuggel fließen in die literarische Arbeit ein. Federmann erzählt beispielsweise, dass er für den französischen Geheimdienst arbeitete. Seine Kontaktperson aus dieser Zeit, Monsieur Simon, wird im Roman in der Figur Monsieur Charles
verarbeitet.
Und einer folgt dem anderen
Der Roman erschien im Nest-Verlag. Inhaltlich geht es um eine Anleitung für eine
Raketenzielforschung und thematisiert eine ganze Reihe von Verfolgungsjagden. Dabei geht es um ein geheimes Dokument. Die Pointe des Romans folgt am Schluss: das
Dokument ist nur eine Fälschung bzw. ein Täuschungsmanöver. Am Ausgangspunkt
der Verfolgungsjagd durch das besetzte Österreich ist ein Sexualverbrechen „Lustmord“, was die enge Verwobenheit des Textes mit tatsächlichen zeitgenössischen Mediendiskursen zeigt. Dabei wurde nicht aufgeklärt, ob das ganze einen geheimdienstlichen Spionagehintergrund hat. Dieser später sogenannte „Badewannenmord“ an der
Wiener Fabrikantin Blanche Mandler wurde zur Grundlage des Romans. Der Roman
versucht, die politischen Geheimnisse aus realen Fällen, welche nicht aufgedeckt werden konnten, auszufantasieren. Im Mittelpunkt steht dabei der Sensationsjournalist
Alex Lutin (dessen Name entstammt Wortteilen von Milo Dor, welcher den Namen
auch als Pseudonym verwendete. Erzählt wird aus Ich-Perspektive eines NSÜberlebenden, was einen Gegensatz zu „Internationale Zone darstellt“. Der Roman
spiegelt einen wichtigen Aspekt des Kalten Krieges wieder, in der die Verselbstständigung der geheimdienstlichen Tätigkeit eine Welt für sich geworden ist, fern der politischen Realität.
Die Thriller von Reinhard Federmann und Milo Dor nehmen aber auch das zeitgenössische politische Bild der österreichischen Besatzungszeit auf. Österreich erscheint
in beiden Romanen als unsicheres Terrain. Das Überschreiten der Zonen wird zu einem brisanten Akt, was sich auch mit ZeitzeugInnenberichten gerade aus den ersten
Nachkriegsjahren deckt. Gerade das Überschreiten der russischen Grenze galt als be-
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sonders prekär. Die staatliche Ordnung sowie die rechtliche Stabilität waren äußerst
labil. Aufgrund der Zonengrenzen und der noch nicht durchgesetzten staatlichen
Ordnung wucherten illegale Geschäfte wie der Schwarzmarkt und der Schleichhandel.
Österreich war dabei keinesfalls selbstständig, die österreichische Polizei hatte demnach keine Befugnis, die Alliierten zu kontrollieren. „Internationale Zone“ beispielsweise zeigt Agenten und Schieber aller Länder herum und stellt Österreich als Drehscheibe dieser Geschäfte dar.
„Wien ist ein offenes Tor. Das letzte offene Tor zwischen Ost und West. Weißt du, warum es hier
so ruhig ist? Weil sie [die Besatzungsmächte; G. St.] hier verdienen. Zigaretten ... das ist nur ein
winziger Bruchteil. Öl, Eisen, Stahl, Textilien. Alles, was dein Herz begehrt. Schnaps und Medikamente. Devisen machen sie hier, für ihre Panzer und für ihre Kanonen. [...] Und in Zürich und Basel und Genf liegen die Ergebnisse dieser Abenteuer schön geschlichtet. [...] Das Geld liegt sicher
am Züricher See. Verdient wird es hier. Das kostet manchmal Blut, du hast recht. Aber er es rentiert sich.“
(Dor/Federmann, Internationale Zone)
Eva Horn spricht die „epistemologische Luzidität“ der Agententhriller an, indem der
Krieg der Geheimdienste in den Texten zum Thema wird.
„Fiktionen sind […] die luzideste Möglichkeit, in der Moderne über das politische Geheimnis zu
sprechen. Gerade weil Fiktion den Anspruch von Historikern oder Journalisten aufgibt, die eine
historische Wahrheit über ein Ereignis vortragen zu können, ist sie besser als alle anderen Diskursformen geeignet, von Geheimnissen zu sprechen, ihre Form zu erläutern –ohne diese Geheimnisse
endgültig lüften zu können und zu wollen.“
(Eva Horn, Der geheime Krieg: Verrat, Spionage und moderne Fiktion, 2007.)
Österreich wird als Boden internationaler Geheimdienstaktivitäten beschrieben. Zwischen 1945 und 1955 wurden mehr als 2200 Österreicherinnen und Österreicher von
den Sowjets verhaftet und etwa 1000 von ihnen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die sie in der UdSSR verbüßen mussten. Mindestens 176 ÖsterreicherInnen
wurden zwischen 1945 und 1953 zur Todesstrafe verurteilt und in Moskau hingerichtet. Die Verschleppungen und Verurteilungen wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht verschleiert. Diese verschwanden in den letzten Jahrzehnten zudem aus
dem öffentlichen Bewusstsein. So brutal diese Verschleppungen und Verurteilungen
waren, gibt es da und dort auch Fälle, wo tatsächliche (Nazi-) Verbrecher verhaftet
und verurteilt wurden, wobei die Mehrheit der Fälle zweifellos Unschuldige betraft.
In der Arbeiterzeitung vom 26. November 1948 erschien ein Artikel über einen angeblichen Menschraub durch die Sowjets auf der Schwedenbrücke. Dabei soll ein Österreicher zum Opfer geworden sein, der jedoch entkommen konnte. Dramatische Szenen
werden im Artikel geschildert. In der österreichischen Nachkriegsliteratur wurde diese
Thematik zweimal verarbeitet. Karl Bedarnik in „Omega Fleischwolf“ (1954), sowie
Dor/Federmann thematisieren die Verschleppung in „Und einer folgt dem anderen“.
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Den prominenteste Fall einer Verschleppung stellen die „Anschuldigungen gegen Frau
Dr. Ottillinger“ dar. Hierbei geht es um Margarete Ottillinger, einer österreichische
Beamtin, welche viel mit der Verwaltung des Marshall-Plans und der USIA-Betriebe
zu tun hatte. Sie wurde am 5. November 1948 in Linz zwischen der sowjetischen und
der amerikanischen Zone von der sowjetischen Behörde verhaftet und zu 25 Jahre
Zwangsarbeit verurteilt. Mit Abschluss des Staatsvertrages konnte sie jedoch 1955
nach Österreich zurückkehren. Angeklagt wurde sie wegen Spionage und Verrat. Die
tatsächlichen politischen Hintergründe sind bis heute nicht geklärt. Angeblich wurde
sie jedoch denunziert. Situationen wie diese prägten die Thriller zu dieser Zeit. Die
Verhaftungsszene findet sich auch in „Internationale Zone“ wieder. Die große Angst
vor einer Verschleppung in Zwangslager fand besonders in Greenes „The Third Man“,
aber auch in „Und einer folgt dem anderen“ Einzug. Der „Bad Guy“ bei Greene als
Brite ist jedoch kein Nazi, sondern ein Amerikaner. Am Ende des Filmes verrät Holly
Martins seinen Freund Harry Lime nur deswegen, damit Anna nicht von den Sowjets
verschleppt wird. Bei Dor/Federmann findet sich diese Angst ebenfalls. Die traumatischen Erfahrungen des Kalten Krieges sind stark in die Romane eingebunden.
Die Arbeiterzeitung stellte stellt irgendwann eine explizit politische Theorie auf, die
alle Morde als Spionage – oder Schwarzhandelmorde deklarierte. Eine „exterritoriale
Unterwelt“ wurde angeblich gebildet, zu der die österreichischen Behörden keinen
Zugang haben, da sie hauptsächlich durch die Besatzungsmächte genährt werden.
Verbindung zu den „stockenden“ Staatsvertragsverhandlungen (Unterzeichnung erfolgte erst am 15. Mai 1955) kann hergestellt werden. Das rechtslose Elend wird so
lange dauern, bis er unterschrieben wird. Erinnerung an die Besatzungszeit wurden
rasch entsorgt. Dies gilt auch für die Romane von Dor/Federmann.
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Kapitel 3
Der „Eiserne Vorhang“ und die „Reisen ins Rote“. Bilder der Grenze, fiktive Reisen und
das Konzept der Augenzeugenschaft
Der Begriff des Eisernen Vorhangs kommt eigentlich aus dem Theater und bezeichnet
eine Schutzvorrichtung aus Brandschutzgründen. Er teilt das Bühnenhaus als Brandabschnitt vom Zuschauerraum und gewährleistet eine sichere Flucht der Zuschauer.
Eine bestimmte Vorstellung der Menschen ab dem Zweiten Weltkrieg hat eine grundlegende Asymmetrie in sich. Man ist nicht auf der einen oder anderen Seite, sondern
entweder davor oder dahinter. Die westlichen Länder werden als „davor“ betrachtet,
die kommunistischen Länder als „dahinter“. Diese Metapher wird meist nur im Westen verwendet im Sinne von „Das Hintere ist eingesperrt, das Vordere ist frei“.
Verwendet wurde der Begriff schon bei H. G. Welles. Winston Churchill sprach ebenfalls vom Eiserneren Vorhang in der bekannt gewordenen „Fulton Speech“ von 1946.
“From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic, an iron curtain has descended across the
Continent. Behind that line lie all the capitals of the ancient states of Central and Eastern Europe. Warsaw, Berlin, Prague, Vienna, Budapest, Belgrade, Bucharest and Sofia, all these famous cities and the populations around them lie in what I must call the Soviet sphere, and all are subject
in one form or another, not only to Soviet influence but to a very high and, in many cases, increasing measure of control from Moscow.“
(Winston Churchill am 5.3.1946, Univ. Fulton, Miss., USA)
Der „Eiserne Vorhang“ war nicht nur eine Metapher, sondern politisch-territoriale
Realität: Stacheldraht, Wachtürme, Minenfelder, Schießbefehl. Die Grenze war auch
eine physisch konkrete und gefährliche Grenze, die sich weit über Europa hindurch
zog. Ab 1961 wurde auch die „Berliner Mauer“ Teil davon. Der Eiserne Vorhang wurde zum politischen Requisit des Kalten Krieges und zeichnete das Bild eines getrennten Europas. Erst 1989 ist der Eiserne Vorhang gefallen und die Teilung Europas
wurde durch das Zerschneiden des Stacheldrahtes und den Fall der „Berliner Mauer“
aufgehoben.
Das Bild der Grenze fand sich auch in der österreichischen Literatur. Da Österreich
auch mit einem Teil seiner Grenze am Eisernen Vorhang gelegen ist (750 km: von
Oberösterreich, Niederösterreich bis ins Burgenland), hatte der Eiserne Vorhang einen prägenden Einfluss auf die Literatur. Dies wurde auf verschiedenste Weise thematisiert. Die Protagonisten haben es nicht selten geschafft, den Vorhang zu durchbrechen. Staatsgrenzen wirkten als „Selektionsgrenzen“, was eine Diskussion über legale und illegale Grenzgänge auslöste. Die Grenzbilder waren jedoch umstritten. In
der Zeitschrift „Österreichisches Tagebuch“ wurden 1946 die Gerüchte über den Eisernen Vorhang als unwahr und unmöglich deklariert. Es entstand ein Kampf der
Grenzbilder.
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Der Stalinist
In Joseph Wechsbergs „Der Stalinist“ (1970) erzählt der Ich-Erzähler Jacques Willert
die Geschichte des linientreuen Stalinisten Bruno Stern. Es geht um eine Friedensbewegung der kommunistischen Staaten, welche sich als Farce herausstellte. Die Wachtürme waren lediglich mit Friedensplakaten verdeckt, was sich als Camouflage herausstellte. Es wird ein emblematisches Bild des Wachturms gezeichnet. Der Protagonist ist indigniert, als die Leute beim überqueren der Grenze in Jubel ausbrechen. Dis
führt zu einer ideologischen Debatte über die Durchlässigkeit der Grenze.
„Der Zug fuhr langsamer. Im hellen Mondlicht konnte ich neben den Geleisen einen hölzernen
Wachturm sehen, auf dem Maschinengewehre und Suchscheinwerfer montiert waren, und weiter
hinten einen gepflügten Ackerstreifen, der mit Minen gespickt war, wie ich von Flüchtlingen gehört hatte. Als wir an einem Wachturm vorbeifuhren, sprang ein Soldat mit einer Maschinenpistole auf den letzten Wagen […] Auf der anderen Seite des Bahndamms stand noch ein Wachturm
[sic!], fast bis zur Gänze durch ein großes Willkommensschild verdeckt, das eine Friedenstaube
trug.“
(Joseph Wechsberg, Der Stalinist)
Auch bei Friedrich Torberg in der Zeitschrift „Forvm“ wird die Durchlässigkeit der
Grenze thematisiert. Er gibt damit eine Art Antwort auf eine Aussage von Jean-Paul
Sartre, welcher beschrieb, dass es richtig einfach sei‚ auf die andere Seite zu kommen.
Friedrich Torberg kritisiert Sartre, weil er wusste, dass man nicht so leicht auf die
andere Seite kann (Sartre war Mitglied der Kommunistischen Partei). Laut Torberg
schloss die Grenze aus, sie bedeutete Selektion.
In der Arbeiterzeitung vom 14. Dezember 1952 wurde der Eiserne Vorhang als „mörderische Grenze“ dargestellt. Eine Reportage mit Fotos über verschiedene Teile der
Grenze zeichnete die kommunistischen Staaten als „Mordapparate“. Das Bild der
„Mordgrenze“ findet sich auch in Paul Anton Kellers Roman „Gefährliche Grenze“, wo
ein ähnliches rhetorisches Verfahren angewandt wurde.
In Paul Anton Kellers Jugendroman „Gefährliche Grenze“ (1956) geht es um zwei
Jungen namens Richard Dobay (Dick) und Maximilian Doby (Mac). Diese machen
sich, gemeinsam mit ihrem Hund Blondy, von der Steiermark aus auf den Weg in das
ungarische Unter-Zemming zu ihrem Großvater. Auf ihrem Weg über die Steiermark
und das Südburgenland nach Unter-Zemming stoßen sie auf ein unüberwindbares
Hindernis. Sie treffen einen Briefträger, der ihnen erklärt, dass hier die Welt enden
würde, da an dieser Stelle der Eiserne Vorhang verlaufe: „Unter-Zemming liegt in
einer anderen Welt.“ Dick und Mac treffen dabei auf „Zigeuner“, die ihnen helfen, die
Schwächen der Grenze auszunutzen und hinüberzukommen. Gemeinsam mit ihrem
Großvater kehren die beiden wieder zurück.
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„Auf die kindlich-naive Frage von Dick, ob sich der „Vorhang“ denn nicht aufheben lasse, reagiert
der Briefträger amüsiert: „Du glaubt wohl, es ist ein Vorhang aus Mollino oder Hausleinen oder
sonst was, gelt? Nein, mein Lieber, dieser Vorhang ist aus Stacheldraht, und hinter dem Stacheldraht liegen die Teufelseier in der Erde, und er ist elendlang und geht mitten durch uns alle.“
(Paul Anton Keller, Gefährliche Grenze, S. 157)
Die Metapher des Martialischen und Waffenstarrenden, die dem „Eisernen Vorhangs“
innewohnt, wird in Kellers Text besonders deutlich. Der dickmaschige Stacheldraht
und die Minen („Teufelseier“) machen ihn undurchdringlich. Es treffen zwei verschiedene Welten (physisch wahrnehmbar, aber auch Trennung von zwei Gesellschaftssystemen) aufeinander, welche durch die Grenze unterteilt werden. Dabei entsteht eine
bipolare Struktur, die auch den Kalten Krieg kennzeichnet. Paul Anton Keller war
überzeugter Nazi, was ihn aber in seiner Nachkriegslaufbahn keineswegs am normalen
Weiterleben und Weiterschaffen hinderte.
Durchlässigkeit der Grenze
In Johannes Mario Simmels „Lieb Vaterland magst ruhig sein“ (1965) wird ebenfalls
das Motiv der Durchlässigkeit der Grenze thematisiert.
„Quer durch die Riesenstadt läuft die Mauer, mit Stacheldrahtverhauen, Wachtürmen, Betonsperren, Stahlbarrieren, Sichtblenden, Scheinwerfern und Stolperdrähten. Tja, aber manchmal ist gerade eine Häuserfront die Grenze des Demokratischen Sektors, oder sie läuft durch die Spree oder
den Wannsee. Im Wasser kann man keine Mauer bauen. Da patrouillieren Tag und Nacht Motorboote der Volksarmee […] Heute sind 50 Hauseingänge, 67 Läden und 1235 Fenster vermauert –
auf einer Strecke von 750 Metern. […] An der Ostseite [der Hasenauerstraße; d. Verf.] verbindet
die richtige Mauer zwei vermauerte, leere Häuser. Auch auf den Dächern dieser Gespensterhäuser
hat man Drahtsignalsperren und Stolperdrähte angebracht. Damit keiner, juppheidi, juppheida,
vom Dach eines fünf- oder sechsstöckigen Gebäudes springt.“
(Johannes Mario Simmel, Lieb Vaterland magst ruhig sein)
Viele AutorInnen hatten Probleme, die Grenze literarisch in Worte zu fassen. Simmel
findet in seinem Roman kein adäquates Mittel, um die Berliner Mauer darzustellen.
Er geht dann jenen Weg, alles in der trockenen Realität eines Bauingenieurs zu beschreiben, indem er die Fakten und bautechnischen Infos über die Mauer aufzählt.
Der Osten sprach über die Berliner Mauer von einem „Anti-faschistischem Schutzwall“, der Westen hingegen von einer „Schandmauer“ (vgl. Rede von J.F. Kennedy
1962). Die Berliner Mauer galt als emblematischer Ort. Im Roman von J. M. Simmel
„Lieb Vaterland magst ruhig sein“ steht die Teilung durch die Mauer im symbolischen Zentrum des Romans. Das Bild der Grenze wird auf groteske Weise zugespitzt,
indem Bruno Knolls geteiltes Familiengrab im Roman („Mutter im Osten, Vater im
Westen“) geschildert wird. Dabei geht es um eine sehr prägnante Symbolik. Die Teilung von Familien war Realität, genau wie die Teilung der Familie nach dem Tod.
Das Thema, was sich denn genau „da drüben“ befind. e, brachte eine enorme literari-
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
15
sche Produktion mit sich, da die Reisemöglichkeiten in beide Richtungen stark eingeschränkt waren und die Neugier darüber in der Literatur verarbeitet wurde.
Das Land hinter der Grenze
Der Text „Gefährliche Grenze“ von Paul Anton Keller entwirft ein Bild des Landes
hinter dem Eisernen Vorhang. Es wird deutlich, was von den Russen, den Soldaten,
zu halten ist. Als Jugendbuch versucht es, den Kommunismus „leicht“ zu erklären.
Der Großvater lebt in Angst auf der anderen Seite, wird jedoch am Ende von seinen
Enkelkindern „befreit“, die den Eisernen Vorhang überwinden. Das Menschenleben an
sich zählt nicht mehr und die Kinder werden Augenzeugen von dieser „Tatsache“. Der
Jugendroman stellt eine Art „Gegenbuch“ zu Leo Katz’ „Die Grenzbuben“ (1951) dar.
„Ungarn ist Volksrepublik, habt ihr davon gehört? [...] Die neuen Herren in Pest [...] haben mir
nehmen alles. Aber nicht nur mir allein, – viel Tausende sind dabei, denen haben sie genommen
alles und nicht wenige fortgeschickt in Fabrik, in Bergwerk, vielleicht nach Sibirien –’ [...] Bei
Volksdemokratie kommen Gute und Schlechte in eine Häfen und wird Suppe gekocht. Da ist dann
alles gleich, weil alles krepiert. Das könnt ihr nicht verstehen, braucht nicht. Die fragen nicht um
einen oder zehne. Und ich bin alt, – wer braucht alten Mann in Sklaverei? Gehört weg!’ [...]‚Ah’,
sagte Großvater, ‚vorgestern sind sie dagewesen: Wo ist Mehl, Fleisch, wo ist Ablieferungsmais?
Immer, immer wieder kommen, seit Wochen schon. Nehmen Ochs, Kuh, Kalb, nehmen Haus. Alles
gehört den andern, allen nämlich – weißt du, Maxi, mir auch’, er lachte gallig, ‚mir gehört auch
von den andern alles, darum hab ich so viel, siehst du!’ Mit ruhelosen Fingern zog er das Bündel
auseinander und zeigte auf den Inhalt: eine Uhr, Papiere, ein Hemd. ‚Seht ihr, das ist alles, was
bleibt dem einzelnen, wenn alle glücklich gemacht werden.“
(aus: Paul Anton Keller: Gefährliche Grenze)
„‚Meine lieben Freunde, ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Diese Sache fiel mir gestern
abend ein. Ständig kommen nämlich Kinder aus meiner Klasse zu mir, die gern wissen möchten,
wie es unseren Freunden in Ungarn geht. Ich kann nicht jedem soviel erzählen. Und da fiel mir
ein, daß es gut wäre, die von den Kindern erhaltenen Briefe abzuschreiben, viele Kopien anzufertigen und sie den Kindern hier zu geben. Auf diese Weise werden alle Kinder in Baumersdorf erfahren, wie dort die Kinder leben, was für die Kinder in Ungarn geschieht und was für schöne Ferien
unsere Freunde dort gemeinsam mit vielen hunderten anderer Kinder haben.’“ [...] „Ihr sollt zu
Hause, in der Schule, auf der Straße und vor allem euern Eltern nichts anderes erzählen [...] als
das, was ihr hier wirklich gesehen, was ihr hier getan und was ihr hier erlebt habt. Das und nichts
anderes verlangen wir von euch.“
(Leo Katz, Die Grenzbuben 1951)
In „Die Grenzbuben“ von Leo Katz wollen ein paar Kinder, was mit einem ihrer
Freunde passiert ist, da er plötzlich verschwunden ist. Ein Hund (als „verbindendes
Element“) wird geschickt, um über der Grenze eine Botschaft ihres Freundes Ernstl
zu holen. Der Plan funktioniert, die Botschaft wird jedoch zerstört. Somit müssen die
Kinder selbst hinüber. Der Roman gilt als eine Art literarische Auftragsarbeit (Ideologie und Idee waren von einem DDR-Verlag aus Ost-Berlin vorgegeben). Das Thema
wurde von DDR-Buchverlag vorgeschlagen. Ungarn wird darin als herrliches, kinder-
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
16
freundliches Land beschrieben. Die sogenannten Grenzbuben zweifeln immer noch an
der Ernsthaftigkeit der ganzen Situation, bevor sie ihren Freund Ernstl wiedersehen.
Ihm geht es bei der ungarischen Jugendorganisation viel besser als damals im Waisenhaus in Österreich und so entschließt er sich, in Ungarn zu bleiben.
„Ihr sollt zu Hause, in der Schule, auf der Straße und vor allem euern Eltern nichts anderes erzählen […] als das, was ihr hier wirklich gesehen, was ihr hier getan und was ihr hier erlebt habt. Das
und nichts anderes verlangen wir von euch.“
(Leo Katz, Die Grenzbuben)
Die Grenzbuben zweifeln jedoch an den überaus positiven Erzählungen über Ungarn.
Benutzt wird die Rhetorik der Augenzeugenschaft. Eine Reihe von Broschüren zur
Zeit der Sowjetunion verwenden dieses Stilmittel und auch Leo Katz macht in „Die
Grenzbuben“ gebrauch davon. Dies spiegelt das Propagandaprogramm der 1950er, die
Augenzeugenschaft, wider. Als zentrales Propagandaverfahren wurden geführte Reisen unter strengen Voraussetzungen eingesetzt. Diese waren von Selektionen, wer
mitreisen durfte, bestimmt. Daraufhin wurden Augenzeugenberichte zu den Reisen
verfasst.
„Ich bin parteilos und wollte schon lange wissen, wie es wirklich in der Sowjetunion ausschaut,
weil man bei uns so viel Schlechtes erzählt.“
„Wir haben die sowjetische Wirklichkeit kennengelernt und uns dabei überzeugt, wie dumm die
von verächtlichen Verleumdern verbreiteten Propagandamärchen über die Sowjetunion eigentlich
sind.“
„Ja, Kollegen, ich habe einen Blick in den Sozialismus getan und habe gesehen, welch ungeheure
Kraft in den Menschen liegt und welche Werte sie zu erzeugen vermögen, und welcher Segen eine
wirklich friedliebende und zielbewußte Führung sein kann. Und das will ich immer und überall
verbreiten.“
Die Augenzeugenberichte sollten als Propagandamittel die Neugier der Menschen
über das, was „hinter dem Vorhang“ passiert, stillen. Die Berichte waren überaus positiv. Eine wichtige Position war dabei die Frage bezüglich der Authentizität. Augenzeugen wurden zu wichtigen Instrumenten, um Authentizität herzustellen. Dies geschah jedoch sehr stark gesteuert, da die Reiserouten vorher festgelegt wurden. Der
Narrativ der Augenzeugenschaft geht auf berühmte Referenztexte von André Gide
(„Retour de l’U.R.S.S.“) über den Beginn der Stalinistischen Schauprozesse und Lion
Feuchtwanger („Moskau 1937“) zurück und führten zu Debatten über die „Wahrheit“
über die UdSSR, das jedoch schon früher thematisiert wurde u.a. in „Die russische
Frage“ von Simonow, das ebenfalls von einer Reise in die UdSSR handelt.
Ein ebenfalls berühmtes Stück ist die „Fahrt ins Rote“ von Carl Merz und Helmut
Qualtinger. Das Mittelstück aus dem Kabarettprogramm „Blattl vorm Mund“ behandelt die Rhetorik der Augenzeugenschaft und thematisiert die tatsächlichen Verhältnisse in der „Volksrepublik Demokarpathien“. Gleichzeitig stellt es einen Versuch dar,
aufzuzeigen, wie die Selbstdarstellung der totalitären Systeme zu dieser Zeit wahrge-
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
17
nommen wurde. „Eine Fahrt ins Rote ist nicht wie eine Fahrt ins Blaue“. Der Hauptteil des Stückes ist in drei Abschnitte gegliedert, wobei die dritte Szene den Kreis zur
ersten Szene schließt. Die Struktur beinhaltet Elemente der Doppelconferénce. Es
gibt zwei prototypische Figuren: „der Unvoreingenommene“ (neutrale Einstellung zur
UdSSR) und „der Skeptiker“ (Flüchtling aus „Demokarpathien“). Der Unvoreingenommene reist im zweiten Teil des Stücks trotz Warnungen des Skeptikers „ins Rote“, er hat jedoch keine gültigen Reisepapiere und wird ohne Grund festgenommen,
gefoltert (u.a. durch Essensentzug) und denunziert. Er wird von einem eigenen
Landsmann aus der Delegation, der die Tourführung macht, nicht erkannt. Die Szene
zeigt deutlich den satirischen/zynischen Charakter des Stückes. Auch Friedrich
Torberg äußert sich zu dieser Szene im „Forvm“ und spricht sich gegen Delegationen
aus, die solche Reisen anbieten. Dabei finde eine Selektion statt, die bei Merz und
Qualtinger sichtbar werde. Er wirft dem Augenzeugen im Stück Einäugigkeit vor, da
dieser alles wunderbar findet, was ihm gezeigt wird und alles glaubt, was ihm die
„Reiseleiter“ verkaufen.
Eine weitere zynische Szene aus dem Stück stellt eine Situation dar, in welcher der
Unvoreingenommene weiterhin grundlos gefangen gehalten wird. Darin kommt auch
der Witz eines „Apparatschik“ vor (bestimmter Typ von Funktionär oder Bürokraten;
der Begriff wird meistens abwertend verwendet). Dieser findet sich auch in der Witzsammlung von Milo Dor und Reinhard Federmann. Deutlich wird, dass das Regime
die Definitionsmacht besitzt und der Polizeiapparat darüber bestimmt, was ein Vergehen ist und was nicht. Der Text gib eine klare politische Stellungnahme ab, indem
er thematisiert, dass politische Naivität lebensbedrohlich sein kann. Das Stück kritisiert die Naivität jeder „Unvoreingenommenheit“ oder „Neutralität“ gegenüber einem
totalitären Staat und entlarvt die Selbstdarstellungen des totalitären Systems durch
die „Reisen ins Rote“ als dreiste Lügen.
Die dritte Szene im Stück zeigt, dass der Unvoreingenommene schließlich doch noch
einer Deportation entgangen ist und aus der Gefangenschaft entlassen wird. Daraufhin reist er zurück ins Heimatland und trifft dabei auf den Skeptiker. Dieser hat seine
Skepsis mittlerweile abgelegt und will selbst nach „Demokarpathien“ reisen. Nun kehren sich die Rollen um und der zuvor Unvoreingenommene warnt den Skeptiker vor
der „Reise ins Rote“. Das Publikum wird Augenzeuge der Willkür und der Repression. Es beobachtet, wie der Unvoreingenommene gefoltert wird und hat am Ende eine
klare Vorstellung darüber, wer „gut“ und wer „böse“ ist. Die Position der „Unvoreingenommenheit“ und ihre „Harmlosigkeit“ werden als Schein entlarvt. Die politische
Argumentation des Stückes hat jedoch auch Widerspruch erfahren. Georg Kreisler
kritisiert das Stück (Bühnenpartner von Merz und Qualtinger) als „unendlich kitschig
und wahnsinnig komisch“. Es beschreibe die gleiche „Gräuelpropaganda“ wie zu
McCarthys Zeiten in den USA. Kreisler war damals selbst Augenzeuge dieser Logik
der Bipolarität. Jede Kritik am Kommunismus sei ein Zusprechen für den Kapitalismus der USA und umgekehrt.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
18
Kapitel 4
Friedrich Torberg und Hans Weigel als Protagonisten des kulturellen Kalten Krieges in
Österreich
Torberg und Weigel gelten als sehr proklamierte Antikommunisten, haben jedoch
unterschiedliche Einstellungen zum Judentum. Das wesentliche Element in den Texten beider Autoren ist jedoch die Satire. Als wichtige Bausteine des Antikommunismus galten ihre Haltung zum Kommunismus als Gefahr und der Bekenntniszwang.
Der wahre Feind von freiheitsliebenden Menschen war laut ihnen der Kommunismus.
„Wir wissen hier und handeln danach: Die eine große akute Gefahr, die uns allen droht und der
wir alle gemeinsam wehren müssen, ist der Kommunismus. Über ein paar Hakenkreuze möchten
dies manche gern vergessen.“
(Weigel, DEUTSCHE SOLDATEN ZEITUNG 1960)
Im System Torberg-Weigel musste man sich klar deklarieren, denn niemand sollte
eine Zwischenposition einnehmen. Die beiden richteten ihre Angriffe gegen jene, die
eine „dritte Position“ einnahmen, also nicht genau kommunizierten, auf welcher Seite
sie standen. Diese Angriffe richteten sich u.a. an Intellektuelle wie Friedrich Heer.
„Auch unpolitische Persönlichkeiten müssen heute wissen, wo sie stehen und was sie tun. [...] Mögen Ernst Fischer und Hugo Huppert [beides Autoren und KPÖ-Funktionäre; d. Verf.] weiterhin
tun, was ihre konsequent sowjetfreundliche Haltung ihnen nahelegt. Hans Thirring, Franz Theodor
Csokor und Edwin Rollett aber – ebenso wie die vielen Künstler und Intellektuellen, die man immer wieder in solchen Zusammenhängen antrifft, und ebenso wie der österreichische P.E.N.-Club
und sein englischer Ehrenpräsident Robert Neumann – mögen sich entweder eindeutig zur Volksdemokratie bekennen oder schleunigst aus dem trojanischen Pferd aussteigen!“
(Weigel, ARBEITER-ZEITUNG 1949)
Eines der zentralen Ziele der beiden war der österreichische P.E.N.-Club (internationale SchriftstellerInnenvereinigung). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Club
neu gegründet. Sie unterstellten den Mitgliedern Sympathie zum Kommunismus und
bezeichneten sie als „Brückenköpfe Stalins“. „Höhepunkt“ der Auseinandersetzung mit
Torberg/Weigel war die Tagung des internationalen P.E.N-Clubs in Wien 1955. Es
wurde gefordert, dass sich der Club politisch klar positioniere und kommunistische
AutorInnen bzw. AutorInnen aus kommunistischen Ländern ausschließe. Man würde
sich mit Mördern an einen Tisch setzen, wenn man kommunistische AutorInnen zu
den P.E.N.-Tagungen einlade.
„for the first time since 1945 […] Communist writers will sit around a Conference table with Noncommunist ones and will have to be told that they are sitting there as writers, not as agents of
precislythat ideology against which the Pen Charter is directed.”
(Friedrich Torberg)
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
19
„Diese, die unterdrückten Völker des Ostens, erwarten von der Elite des Geistes und der Literatur
ein Bekenntnis zu den Werten, an die sie glauben, zu der Freiheit, die sie ersehnen, und das kann
nur ein Bekenntnis zum Widerstand gegen ein Terrorregime sein, das dem Nationalsozialismus an
Brutalität zumindest ebenbürtig ist. Sie aber haben protestiert, als man in Deutschland Bücher
verbrannte, und schweigen dazu, daß man anderswo Menschenleben vernichtet; Sie töten nochmals
und sitzen mit Mördern an einem Tisch!“
(Hans Weigel)
In einem offenen Brief an die Mitglieder des Clubs wurde festgehalten, dass man nur
etwas gegen den Nationalsozialismus sagen dürfe, wenn man auch gleichzeitig den
Kommunismus attackiere. Dieser Gedanke beruht darauf, dass der Nationalsozialismus nicht mehr existierte und der Kommunismus nun das größere Übel darstelle,
welches bekämpft werden müsse. Dies zeugt jedoch von einer schiefen Optik bei Weigel, indem er eine merkwürdige Nachgiebigkeit und Nachsicht gegenüber ehemaligen
Nazi-Autoren (aber nicht gegenüber Autoren aus dem Osten) vertrat. Zudem ging es
ihm um einen Bekenntniszwang, der auch ein Kontaktverbot und die Verhinderung
von Publikationen beinhaltete.
Die prekäre Position des Dritten: Torberg vs. Robert Neumann
Robert Neumann griff immer wieder zentrale politische Themen der Nachkriegszeit in
seinen Werken auf. Er drehte auch eine Dokumentation über den Holocaust und
wollte Auszüge davon in der kommunistischen Zeitung „Das Tagebuch“ veröffentlichen, da keine andere Zeitung den Text annehmen wollte. Torberg schrieb ihm daraufhin, dass er das nicht machen dürfe und verfasste auch einen Brief an „Das Tagebuch“ für eine schnellere Ablehnung des Films.
„Habe ich der Bolschewisierung der Welt Vorschub geleistet, indem ich wenigstens diesen fünfhundert oder fünfzig Österreichern gewisse Informationen vermittelte, die ich sehr viel lieber den fünftausend oder fünfzigtausend Lesern der ‘Kronenzeitung’ [...] vermittelt hätte – aber die druckt das
nicht? Die Ansicht des Chefredakteurs des ‘FORVM’, dass man die Nazis nur angreifen darf, wenn
man auch österreichisch-paritätischerweise gleichzeitig auch die Kommunisten angreift, teile ich
deshalb nicht, weil diese flinke Gleichsetzung der stur-konsequenten Exekutionsbeamten der Ideen
der Hölle mit den ebenso sturen Exekutionsbeamten des Verrats an einer der großen Ideen der
Menschheit eine Simplifikation bedeuten, die nicht nur philosophisch sondern auch politisch falsch
ist [...].“
(Robert Neumann, Brief an Torberg vom 4.3.1961)
Neumann wehrte das Verbot stark ab und kritisierte Torberg für die Gleichsetzung
von Nazi-Sympathisanten mit Kommunismus-Sympathisanten. Man solle den Kommunismus nicht benutzen, um die Verbrechen des Nationalsozialismus zu beschönigen. Torberg war daraufhin „beleidigt“, weil Neumann seinen Rat nicht befolgte und
beendete daraufhin die Freundschaft und jede Publikationsmöglichkeit in der Zeitschrift „Das Forvm“. Neumann sei eine „persona non grata“. Der Entzug der Publikationsmöglichkeit durch Torberg war für Neumann jedoch nicht bedrohlich, da er auch
in anderen Zeitungen veröffentlichen konnte.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
20
Kampf gegen „Fellow-Traveller“: Der Fall Hilde Spiel
Hilde Spiel (1911-1990) war eine österreichische Exilautorin und lebte in Großbritannien. Torberg und Spiel treffen sich nach dem Krieg im Café Hawelka in Wien, wobei
es zu einer Auseinandersetzung kam, in der Torberg einigen Personen vorwarf, „Fellow-Travellers“ zu sein. Ursprünglich kommt der Begriff von Trotzki, um Leute zu
beschreiben, die keine richtigen Unterstützer des Kommunismus waren, sondern nur
mit dem Strom schwammen. Torberg war äußerst verärgert über einen Artikel, den
Spiel über ihr Treffen schrieb, sodass er Intrigen gegen sie zu spinnen begann, um sie
als Denunziantin darzustellen. Spiel dürfe in Zeitungen wie „Der Monat“ (wo der Artikel erschien) gar nicht erst veröffentlichen.
“Miss Spiel does not belong to those who are unmasking Bolshevism. She belongs to those who are
camouflaging it. And the point of my polemic is not whether Miss Spiel has written something
controversial in one or the other issue of DER MONAT, but whether Miss Spiel should be permitted to write in DER MONAT at all.“
(Torberg in einem Brief an Melvin Lasky vom 23.11.1952)
„Was ich nicht so gerne in Kauf nehme, ist die Tatsache, dass diese Dame Spiel zu den regelmässigenMitarbeitern des ‘Monat’ gehört, –desselben ‘Monat’, der für mich noch keine Zeile übrig gehabt hat.“
(Torberg in einem Brief an Arthur Koestler vom 29.6.1951)
Damit stellte Torberg sie bei den westlichen Verlagen und Zeitschriften als „Kommunistenfreundin“ dar und wollte ihr damit schaden. Dies blieb jedoch ohne Folgen für
Hilde Spiel. Die späte „Rache“ Torbergs an Spiel verhinderte jedoch, dass sie Präsidentin des P.E.N.-Clubs wurde.
Berufsverbot für Kommunisten? Der Fall Karl Paryla
Karl Paryla (1905-1996) war ein österreichischer Theaterschauspieler und -regisseur,
der 1938 in die Schweiz emigrierte und 1948 nach Wien zurückkehrte, wo er dann der
KPÖ beitrat. Gemeinsam mit Wolfgang Heinz leitete er das „Neue Theater in der
Scala“, das 1956 geschlossen wurde.
In einem politische sehr scharfen Spottgedicht, das in der Zeitschrift „Das Tagebuch“
abgedruckt wurde, wendet sich Paryla unter anderem gegen die Politik der USA, die
vor allem den „Marshall-Plan“ betraf. Darin bezeichnete er Salzburg als „Brückenkopf
der NATO“. Kurz nach der Veröffentlichung wurden jedoch vorerst keine großen Reaktionen darauf ausgelöst. Dies folgte erst 1952, als Karl Paryla den Teufel im Stück
„Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen verkörpern sollte. Friedrich Torberg antwortete darauf mit heftigem Protest.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
21
„Es fügt sich hübsch, daß die Initialen des Schauspielers Paryla die gleichen sind wie die der
Kommunistischen Partei. Denn Karl Paryla ist nicht nur Schauspieler, sondern auch Parteiaktivist
[…] aus Überzeugung. […] er ist Kommunist nicht von ungefähr, er ist es mit Absicht, und zwar
mit der Absicht, eine totalitär-diktatorische Gesellschaftsordnung herbeizuführen. […] Daß er jetzt
aber zur Mitwirkung an den Salzburger Festspielen 1952 eingeladen wurde, kann nur auf einen Irrtum zurückgehen.“
(Torberg im WIENER KURIER, 23.5.1952)
„Die Frage, warum K.P. das Engagement nach Salzburg angenommen hat, ist unsere Frage nicht.
Wir fragen, warum es ihm angeboten wurde.“
(Torberg im WIENER KURIER, 19.6.1952)
Torberg sprach von einem „Irrtum“. Ein Schauspieler wie Paryla könne den Teufel
nicht spielen, da er ohnehin „rot genug“ sei („rot“ wird gleichgesetzt mit der Kommunistischen Partei). Dabei hob Torberg die Initialen des Schauspielers hervor: K.P. wie
Karl Paryla oder Kommunistische Partei. Dies löste auch eine breite Debatte über
das Gedicht Parylas aus, das in der Zeitschrift „Das Tagebuch“ abgedruckt wurde.
Dadurch wurde der Druck auf die Salzburger Festspiele immer größer, woraufhin diese das Engagement Parylas schließlich zurückzogen.
Verhinderung von Literatur: der Brecht-Boykott
Der Brecht-Boykott im Februar 1952 war eine antikommunistische Kampagne, angeführt von Friedrich Torberg und Hans Weigel, sowie vom damalige Direktor des
Burgtheaters, Ernst Haeussermann, in Torbergs Zeitschrift „Das Forvum“. Die Zeitschrift war dabei das wesentliche Organ des Boykotts.
Brechts Stücke wurden in den 1920er und 1930er Jahren bis nach dem Zweiten Weltkrieg sehr selten aufgeführt. 1946 wurde „Der gute Mensch von Sezuan“ im Theater in
der Josefstadt gespielt, obwohl Brecht selbst es nicht wollte. Zwischen Februar 1952,
wo „Die Dreigroschenoper“ im Volkstheater Wien aufgeführt wurde und Februar
1963, als „Mutter Courage und ihre Kinder“ in Wien und Linz auf der Bühne zu sehen waren, zeigte kein etabliertes Theater in Wien ein Stück des Schriftstellers. Berthold Brecht war eine zentrale Figur für das Theater der Nachkriegszeit, für andere
aber auch eine zentrale kommunistische Figur, die es zu kritisieren galt.
Interessant ist, dass Ende der 1940er Jahre der Kalte Krieg noch nicht so zu tragen
kam. Nach dem zweiten Weltkrieg ging er in die USA, bekam aber keine Staatsbürgerschaft und war somit staatenlos. Brecht war ab 1950 österreichischer Staatsbürger.
Er erhielt seine Staatsbürgerschaft über das Salzburger Land. „Die Einbürgerung
Brechts ist der Beweis, dass unser Land kommunistisch unterminiert wird.“ Sämtliche
Parteien der Salzburger Landesregierung stimmten der Staatsbürgerschaft jedoch zu.
Mit diesem Zitat von Hans Weigel wird klar, dass sich der kulturelle Kalte Krieg in
Österreich langsam zuspitzte. Viele belastete Nationalsozialisten haben versucht, in
den letzten Kriegsmonaten aus Ostösterreich zu flüchten. Das führte zu einer starken
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
22
Konzentration von ehemaligen Nazis in den westlichen Besatzungszonen. Diese Konflikte haben sich weiter verschärft mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953.
Soll man Brecht im Westen spielen? „In dieser Theaterstadt Wien ist seit dem 17. Juni 1953
kein Stück von Bertolt Brecht mehr aufgeführt worden, und ich will Ihnen gleich eingangs bekennen, dass das nicht ganz ohne mein Zutun geschehen ist. Ich habe als Theaterkritiker, als Herausgeber einer kulturpolitischen Zeitschrift und auf jeder anderen mir zugänglichen Plattform nach
besten Kräften darauf hingewirkt, dass Brecht in Wien nicht gespielt wird, ich bin dafür mitverantwortlich, oder wie einige von Ihnen es vielleicht lieber formuliert hören würden: ich bin daran
mitschuldig.“
(Torberg in DER MONAT 14 (1961) H. 159)
Auf die Theater wurde enormer Druck von Seiten der Kritiker und Zeitungen ausgeübt. Auch in der Grazer Oper kam es zu Aufruhren. Friedrich Torberg sah jedoch
keine Propagandawirkung der Stücke. Vielmehr schrieb er darüber, dass es durch die
verführerische Schreibweise und die Schönheit seiner Stücke zu einer Aufweichung
der antikommunistischen Haltung käme.
„Es mag jetzt in Graz keinen einzigen Kommunisten mehr geben als zuvor. Aber es gibt vielleicht
ein paar Antikommunisten weniger. Und genau darum handelt sich’s, nicht um einen Sturm aufs
Parteilokal am Tag nach der Premiere. Um die Aufweichung handelt sich’s, um die Propagandawirkung, um den verhatschten Gedankengang, der sich dem naiven Gemüt schon aus der bloßen
Wahrnehmung ergibt, dass dieser vielgeschmähte Bertolt Brecht so ein schönes Stück geschrieben
hat [...]: dass also diejenigen, die ihn schmähten, Unrecht haben müssten; dass er am Ende gar kein
Kommunist sei; und dass, wäre er wirklich einer, der ganze Kommunismus nicht so schlimm sein
könnte, wenn kommunistische Dichter so schöne Stücke schreiben.“
(Torberg in: FORVM, Juli/August 1958)
Hans Weigel unterstützt Torbergs Kurs dabei sehr stark. Ein Argument in einem seiner Artikel ist, dass wenn Brecht sich von den kommunistischen Staatschefs distanziere, es nur eine Verschleierung sei: „das abscheuliche Manöver seiner österreichischen Staatsbürgerschaft“. Dies beschreibt die Metapher des einschleichenden Maulwurfs. Der Brecht-Boykott endet Anfang der 60er Jahre, als 1963 wieder Stücke aufgeführt werden. Dies ist auch ein Anzeichen dafür, dass sich die Hegemonie der Theaterkritik auflöste, die Torberg und Weigel ausübten.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
23
Kapitel 5
Totalitarismus und Literatur 1: Perspektiven auf einen Kernbegriff des Kalten Krieges
Begriffsgeschichtlich bezeichnet der Totalitarismus eine Bedrohung der Demokratien
und der freien Staaten in Amerika und in Europa des 20. Jahrhunderts. Der Begriff
war jedoch immer ein vieldiskutierter und sehr elastischer Begriff, der immer wieder
mit neuen Bedeutungen aufgeladen wurde. Autoritäre, diktatorischen Staatsformen
wurden durch den Begriff anhand spezifischer Merkmale definiert. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff spielt auch in der Literatur eine zentrale Rolle. Wichtige
Texte sind dabei Die Zweite Begegnung von Friedrich Torberg, Moskau von Erik von
Kuehnelt, „Das Himmelreich der Lügner“ von Reinhard Federmann und „Salto Mortale“ von Milo Dor.
Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus führte auch zu einer theoretischen
Beschäftigung damit. Dabei gibt es zwei zentrale Werke: „Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft“ von Hannah Arendt und „Totalitäre Diktatur“ von Carl J. Friedrichs. Als Zentrum des totalitären Staates gilt das Lager in allen Formen, wo die
Recht- und Machtlosigkeit in ihrer reinsten Form auftritt.1 Der „Congress for Cultural Freedom“ wurde 1950 ins Leben gerufen, um sich gegen totalitäre Systeme zu wehren. Dabei entstanden mehrere Zeitschriften wie „Der Monat“, „Das Forvm“ usw.
Führende Persönlichkeiten u.a. waren Melvin Lasky, Francois Bondy, Sidney Hood
oder Mike Josselson. Der Kongress wandte sich vorwiegend an sozialdemokratische
Linke und schreibt in seinem Gründungsmanifest, dass Freiheitsideale in allen denkbaren Variationen vertreten werden sollen.2 AutorInnen der Zeitschriften und rund
um den Kongress waren kommunismuskritisch bis -feindlich.
Die zweite Begegnung – Friedrich Torberg
Der Text zeigt sich als eine Fortführung antikommunistischer Argumentationsmuster
im Gewand des Fiktionalen. Der Roman erscheint 1950 im S. Fischer Verlag. Die
ideologische Zielrichtung des Romans bestimmt auch die Erzählstruktur des Romans.
Er erzählt von einer doppelten Verfolgung und einer doppelten Flucht und somit von
einer doppelten Diktatur (NS und Kommunismus). Es geht um einen jungen Prager
Theaterkritiker, der von den Nationalsozialisten flüchten musste, ging nach dem
Krieg in die Tschechoslowakei zurück und beobachtet die kommunistische Machtübernahme 1948. Er versteckt sich dabei als Dissident in der Dachkammer und muss
am Ende wieder aus seinem Heimatland fliehen (doppelte Flucht).
1
2
Der Hitler-Stalin-Pakt löste Unruhen unter den Kommunisten aus, da Hitler vorher der größte Feind
war. Der Begriff war auch deshalb so gut einsetzbar, da er eine „semantische Brücke zwischen dem
anti-nazistischen und dem anti-kommunistischen Liberalitätsbegriff“ darstellt.
Karikaturen wurden von den Kommunisten sehr oft verwendet, um den Einfluss der Amerikaner zu
veranschaulichen und demnach sehr kritisch zu betrachten ist.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
24
Der Roman vergleicht 1939 und 1948 immer wieder und setzt somit die politische
Bedrohung der beiden Systeme gleich. Die Triebfeder des Romans ist eine Liebesgeschichte, die den Rahmen für den Roman bildet. Torberg bestritt, dass er einen politischen Roman vor der Vorlage einer Liebesgeschichte geschrieben hat. Die Geschichte ist von den zeitgeschichtlichen Ereignissen durchzogen. Der Protagonist trifft seine
große Liebe vor dem Krieg wieder. Sie ist in einem russischen Ballett und hatte ihn
nicht nach Frankreich ins Exil begleitet. Die Protagonistin Vera tritt während dem
zweiten Weltkrieg in einem Ensemble zur Unterhaltung der Nazis auf. 1948 trifft sie
Martin wieder und die Liebe flammt wieder auf. Sie trifft nun die Entscheidung, mit
Martin zu flüchten und begleitet ihn ins zweite Exil.
Es beginnt mit der politischen Reflexion eines jungen Antifaschisten, der sich gegen
den NS wehren lernen will, also durchaus kommunistische Haltung, die sich langsam
zu einer antikommunistischen und zu einer allgemein anti-totalitaristischen Haltung
1939 mit dem Hitler-Stalin-Pakt verändert. Martin Dub als politischer Beobachter.
Die zweite Begegnung war für Torberg sozusagen eine Vorübung zu Torbergs Forum.
Totalitarismus und Literatur 2: Weigel und Torberg und ihre hegemoniale Kulturberichterstattung
Das, was Torberg und Weigel inhaltlich vertreten haben, war nichts außergewöhnliches, auch politisch, sogar die Sozialdemokratie war antikommunistisch. Es war also
keine herausragende Position, sie war jedoch bemerkenswerterweise im Kulturbereich
äußerst dominant. Widerspruch und Protest gab es von Kommunisten und kommunistische Medien. Außerhalb dieses Publikums wurde dies aber gar nicht wahrnehmen. Öffentliche Kritik war sehr vorsichtig, da beide über ein gutes und breites
Netzwerk verfügten und einem einfach geschadet werden konnte. Der Autor Hermann
Schreiber erinnert sich: man musste nur einmal irgendetwas in einer kommunistische
Zeitung veröffentlichen und schon hatte man am Tag darauf die wütenden Angriffe
von Torberg und Weigel zu befürchten. Antikommunismus als gesellschaftlicher Konsens. Es gab also Kritik, aber relativ marginalisiert.
Beim Totalitarismus kann man einer rhetorische und eine politikwissenschaftliche
Definition unterscheiden. Es geht ganz offensichtlich während des Kalten Krieges
immer wieder um die Frage der modernen Tyrannei/ Diktatur. Was droht nach der
Erfahrung des NS als nächste Gefahr?
„Die zweite Begegnung“ erzählt von einer zweifachen Vertreibung des Protagonisten.
In der Liebesgeschichte ist auch eine politische Geschichte verpackt. Torberg streitet
ab, dass die Liebesgeschichte nur ein Vehikel sei. Die Gleichsetzung von NS und
Kommunistischer Literatur ist bei Torberg nicht die erste, diese Parallelisierung findet sich bereits in den 1930er Jahren. Silone schreibt 1936 einen Brief nach Moskau
an die Exilzeitschrift „Das Wort“ und angesichts der Moskauer Schauprozesse (Stalinistische Säuberungen) formulierte er seine Weigerung, ein Faschist zu werden, und
wenn es auch ein roter Faschist wäre. Diese Gleichsetzung hat also eine längere Tra-
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
25
dition. Die Problematik bei dieser Gleichsetzung und des Totalitarismus-Begriffs ist
diese, dass er die moralischen und politischen Ambivalenzen verdunkelt. Hinter dem
Begriff konnten sich die verschiedensten Totalitarismus-Arten verstecken.
Das was vor 1945 im Antifaschismus versammelt hat, muss sich nach 1945 im Antikommunismus versammeln. Dies ist die zentrale Aussage des Romans und des Protagonisten Martin Dubs. Torberg schreibt an Neumann, man muss sich immer gleichzeitig mit beiden Spielarten des Totalitarismus verderben, sonst taugt die ganze
Kämpferhaltung nichts. Literarisch oder ästhetisch bemerkenswert sind die sentimentalen, kitschigen Formen der Unterhaltungsliteratur. Die eingeschobenen Notizen von
Martin Dub, die fiktiven tagebuchartigen Einträge, sind insofern ästhetisch interessant, als sie immer mehr politischen Essays gleichen und sie antizipieren damit die
spätere Zeitschrift „Forvm“ von Friedrich Torberg.
„Über die Lockung des Kommunismus auf den Intellektuellen.![...]!Es ist nicht schwer zu sehen, warum ein Hungernder, ein Bedürftiger, ein sozial Benachteiligter sich dem Kommunismus zuwendet
und was er sich davon erhofft. Die steinerne Dummheit derer, die ihm den Zugang zum Besitz
versperren, läßt ihm auf die Dauer keinen anderen Weg, und daß der Kommunismus seine Hoffnungen nicht erfüllen wird, kann ihm niemand beweisen. [...] Mit der Lockung des Kommunismus
auf den Intellektuellen verhält es sich anders und komplizierter. [...]!Im Grunde ist die Verbindung
des Intellektuellen mit dem Kommunismus ein Widerspruch in sich. Sie ergibt, chemisch gesprochen, keine Lösung. Ein intellektueller Kommunist stellt entweder sich selbst oder den Kommunismus in Frage und muß zum Schluß entweder sich selbst oder den Kommunismus aufgeben. Erfahrugnsgemäß zieht er die Selbstaufgabe vor.“
(Aus den Notizen des Martin Dub, Prag, Frühjahr 47)
Die Zielgruppe der Zeitschrift waren unter anderem auch Intellektuelle, welche der
Lockung des Kommunismus anheim fallen. Das sollte quasi abgewehrt werden. Die
Idee des „Forvm“ war aber auch eine durchaus unterhaltsame Zeitschrift zu bilden die
sich mit Theater, Literatur und Philosophie auseinandersetzt, trotzdem aber eine klare politische Linie verfolgt. Die Zeitschrift wendet sich vor allem gegen den Kommunismus aber auch gegen alle totalitären Ideologien. Das „Forvm“ wurde 1954 gegründet.
„We hope to lure our readers via the cultural part into the political one. Brutally spoken, we
want to sell them politics under the pretext of culture, and I don’t have to tell you what sort of
politics it will be.“
(Friedrich Torberg an Lawrence Dalcher, Brief v. 5.11.1953)
In der Zeitschrift finden wichtige Debatten statt. Eine höchst lesenswerte Zeitschrift
mit höchst interessanten AutorInnen (Arendt, Adorno etc.). Die Zeitschrift war diesbezüglich auch eine lukrative Einnahmequelle für Friedrich Torberg. Das „Forvm“
diente ihm als Feldzugsmedium gegen die Neutralisten, gegen Personen, die sich nicht
eindeutig gegen den Kommunismus positioniert haben. Im Editorial der ersten Ausgabe ist deutlich zu lesen, worum es geht.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
26
„Im Verlauf der größeren Auseinandersetzung, die in unsern Tagen zwischen Demokratie und Totalitarismus vor sich geht (und die eine Auseinandersetzung auf Tod oder Leben ist) ergibt sich
dem kritischen Beschauer bisweilen der Eindruck, als sei es mit der Meinungs-Vielfalt auf unsrer
Seite nicht mehr gar so weit her, als steuerten auch wir immer deutlicher den Kurs des uniformen
Denkens und Redens. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das: nämlich im Negativen, in der Negation des Totalitarismus. Den haben wir gar nicht gern. Gegen den sind wir. [...] weil wir tatsächlich den Totalitarismus jeglicher Spielart meinen, Neo-, Krypto- und Kommunazi, Leni-, Stali- und Kommunisten, wie’s grad kommt.“
(N.N., an Stelle eines Leitartikels. In: FORVM 1 (1954) H. 1)
Torberg betreibt das „Forvum“ bis 1966 und übergibt an Günter Memming. Dieser
verfolgt nicht mehr den radikalen Antikommunismus und benennt die Zeitschrift in
„Neues Forvm“ um. Spätestens mit Anfang der 1980er Jahre hat es jedoch an Bedeutung verloren.
Moskau 1997 – Erik von Kühnelt-Deddhin
Dieser Roman ist etwas ganz charakteristisches für die Literatur des Kalten Krieges eine Dystopie (Anti-Utopie/negative Utopie). Solche Dystopien finden sich in der
Literatur des Kalten Kriegs sehr häufig. Die berühmteste ist George Orwells Roman
„1984“, oder Otto Bahrs „Wenn das der Führer wüsste“. „Moskau 1997“ ist 1946 zuerst
auf Englisch unter dem Titel „Moscow 1979“ erschienen. Der Autor stammt aus einer
sehr monarchistisch-katholisch eingestellten Familie. Er war Anfang der 1930er Jahre
als Korrespondent in Moskau tätig. Er schrieb Romane über die Entwicklung der
osteuropäischen Ländern. Er geht 1937 über England in die USA und wird dort
Hochschulprofessor in New Jersey. Er schreibt eine ganze Reihe an historischpolitischen Beiträgen. 1947 kehrt er nach Österreich zurück und arbeitet als freier
Schriftsteller. 1949 erscheint „Moskau 1997“ zum ersten Mal auf Deutsch, wird aber
vorerst von den Sowjets verboten und wurde erst 1952/53 in Österreich verbreitet.
Es geht um eine Anstachelung zum Übergriff auf die Sowjetunion. Der Text stieß bei
den Kommunisten auf große Ablehnung. Der Autor entwirft ein Szenario eines totalitären Staates, der in einer Welt existiert, die nach eine Anzahl von apokalyptischen
Kriegen in drei große Imperien aufgeteilt wurde. Die Welt hat fünf Weltkriege gebraucht, um diesen Zustand zu erreichen, die in erschreckende Gewaltfantasien geschildert werden. Die Herrschaft der Sowjetunion wird als das Reich des Bösen beschrieben.
„Drüben in Europa und in Westasien war eine neue Welt entstanden; Millionen Menschen hatten
den Gastod gefunden und Hunderte von Städten waren in Schutt und Asche verwandelt worden.
Arbeit und Raum gab es nur drüben in Europa, und die Moskauer Machthaber planten und schufen ganz großartige Dinge; seitdem beim sechsten Fünfjahresplan zwölf Millionen Menschen verhungert waren, ging es immer weiter mit der UdSSR bergauf.“ [...]
„Auf den Trümmern von Wien hatte man wieder eine Großstadt, die in ihren Wolkenkratzern
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
27
fünf Millionen Einwohner beherbergte, gebaut und nachdem man einmal Tirol gründlich mit
Chlor, Senfgas und Zyan zur Vertilgung der verbissen-bigotten Ureinwohner ‚desinfiziert’ hatte,
konnte man daraus ein Sanatoriumsland für die Tuberkulosen und Asthmakranken der gesamten
Sowjetunion machen.“
(Erik von Kühnelt-Deddhin, Moskau 1997)
Er wird für die „plumpe Schwarz-weiß-Technik“ kritisiert, die den Westen als Gutes
und den Osten als Böses darstellt. Die Bürger von Moskau sind hunderten von Gesetzen unterworfen, ihr Dasein „ist ärgste Sklaverei“. Die Menschen werden mittels
Labormethoden und Gentechnik herzustellen. Die Unfreiheit der Bevölkerung erstreckt sich bis ins Privateste (dies beschreibt auch Hannah Arendt als zentrales Charakteristikum totalitärer Systeme). Es gibt eine spezifische Methode, das Prinzip des
„Panhilarismus“, um allgemeine und bedingungslose Fröhlichkeit verordnet. Dies geschieht durch Clowns, die ständig heitere Witze reißen. Der größte Feind des Staates
ist keine westliche Demokratie, sondern das Christentum. Diese Gegenüberstellung
findet sich in der Darstellung des Kalten Krieges in der österreichischen Literatur
besonders häufig. Die Sowjetunion hat im Roman ihren Zenit an Macht überschritten, das System ist am Kollabieren. Das Gesellschaftssystem wird als Reich des Bösen
dargestellt. Mastermind des sowjetischen Präsidenten ist der Teufel in G
! estalt des
Archivars Godlewski, Der Archivar hat Pläne zur Ausrottung der gesamten Menschheit: „Alle auf Gongschlag den Todestag“, heißt es im Text. Der Papst erklärt die Ehe
zur Sünde, wodurch die Menschheit ausstirbt, so eine weitere Überlegung. Es gibt
auch eine ominöse Stadt namens „Leninsk“ und ein Schlaraffenland darstellt. Diese
stellt jedoch nur ein Täuschungsmanöver des Teufels dar. Die Abschaffung des Menschen und des menschlichen Wesens formuliert auch Hannah Arendt als Ziel totalitärer Politik. Der Archivar ist eine Art vorweggenommene literarische Verwirklichung
von Hannah Arendts Gedanken.
Die tatsächliche Bedrohung kommt dann jedoch von außen in Form eines Kometen,
der sich der Welt nähert. Es kommt zu Chaos, Kampf und Gewalt durch die atheistische Bevölkerung, die sich im Diesseits ausgelöscht sieht. Der Komet verfehlt die Erde, was die Amerikaner ausnutzen und zum Angriff auf das ohnehin zerfallende Sowjetische Reich. Es kommt dabei zu einem „Blitzkrieg“, der fünf Tage dauerte. Der
Teufel wird Opfer de Geheimpolizei und nimmt sich das leben, worauf er gestaltlos
und in der Hoffnung zerrissen weitergeistert. Der Roman endet mit dem Wahlspruch
des römisch- katholischen Ordens der Kartäuser: „STAT CRVX DVM VOLVITVR
ORBIS“ (Das Kreuz steht fest, während die Welt sich dreht.)
Innenansichten des totalitären Systems: Das Himmelreich der Lügner – Reinhard Federmann
Der Roman entwirft zeitgeschichtliches Panorama im Spannungsfeld der Politik entwirft. Es beschreibt eine Serie gescheiterter Revolutionäre. Eine Enttäuschungsgeschichte. Die Lebenswege von fünf sozialdemokratischen Genossen werden erzählt, die
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28
im Bürgerkrieg 1934 verwickelt sind. Im Zentrum steht der Ich-Erzähler Bruno
Schindler, Mitglied des Schutzbundes. Er flieht wie viele andere 1934, nachdem der
Aufstand niedergeschlagen wurde, über Brno nach Moskau und kommt mit der roten
Armee 1945 zur Befreiung nach Österreich zurück. Er versucht sich an die Zeitphase
als Rückblick von 1956 aus zu beschreiben. Wie auch in andren zeitgenössischen Romanen gibt es auch bei Federmann eine Diskussion, ob man mit dem Roman überhaupt geschichtliche Tatsachen/Abläufe erzählen kann. Die Frage dreht sich um die
Schwierigkeit der Beschreibung von Erinnerungen (ähnlich wie bei Günther Grass’
„Die Blechtrommel“).
Bruno Schindler ist ein überzeugter Marxist, welcher in das „Paradies der Arbeiter“
geht, jedoch sehr bald erkennen muss, wie dieses System funktioniert und unter den
stalinistischen Terror gelangt. Er steht stellvertretend für viele andere Schutzbündler,
die ins Exil nach Moskau gegangen sind und unter die Fänge des stalinistischen Terrors gekommen sind und dort auch ermordet worden sind. Er flieht also begeistert
nach Moskau, tritt der roten Armee bei, studiert, schreibt für eine Zeitschrift, wo er
einen Kollegen aus Wien als Chefredakteur der Zeitschrift wiedertrifft (Figur nah an
Ernst Fischer angelehnt). Schindler meint zuerst, sich aus dem System des Terrors
heraushalten zu können, verstrickt sich aber immer weiter. Schindler folgt seinen Befehlen, leistet keine Hilfe und begleitet Häftlinge als Wache beim Transport in ein
Gulag. Er reflektiert jedoch seine eigene Erfahrung dabei.
„[...] es war meine Pflicht, das Gegenteil von dem, was ich erkannt hatte, deutlich und mit lauter Stimme hinauszuschreien. Es war meine Pflicht, meine Freunde zu verraten. Sie zu beschimpfen. So zu tun, als hätte ich sie nie gekannt. Sie in Ketten zu legen und in ihrem Gestank
ersticken zu lassen. Sie zu erschießen. Und als ich mir die scheinbar akademische Frage vorlegte,
ob ich das alles im entscheidenden Augenblick wirklich tun würde, sprang mir unversehens die
Antwort ins Bewußtsein: du hast es ja schon getan.“
(Reinhard Federmann, Himmelreich der Lügner)
Die Szenen nehmen deutlich Bezug auf das Terrorjahr 19. Nur wenige der Verhafteten und Verurteilten wussten, warum sie verfolgt wurden. Ein Großteil davon waren
überzeugte Kommunisten, die durch drastische Strafen verhaftet wurden (aufgrund
von Zuspätkommen, Arbeitsfehler etc.). Auch der Protagonist wird denunziert, verhaftet aus Eifersucht eines Kollegen im Studentenheim, der auf seine Karriere bei der
Zeitschrift und seine Beziehung mit der Tochter eines Funktionärs eifersüchtig ist. Er
landet in einer Zelle und gesteht sich seine Illusionen über das „Arbeiterparadies“ ein.
Er kommt sogar zu den ketzerischen Gedanken um die Frage, ob er überhaupt unter
den Nazis eingesperrt worden wäre. Er wird verhört, soll durch psychische Folter beständig gemacht werden. Schindler hat Glück, da er mit einer hochgestellten Familie
durch seine Beziehung mit der Tochter verbunden war. Er muss nur ein halbes Jahr
in Sibirien Kohle schaufeln. Wird in eine Kleinstadt versetzt und beginnt, Alkohol zu
trinken. Es gibt viele Aspekte, die im Roman vorkommen, welche das sowjetische
System beschreiben.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
29
Federmanns Darstellung des Stalinismus ist bemerkenswert präzise. Er macht besonders den Aspekt der „proletarischen Wachsamkeit“ deutlich. Man war ständig dazu
aufgerufen, die Augen offen zuhalten dafür, ob nicht irgendwo Spitzel usw. anwesend
waren. Diese sollten gemeldet werden.
„Eine besondere Geißel jener Jahre war die Losung ‚Proletarische Wachsamkeit’. Sie wurde von
Stalin zur höchsten Tugend eines Sowjetbürgers erklärt; mit ihr trieb man jeden, dem seine
Freiheit lieb war, dazu, seine Arbeitskollegen, seine Bekannten, ja selbst seine Freunde und Familienmitglieder zu bespitzeln.“
(Margarete Buber-Neumann, Als Gefangene bei Stalin und Hitler, 1949)
„Die Deformation des Bewußtseins durch einen permanenten atmosphärischen Druck ist fürchterlich. Auch die absurdesten Behauptungen, die verrücktesten Lügen beeinflussen, wenn sie
Tag für Tag wiederholt werden, das Bewußtsein. [...] Wachsamkeit! Seid ihr denn blind? Seht
ihr den Feind nicht? Jeder kann ein Feind sein, es sei denn, du kennst ihn bis ins Verborgenste.
Ein Wettbewerb der Wachsamkeit beginnt: Ihr habt noch keinen Feind entdeckt? Eure Organisation soll die einzige ohne Feind sein? Wie seltsam, wie verdächtig!“!
(Ernst Fischer, Erinnerungen und Reflexionen, 1969)
Die ständige gegenseitige Überwachung und die Unterstellung, dass es einen Feind im
Inneren gibt, der das System bedroht, ist ein zentrales Element des totalitären Systems im Kommunismus. Federmanns Text unterscheidet sich deutlich von den vorhergehenden Texten. Sein Roman wurde damals wahrgenommen, auch rezensiert,
jedoch schnell wieder vergessen und taucht auch in Literaturgeschichten nicht auf.
Milo Dor – Salto Mortale
Die novellenartig strukturierte Erzählung von Milo Dor bildet gewissermaßen den
Übergang zur sogenannten Gulag-Literatur. Sich mit dem Stalinismus zu beschäftigen
war für ihn als politischen Autor ganz selbstverständlich. Aber auch die autobiografische Relevanz spielt in seinen Texten eine entscheidende Rolle. Milo Dor war wie
Reinhard Federmann Mitglied der Gruppe 47. Er liest 1954 bei der Gruppe 47, welche auf viel Beifall und auf nur manchen Widerspruch traf. Die Zeit druckt die Erzählung schließlich ab. Der Text gilt heute als weitgehend vergessen.
Der Protagonist wacht auf und alles ist anders. Seine vertraute Umgebung ist völlig
fremd, niemand kennt ihn mehr. Wie bei Kafkas „Prozess“ glaubt auch der namenlose
Ich-Erzähler, dass sich jemand einen Scherz erlaubt. Es wird jedoch unheimlich, als
ihn auch seine Verlobe nicht mehr erkennt und in seiner Wohnung nie als Mieter
aufgeschienen ist. Auch hier gibt es Parallelen zu Kafka, da Frau Gruber, die Vermieterin bei Milo Dor, Ähnlichkeiten zu Frau Grubach in Kafkas „Prozess“ aufweist. Neben Kafka ist auch „1984“ von George Orwell ein Bezugstext zu „Salto Mortale“, wo
es ebenfalls eine Auslöschung der Existenz eines Menschen thematisiert wird. Hannah
Arendt beschreibt diese Auslöschung als eines der Ziele totalitärer Systeme. Es wird
eine Zone des Schweigens beschrieben.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
30
„Alles war still. Man hatte mich in eine Zone des Schweigens gedrängt und niemand war da, der
mir erklären konnte, was eigentlich mit mir geschehen war. Ich wusste nicht, ob ich noch lebte
oder schon tot war. Vielleicht war ich schon vergessen, ehe ich angefangen hatte, mich bemerkbar zu machen. [...]“
An folgender Stelle kippt der Text:
„Aber ich war nicht tot. Und ich war auch nicht vergessen. Alle kannten jetzt meinen Namen.
Sie durften ihn nur nicht aussprechen. Er war mit dem Siegel des Schweigens versehen. Ich hatte es von allem Anfang an gewußt, ich wollte es nur nicht wahrhaben. Ich wollte nicht wissen,
daß gegen mich ein Boykott organisiert worden war, diese wirksamste Maßnahme, die eine Gemeinschaft gegen zersetzende Elemente, wie ich eines war, ergreifen konnte.“
(Milo Dor, Salto Mortale)
Parallelen zur sowjetischen Geschichte werde sehr nahe, jedoch nicht explizit. Der
Protagonist sieht sich selbst als zersetzendes Element, leistet sich jedoch einen Akt
des Widerstandes, indem er sich einen folgenreichen politischen Scherz erlaubte. Er
hat am 1. April eine Nachricht der Zeitung, für die er schreibt, auf den Kopf gestellt.
Er entwirft eine karnevalistische Verklärung und lässt plötzlich Soldaten mit Blumen
werfen und die Feinde in die Arme nehmen.
„Ein Trupp feindlicher Soldaten habe unsere Grenze überschritten und völlig grundlos unsere
Wachposten beschossen; eine Abteilung unserer wackeren Grenzsoldaten habe jedoch ihr Feuer
auf das heftigste erwidert und sie in die Flucht geschlagen.
[...]! Nach einer Meldung der Stanag (eine Abkürzung für die Staatliche Nachrichtenagentur) habe am vergangenen Morgen ein Trupp freundlicher Soldaten unsere Grenzen überschritten und
völlig grundlos unsere Wachposten mit Blumen beworfen; eine Abteilung unserer Grenz-soldaten
habe diese Begrüßung auf das heftigste erwidert und die Freunde von drüben in die Arme geschlossen.“
Diese Handlung beschreibt die ständige Bedrohung für den Protagonisten von innen
und außen, die ebenfalls ein Charakteristikum totalitärer Gesellschaften darstellt. Der
erste Diskursstrang der Erzählung, der soziale Boykott, findet sich schon im Roman
„Tote auf Urlaub“ (1952). Diese Boykotterzählung gibt eine biografische Erfahrung
Dors wieder. Der zweite Strang, der Franz Kafkas Literatur in den Kalten Krieg versetzt, baut Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ so ein, dass er als politische Parabel
oder als prophetischer Roman des Totalitarismus gelesen und verstanden wird.
„Die meisten sowjetischen Leser haben ihn („Der Prozess“)zweifelsohne für ein gut getarntes
Werk eines einheimischen Autors gehalten, der seinen Namen wegen der klar ausgeprägten sowjetfeindlichen Tendenz nicht verraten wollte. Stellte „Der Prozeß“ nicht in leicht verschleierter
Form die Ereignisse der Terror-jahre 1935, 1937/38 und 1949-1952 in der UdSSR dar? Nur ein
Sowjetrusse konnte die Einzelheiten so genau kennen!“
(Efim Etkind)
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
31
Der dritte Strang, die zeitgenössische Totalitarismuskritik, ist damals ganz aktuell
und findet sich auch in Dors Erzählung durch (1) die Aufhebung der Trennung von
Politischem und Privatem (er ist durch den Boykott auch im Privatleben betroffen,
z.B. erkennt ihn seine Freundin nicht mehr), durch (2) die ständige Bedrohung durch
innere und äußere Feinde, durch (3) die Möglichkeit einer kompletten Auslöschung
der Existenz und schließlich auch durch die (4) universale Verdächtigkeit, die Denunziation.
„Atmosphäre, in der wissentlich oder unwissentlich jeder jeden bespitzelt, jeder sich als Agent
herausstellen kann, jeder sich ständig bedroht fühlen muß, unter Verhältnissen, die Sicherheit
im alltäglichen Leben ausschließen.“
(Milo Dor, Salto Mortale)
„Salto Mortale“ setzt sich auf einer abstrakteren Ebene mit dem Totalitarismus auseinander als „Tote auf Urlaub“. Die totalitäre Herrschaft ist nicht auf den ersten
Blick und überhaupt nur ganz schwer wahrnehmbar. Der Herrschaftsapparat bleibt
in der Erzählung unsichtbar, anders als bei George Orwells „1984“, wo die Überwachungstechnik deutlich beschrieben wird. Unheimlich ist bei einem zweiten Blick
auch die widerstandlose Beteiligung der Bevölkerung in „Salto Mortale“. Die Zone des
Schweigens bezeichnet nicht nur das Totschweigen seiner (namenloser Protagonist)
persönlichen Existenz, sondern auch das Totschweigen des totalitären Herrschaftsapparates.
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
32
Kapitel 6
Gulag-Literatur aus Österreich
Das Lager galt im Kalten Krieg und generell in totalitären Systemen als „konsequenteste Institutionen totaler Herrschaft“. Lager sind die eigentlichen sozialen Institute
des Machtapparates.
„Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß
Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Hier handelt es sich darum, festzustellen, was
überhaupt möglich ist, und den Beweis zu erbringen, daß schlechthin alles möglich ist.“
(Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft)
Es werden ab 1929 zunehmend mehr Lager als „Besserungsanstalten“ in der Sowjetunion eingerichtet. Die Begründung für die zunehmenden Verhaftungen war die Folge
von Stalins Doktrin einer Verschärfung des Klassenkampfes. Inhaftiert wurde nicht
nur bei tatsächlichen Straftaten, sondern auch bei Zugehörigkeit von vermeintlich
straffälligen Gruppen. Geständnisse reichten für Verurteilungen aus, diese wurden
aber häufig durch Erpressungen erzeugt. Die Lager waren über die Sowjetunion weitgehend verstreut. Die härtesten Lager waren im Nordosten Sibiriens. Gemischt waren
tatsächlich Kriminelle, politische Häftlinge, Angehörige von verdächtigen Gruppen
und viele, die gar nicht wussten, warum sie dorthin gebracht wurden. Die Arbeitszeiten waren oft 16 Stunden pro Tag. Es gab vor allem Arbeit in Bergwerken (Oberund Untertagbau), sowie Kanalbauprojekte und Holzarbeit. 1956 wird die Hauptverwaltung der Lager aufgelöst.
Zahl der Gefangenen im Gulag (nach Applebaum 2003)
1936
1938
1940
1948
1950
-
1,3
1,9
1,7
2,2
2,6
Mio.
Mio.
Mio.
Mio.
Mio. – Ges.bevölk. UdSSR 1950: ca. 178,5 Mio. 1952 2,5 Mio.
Es gab zudem Schwierigkeiten bei der exakten Bestimmung der Zahl der im Gulag
Verstorbenen. Dabei gab es unterschiedliche Todesraten je nach Lager, am höchsten
war die Rate in der Region Kolyma (NO-Sibirien).
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
33
Gulag-Debatte in Österreich
Ernst Fischer bezeichnet in der Zeitschrift „Tagebuch“ 1950 die Behauptung, dass es
geheimnisvolle Konzentrationslager hinter dem eisernen Vorhang gebe, als antikommunistische Lüge.
„Die meisten Verurteilten bleiben als freie Arbeiter an ihrer Arbeitsstätte, wobei der Lohn nicht
um mehr als 25 Prozent gekürzt werden darf. In jedem einzelnen Fall wird von freigewählten
Volksrichtern entschieden, ob es zweckmäßig ist, den Verurteilten in ein Arbeitslager zu überführen. In diesem Arbeitslager leistet der Verurteilte produktive Arbeit unter normalen Lohn- und
Arbeitsbedingungen. Leistet er gute Arbeit, wird ihm ein Urlaub von drei bis vierzehn Tagen bewilligt. [...] Fast immer wird die Bewährungszeit wesentlich abgekürzt; wenn das Urteil auf zehn
Jahre lautete, kehrt der Verurteilte meist nach zwei bis drei Jahren in die Freiheit zurück. Ich
kenne aus eigener Anschauung das Arbeitslager Bolschewo, in dem vor allem ‚schwere Fälle‘ gesühnt werden. Dieses Arbeitslager hat eine große Bibliothek, einen musterhaften Klub, ein Kino,
ein Orchester, eine Theatergruppe, Wandzeitungen, Sportplätze. Der Achtstundentag wird streng
eingehalten.“
(TAGEBUCH 5 (1950) H. 2, 19.1.1950, S. 4.)
Das Lager „Bolschewo“, war ein Demonstrationslager, wo man ausländische Gäste
hinführte, musste wissen, dass es sich hier um ein Vorführungslager handelte. Selbst
die Leute haben schon gewusst, dass diese Propaganda nicht stimmt, da es in größeren Berichten thematisiert wurde. Der Artikel von Ernst Fischer war eine Antwort
auf den Historiker Friedrich Heer, welcher das KZ als das hervorstechende Phänomen der modernen sozialen Entwicklung bezeichnete. Es liquidiere den Menschen als
Person und Persönlichkeit. Heer richtet seine Attacke gegen jene Personen, die Konzentrationslager in der Politik und in der Öffentlichkeit tolerieren und rechtfertigen.
Diese Debatte geht jedoch weit über Österreich hinaus. Die Frage der sowjetischen
Arbeitslager war schon seit den 30er Jahren eine Debatte, die stark aufgeladen war
aufgrund von Augenzeugenberichten, welche in Goebbels Propagandaberichten erschienen sind. Die Nazis nutzten diese Tatsachen, um gegen den Kommunismus und
die Sowjetunion zu mobilisieren. Außerhalb des „Deutschen Reichs“ galten diese Berichte damals jedoch als gefälscht und als Instrumente der Nazi-Propaganda.
„Die Enthüllungen Solschenizyns überraschen mich leider nicht so sehr, weil mir Freunde aus diesem Land früher schon viel davon erzählt haben und - groteskerweise - die mir noch sehr erinnerliche Propaganda der Nazis in diesem Punkt ihre volle Bestätigung erhält. Nicht Solschenizyn
fälscht, sondern die hitlerdeutschen Zeitungen hatten damals einfach recht, was auch wir nicht
wirklich glauben wollten. [...]
Wahrscheinlich hat man im Bereich Hitlers über die stalinistischen Ungeheuerlichkeiten die meiste
Wahrheit erfahren können, allerdings nur jeweils in der aggressiven Phase. Während des Paktes
drehte man die Wahrheit ab wie einen Wasserhahn. Wenn ich heute zurückdenke, sehe ich, wie
schwer es ist, in dem Gemisch von Lüge, Verleumdung und Wahrheit die Wahrheit tatsächlich zu
erkennen, denn neben dieser Wahrheit über Stalin las man die fürchterlichsten Lügen über die gloriose deutsche Wirklichkeit.“
(Wolfgang Kraus an Manès Sperber, 20.1.1974)
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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Tatsächlich wurden diese Berichte nach dem zweiten Weltkrieg auch für politische
Zwecke verwendet. Selbst Gulag-Überlebende hatten politisch-strategische Bedenken.
Noch 1956 schreibt die Deutsche Moskau-Immigrantin, die neun Jahre im Gulag verbracht hatte, „als ich Ende August nach Deutschland zurückkehrte, beseelte mich der
Wunsch, sobald wie möglich die Jahre im Zwangslager zu vergessen. Ich hatte nicht
die Absicht, ein Buch zu schreiben, da ich noch im Irrtum der zwei Fronten war“. Da
sie nach wie vor noch Kommunistin war, wollte sie also kein Buch über ihre Erfahrungen schreiben, da sie sonst den Antikommunisten in die Hände spielte. Andere
haben die Existenz vehement abgestritten, oder sie als „Besserungsanstalten“ verharmlost. Diese Debatte hat 1959 zu einem europaweit beachtenswerten Gerichtsprozess geführt.
Die Dokumente und Bücher der Debatte über die sowjetischen Lager wurden sehr
schnell in andere Sprachen übersetzt. Dies führte zu einer weltweiten Verbreitung.
Die Dokumente und Bücher wurden auch von politischen Parteien verteilt und instrumentalisiert.
!
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Zuerst anonym veröffentlicht: „The Dark Side of the Moon“ (1946)!, später unter
dem Name Zoë Zajdlerowa, !
Victor A. Kravchenko, „I choose freedom“ (1946)! erzählt eine Lebensgeschichte,
die den Gulag als "Konzentrationslager“ bezeichnet,
David J. Dallin, Voris I. Nicolaevsky, „Zwangsarbeit in Sowjetrussland“ (1948)
Margarete Buber-Neumann, „Als Gefangene bei Stalin und Hitler“ (1949)!!Witwe
von Heinz Neumann, war eine überzeugte Kommunistin und wurde!! 1939 im Zuge
des Hitler-Stalin-Pakts von den Sowjets (aus dem Gulag) an Deutschland ausgeliefert, vorher jedoch in Moskau noch aufgepäppelt, sodass man in Deutschland
nicht verbreiten konnte, die Menschen in der UdSSR würden an Mängeln leiden.
Sie überlebte das Konzentrationslager;
Elinor Lipper, „Elf Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Lagern“ (1950) war
ebenfalls! überzeugte Kommunistin und wurde grundlos verhaftet. Sie verbrachte
11 Jahre in Kolyma. !
Die Berichte haben bei vielen europäischen Linken Debatten ausgelöst und zu einem
Umdenken geführt. So eine Debatte beendete unter anderem die Freundschaft zwischen Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Beide waren Linke, jedoch forderte
Camus, dass man sich damit auseinandersetzen müsse. Sartre hingegen meinte, man
spiele damit den Feinden in die Hände, außerdem sei Rassismus auch ein Problem der
USA. Höhepunkt der Debatte bildete der Prozess in Frankreich um Victor Kravchenko.! In der Zeitschrift „Lettre Francais“ wurde Kravchenko attackiert und als
Lügner bezeichnet, da er angeblich das Buch nicht selbst geschrieben habe und vom
FBI diktiert worden sei. Kravchenko hat daraufhin die Zeitschrift wegen Verleugnung
verklagt, woraufhin im Jänner 1949 der Prozess stattfand. Internationales Aufsehen
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
35
gab es vor allem wegen der Existenz des Gulags und wegen den Zuständen in der
UdSSR. Es gab hohen Presseandrang und zahllose Zeugen, die ausgesagt haben (Buber-Neumann, Lipper,...) Am Ende des Prozesses wurde die Zeitschrift schuldig gesprochen. Die Zeitschrift „Der Monat“ schrieb, dass die Urteilsbegründung offen ließe,
ob die Sowjetunion tatsächlich das KZ sei, das Kravchenko beschrieben hat. Jedoch
war das Schweigen über den Gulag immerhin gebrochen. Danach war das Thema
nicht mehr wegzuleugnen, obwohl es bei Kommunisten (vor allem parteipolitisch)
nach wie vor ein Tabu war. Der Durchbruch kam schließlich im Jahr 1974 mit „Der
Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn.
Sprechen und Schweigen über Gulag im Diskurs des Kalten Krieges
!In der Österreichischen Literatur galt der Gulag als Schreckensszenario, als „Unort“
und „Abgrund des Kommunismus“ und wurde meistens mit Sibirien, Kälte und Abgelegenheit verbunden, historisch auch mit einem Verbannungsort (zar. Russland). Milo
Dor und Reinhard Federmann beschreiben in „Internationale Zone!“ eine Gefahr der
Deportation, verbunden mit der Vorstellung, was dort passieren würde. Es kommen
auch Ortsnamen vor, darauf wird aber nicht weiter eingegangen. Auch das Schreckensszenario „Sibirien“ wird angesprochen, durchaus mit der Kenntnis über die Gulag-Literatur. Dabei wird der Mensch zur Nummer deklassiert und es herrschen die 5Jahresschritte der Bestrafung.
„Eines Morgens würde er in einem trostlosen sibirischen Kaff erwachen, mit einem langen Bart
und ausgehungertem Magen, und der feine doppelreihige Anzug würde zerrissen und verdreckt an
seinen Knochen herunterhängen. Und dann würde er zur Arbeit geprügelt werden, eine Nummer
unter Millionen, gequält von ewigem Hunger und endlosen Träumen von einer glänzenden Vergangenheit, und das fünf Jahre lang, zehn Jahre, dreißig Jahre. Bis zum Tod.“
(Milo Dor und Reinhard Federmann, Internationale Zone)
Auch Ernst Fischer beschreibt in „Die Brücken von Breisau“, dass hinter dem Kommunismus immer der Abgrund „Sibirien“ verborgen sei. In „Himmelreich der Lügner!“
von Reinhard Federmann geht der Protagonist Bruno Schindler ins Exil nach Moskau und freiwillig zur Roten Armee. Dabei ist er Begleiter beim Transport politischer
Gefangener Richtung Karaganda, Kasachstan - berüchtigte Lagerregion. Federmann
beschreibt die unmenschliche Behandlung der Gefangenen. Diese werden nicht mehr
als menschliche Individuen wahrgenommen und jegliche Empathie solle bereits im
Keim erstickt werden.
„Als wir näherkamen, sahen wir Augen und Münder hinter einem kleinen vergitterten Fenster, und
ein Gestank wie von einer Menagerie verbreitete sich. Keiner von uns hatte Lust, sich den Unglückswagen näher anzusehen.“ [...]
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„Die Gefangenen riefen den ganzen Tag nach Wasser. Zu Anfang bemühte ich mich, mein Gesicht
wegzudrehen, so oft ich an ihnen vorbeiging, aber dann wurde mir das zu mühsam, und ich verzichtete darauf; ich gewöhnte mich auch an ihr Geschrei. [...] für uns waren sie nur auf der Welt,
um bewacht zu werden, und am liebsten hätten wir die ganze Zeit geraucht, um den infernalischen
Gestank nicht zu riechen, der von ihnen ausging.“
(Reinhard Federmann: Das Himmelreich der Lügner)
Federmann erzählt dabei aus der Perspektive eines Bewachers, nicht eines Gefangenen. Schindler wird über ein vermeintliches Himmelreich desillusioniert. Dies führt zu
der eigenen Bewusstwerdung, dass er selbst Anteil am ganzen System habe und
schließlich zur Abwendung vom Kommunismus. Auch der Wasserentzug und der
„Schrecken der kleinen und großen Notdurft“ – also der Gestank von Urin und Fäkalien – wurden oft thematisiert, so auch in der Arbeiterzeitung 1951.
„Wochenlang fuhren die Strafgefangenen durch die flimmernd heißen Steppen und sehr oft erhielten sie, wenn sie quälenden Hunger hatten, nur dick eingesalzene Trockenfische zu essen und
nachher drei bis vier Tage keinen Schluck Wasser. Heiser und halb irrsinnig tönten dann die verzweifelten Rufe nach dem ‚Woda‘ aus dem Zug. Die Ruhr und der Typhus waren die Folgen dieses
Martyriums, und der chronische Durchfall, den sie mit sich bringen und der zu einem völligen Versagen des Afterschließmuskels führt, nahm dem geschwächten Körper die letzten Kräfte des Widerstandes.“
(Anonym: Karaganda – das KZ ohne Grenzen. In: ARBEITER- ZEITUNG, 24.3.1951, S. 5.)
Robert Neumanns „Die Puppen von Poshansk“ (1952) erschien !ursprünglich in englischer Sprache unter dem Titel „Insurrection in Poshansk“. Robert Neumann hat absichtlich die Schreibsprache gewechselt, um im Exil in Großbritannien noch Publikum
zu haben. „Die Puppen von Poshansk“ ist einer der allerfrühesten Texte, die sich ausführlich mit dem Gulag auseinandersetzten (bereits zehn !Jahre vor Alexander Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“). Neumann hat sich immer
mit politischen Themen auseinandergesetzt. Berichte von Überlebenden des Gulag
erschienen ab den 1940ern, wobei Neumann Elinor Lipper im Jahr 1948 begegnete
und ausführliche Gespräche mit ihr führte. Er füllte Notizbücher mit ihren Erzählungen, welche sich aber nicht in seinem Nachlass finden. Offensichtlich hat er aber Lippers Buch „Elf Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Lagern“ genau gelesen, da es
Zitate daraus gibt. Neumann war bewusst, dass sein Text politische Sprengkraft hat.
Er gab zwei Exemplare an befreundete DDR-Autoren, überzeugte Kommunisten.
Diese waren empört. Neumann bezeichnete den Text als Waffe und einige Jahre später als „militant antistalinistisch, aber nicht unfreundlich gegenüber der kommunistischen Grundidee“. Dies beschreibt einen Vertreter einer dritten Position, die nicht
einer einzigen Seite zuordenbar ist.
Die Frage ist, wie sich ein Autor diesem Thema nähert? Vor allem aus zweiter Hand.
Und wie lässt sich das literarisch verarbeiten? Es ist vergleichbar mit der Auseinandersetzung mit dem Holocaust. !Mit einer höchst eigensinnigen Lösung (literarischer
Ursprung als Parodist) weist er auf die neue Ästhetik hin, die am Beginn der 1950er
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Jahre im entstehen war. In der Inhaltsangabe von Lippers buch bringt sie Beispiele
über den vollkommen verzerrten Bericht von Henry A. Wallace „Soviet Asia Mission“
(1946), was die Grundlage für Neumanns Roman bildete.
“Ein Schulbeispiel für die Oberflächlichkeit und Haltlosigkeit ausländischer Berichte über die Sowjetunion von Besuchern, die nach kurzem Aufenthalt die Wahrheit über dieses Land zu berichten
glauben, ist das Buch von Henry A. Wallace «Soviet Asia Mission». Bewundernd spricht er über
das erstaunlich schnelle Wachstum der Stadt Magadan [...] Daß es ausschließlich Gefangene sind,
die unter unmenschlichen Bedingungen diese Stadt aufbauten und bauen – darüber schweigt
Wallace – oder er weiß es nicht. Er bewundert «die dreihundertfünfzig Meilen lange Chaussee, die
vom Hafen über die Berge nach Norden führt und das ganze Jahr hindurch befahrbar ist». Daß
diese Straße ausschließlich von Gefangenen erbaut wurde, daß Tausende und Abertausende ihr Leben beim Bau dieser Straße ließen – darüber schweigt Wallace – oder er weiß es nicht.“
(Elinor Lipper)
Daraus wird eine bis ins Groteske gehende Satire, die eine enorme Kluft zwischen
kommunistischer Rhetorik und sowjetischer Realität beschreibt. Poshansk ist zwar
ein fiktiver Ort, dieser liegt jedoch in der Nähe des realen Kolyma.
„[W]ir haben Stellen entdeckt, wo wir den Abgang an Menschen aus dem Lager oder einen Kameraden, je nach dem Fall begraben können, und zwar so tief, daß keine Hand, kein Fuß herausschaut, und das ist allein die Folge proletarischer energischer Kultivierung des Bodens. Und wahrscheinlich bessert sich auch das Wetter, denn unsere Wettersachverständigen sind die besten in
der Welt, und so haben wir Grund zu entschlossenem Optimismus, Genosse UnterdistriktsKommissar.“
(Robert Neumann, Die Puppen von Poshansk)
Menschen werden als Zahlenmaterial behandelt („Abgang von Menschen aus dem
Lager“). Es geht dabei nicht um tatsächlich begangene Verbrechen.! Es wird das Unterdrückungssystem dargestellt, indem man jederzeit angeklagt werden konnte. Ein
Verdacht oder eine Anschuldigung konnte bereits das Todesurteil sein. Deshalb gab
es die Unterwerfungsgeste, um sicherzustellen, auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Die
großartigen Leistungen der UdSSR mussten immer gelobt werden. Das Schlüsselelement im Text ist die Unsicherheit, ob man noch zum Kreis der Unterstützer gehört,
zum „echten Sowjetmenschentum“, oder ob man schon ausgegrenzt wurde. Es
herrscht eine ständige Überprüfung durch Genossen und hierarchisch Übergeordnete.
Eine Abweichung vom System kann tödliche Folgen haben, auch, wenn es nur ein
Vorwurf oder Denunziation sind. Dies beschreibt das Motiv der proletarischen/sozialistischen Wachsamkeit, der „Verdacht auf alle“. In Poshansk gibt es auch
ein paar freie Menschen. Diese haben ständig die Opfer der politischen Säuberungen
vor Augen. Die Motive der Täuschung und des Misstrauens prägen jedoch nicht nur
Sowjets untereinander, sondern die Motive gibt es auch gegenüber den USA.
Der Aufstand in Poshansk ist jedoch eine Täuschung. Dabei sind alte Revolutionäre
aus der Oktoberrevolution beteiligt (dies ist ein wichtiges Motiv im Text, da die Ver-
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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nichtung der Mitrevolutionäre der Oktoberrevolution ein wichtiges Ziel von Stalin
war). Eine Gruppe von Aufständischen wird von der Elite angeführt, wie lebende Tote, Skelette in Lumpen, zahnlos und stinkend. Es stellt sich heraus, dass der Aufstand
von der Staatspolizei inszeniert war, um herauszufinden, wer sich anschließen würde
und um diese Menschen folglich zu beseitigen. Das Phänomen der Täuschung steht
dabei klar im Zentrum, was sich auch in einem Gespräch zwischen dem GulagInsassen Toboggens und dem Funktionär Bebitz zeigt.
„Bebitz sagte: ‚Drüben sind von gegenrevolutionären Elementen und Faschisten allerlei sentimentale Gerüchte in Umlauf gesetzt worden. Daß wir Zwangsarbeiter in die Bergwerke treiben. Über
Lager. Dick aufgetragen. Böswillige Verleumdungen. Natürlich haben wir Lager. Übertreibungen in
bezug auf das eine oder die zwei Lager, die wir hier haben.‘ ‚Eins oder zwei?‘ Dieses Mal war
Toboggens Frage hörbar. Bebitz wischte sie ungeduldig weg. ‚Oder drei oder vier. Oder auch vierzehn. Was will das schon bedeuten? Haben wir Gaskammern, wie die Nazis sie hatten? Nein. Einzelheiten interessieren mich nicht, [...].‘ “
(Robert Neumann, Die Puppen von Poshansk)
Weitere Themen, die im Roman behandelt !werden sind Bestrafung, Krankheit,! Bevorzugung von kriminellen! Gefangenen vor politischen !Häftlingen, Wanzenplagen,!
Ungezieferplagen usw. Die Geschichte über eine Entlausung mit halber Temperatur,
um doppelt so viel in gleicher Zeit waschen zu können, findet sich auch bei Lipper.
„Genickschuß auf dem Verwaltungsweg. Genickschuß nach gesprochenem Urteil. Genickschuß, weil
Widerstand bei Verhaftung. Aufgehängt wegen böswilliger Nichterfüllung des Arbeitsminimums
beim Baumfällen. Mit siebzehn anderen aufgehängt wegen Teilnahme an einer Flüsterkampagne
über den Zustand der Sowjet-Union. Wegen einer Karikatur in einer Einzelzelle erfroren. Wegen
absichtlichen Hinkens bei einer Parade erfroren. Beim Abschleppen gefällter Bäume erfroren. Beim
Straßenbau erfroren. In den Bleibergwerken zu Tode gehetzt. In den Kupferbergwerken zu Tode
gehetzt. In der Fischkonservenfabrik zu Tode gehetzt. Bei einem Aufstand totgeschlagen. Von der
Wache erschlagen, weil er zu langsam ging. Weil er ein Viertel Brot stahl. Weil er mit einem Mädchen ertappt wurde. An Tuberkulose gestorben. An Malaria gestorben. Einfachen Hungers gestorben. [...]“
(Robert Neumann, Die Puppen von Poshansk)
Trotz vieler Details maßt sich „Die Puppen von Poshansk“ nie die Perspektive des
Augenzeugens an. Es gibt keinen Ich-Erzähler und somit keine Identifikationsfigur.
Vor allem herrscht eine gewisse Distanz. Es wird keine Innensicht des Lagers geschildert, da es nie zum tatsächlichen Schauplatz wird. Thematisiert wird auch der Tod
durch Arbeit.
„Im Goldbergwerk stirbt man innerhalb von zwei Jahren, abgesehen von denen, die in einem Jahr
sterben, und beim Baumfällen stirbt man in drei Jahren, wenn man nicht schon vorher dran glauben muss.“ [...] Das ist das richtige Wort: weshalb? Wo man sie doch zum Baumfällen und so weiter gebrauchen kann. Unrentabel. Hier wird niemand vergast. Immer nur Bäume. Oder Gold. Oder
Bäume.“
(Robert Neumann, Die Puppen von Poshansk)
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
Zur Rezeption des Werks
Obwohl das Werk als frühe literarische Auseinandersetzung mit dem Gulag ein einzigartiges Ereignis in der österreichischen Nachkriegsliteratur darstellt, ist es heute
weitgehend vergessen. !1952 wurde der Roman relativ breit wahrgenommen, vor allem
im englischsprachigen Raum. Jedoch wurde der Text skeptisch von anderen ExilautorInnen besprochen. Gelobt wurde vor allem die scharfe Satire. Kritisiert wurde, dass
die Geschichte teilweise oberflächlich ist. Je nach Ausrichtung der Zeitung wird der
Text auch als politisches Statement unterschiedlich gelesen. Es gab ein wesentlich
geringeres Ausmaß an Rezensionen im deutschsprachigen Raum, wobei Rezensent
Wolfgang Bächler die Geschichte womöglich nicht richtig verstanden hat.
„Mr. Neumann is knowledgeable and has its moments of sharp and grisly comedy, but the satirical
design of the book is rather more facile than it need or should have been.”
(THE TIMES, London, 6.6.1952)
“Insurrection in Poshansk is a vigorous political satire directed against totalitarianism. [...] There
is much in the novel, that is amusing; but its satirical thrusts are deep and penetrating and the
follies of the totalitarian system are scathingly exposed.”
(THE SCOTSMAN, 3.7.1952)
„Er parodiert sich selbst zu Tode. Er parodiert die Reden, Gespräche und Gedanken sowjetischer
Wirtschafts-, Kultur- und Polizeifunktionäre, Flinten- und Eheweiber, der amerikanischen Finanzhyäne, [...]. Und einmal im Schwung und Schwange des Parodierens, parodiert der Autor auch die
Opfer der NKWD in den sibirischen Lagern auf wenig geschmackvolle Weise gleich mit, lässt sie
einen völlig abstrusen Lageraufstand und knochenklappernden Gespenstertanz mit konterrevolutionären Regierungsproklamationen und Konterschauprozessen vollführen.“
(Wolfgang Bächler In: DIE LITERATUR, 15.5.1952)
Für Friedrich Dürrenmatt ist die Form der Komödie entscheidend im Umgang mit
solchen Themen.
„Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur
Atombombe [...]. Doch das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die
Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt.“
(Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme, 1954)
Dabei ist das Groteske laut Dürrenmatt die einzige Form, mit solchen Themen umgehen zu können. Er betont dabei die Poetik der Groteske. Das Verzerrte in der Groteske sei die adäquate Form, damit umzugehen.
„Das Groteske ist eine äußerste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen und gerade darum fähig, Zeitfragen, mehr noch, die Gegenwart aufzunehmen, ohne Tendenz oder Reportage zu sein.
Ich könnte mir daher wohl eine schauerliche Groteske des Zweiten Weltkriegs denken, aber noch
nicht eine Tragödie, da wir noch nicht die Distanz dazu haben können.“ [...]
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„Das Groteske ist eine der großen Möglichkeiten, genau zu sein. Es kann nicht geleugnet werden,
daß diese Kunst die Grausamkeit der Objektivität besitzt, doch ist sie nicht die Kunst der Nihilisten, sondern weit eher der Moralisten, nicht die des Moders, sondern des Salzes. Sie ist eine Angelegenheit des Witzes und des scharfen Verstandes (darum verstand sich die Aufklärung darauf)
[...]. Sie ist unbequem, aber nötig ...“
(Friedrich Dürrenmatt: Anmerkung zur Komödie, 1952)
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Kapitel 7
Kommunistische Literatur: Die Dramen Ernst Fischers
Die kommunistische Literatur hat einen bestimmten Zweck und eine klare politische
Programmatik und Zielsetzung. Die Texte erreichen ein weitgehend kommunistisches
Publikum. Auch wenn die Texte kommerziell nicht erfolgreich waren, war ein umfangreiches Netzwerk vorhanden, in dem die kommunistische Literatur verbreitet
wurde.
Als Propagandamittel war die Literatur im NS nicht so wichtig wie Radio und andere
Medien. Im Kommunismus war dies anders. Der Schriftsteller wurde als „Ingenieur
der menschlichen Seele“ (nach Stalin) bezeichnet. „Das heißt, es kann keine lebensfremde Romantik geben sondern nur eine revolutionäre Romantik“. Es soll also keine
eskapistische Literatur sein, sondern es geht um Materialismus, um eine Literatur,
die in der Wirklichkeit fest verankert ist. Das Schlagwort des „Sozialistischen Realismus“ und die Frage danach, was dies sei und wie man sich dazu verhalte, war immer
wieder Thema in dieser Debatte. Die Literatur soll die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, die historischen Produktionsmittel und eine positive Perspektive
in Richtung eines Sieges des Sozialismus zeigen. Diese spezifische Ästhetik wurde
verwendet, um unliebsame AutorInnen zu verfolgen und auszugrenzen.
Ernst Fischer wurde 1988 geboren und ist 1920 zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beigetreten. Nach den Februarkämpfen tritt er der KPÖ bei und geht ins Exil
nach Moskau mit dem Schutzbund. Fischer hatte eine bedeutende Rolle unter den
Emigranten des Schutzbundes inne. 1945 kehrt er nach Österreich zurück und bildet
mit Johann Koplenig und Friedl Fürnberg die Parteispitze der KPÖ. Somit ist Fischer Mitglied der provisorischen Regierung um Karl Renner. Fischer ist publizistisch als Redakteur der kommunistischen Zeitschrift „(Österreichisches) Tagebuch“
tätig. In den 60ern beginnt Fischer, sich mit anti-stalinistischer Kritik unbeliebt zu
machen. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 68’ kritisiert Fischer ganz vehement mit dem Schlagwort „Panzerkommunismus“ und wird 1969 aus der Partei ausgeschlossen. Seine Erinnerungen betitelt er ganz bezeichnend mit „Das Ende einer
Illusion“.
„Der große Verrat“
Der aktuelle Anlass ist die Entfernung und das Abrücken Jugoslawiens von Moskau
1948/49. Tito begann ab dieser Zeit eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben und
wollte eine Art dritten Weg einschlagen, wobei es massiven Druck und Kritik on Seitens Stalins bzw. Moskaus gab. Es kam dabei zu einem Bruch und man warf Tito
vor, sich dem Kapitalismus zu verkaufen und gegen die Interessen des Kommunismus
zu handeln. Der Protagonist Pablo Malabranca steht für die reale Person Tito. Die
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zweifelnde Tochter des Malabranca wird von einem sowjetisch Delegierten überzeugt,
dass das, was der Vater tut, der dritte Weg, gar nicht geht:
„MOROSOW: Es gibt nur eine Welt des Sozialismus, so wie es nur eine Welt des Kapitalismus
gibt. [...] Heute gibt es nichts als zwei Fronten. Und zwischen den Fronten wächst kein Gras,
blüht kein Baum.“
(GV 32)
Diese Zwei-Lager-Theorie, die dualistische Wahrnehmung der Welt aus zwei Fronten.
Tito wird ein Verrat am Kommunismus vorgeworfen. Die Figurenzeichen ist schematisch. Es gibt eine deutliche Trennung von guten und bösen Charakteren mit zwei
Ausnahmen. Die Vertreter des Westen sind zynisch, dekadent, verlogen. Die russischen Gesandten sind aufrecht in ihrer Weltanschauung, gefestigte Persönlichkeiten
mit klaren politischen Positionen. Der Sohn Malabrancas, Diego, ist am Beginn och
durchaus dem Individualismus zugeneigt und gegen den kommunistischen Kollektivismus. Seine linientreue Tochter, die bereits überzeugt worden ist, diskutiert mit
ihrem Bruder Diego. Die besseren Argumente haben jedoch die antikommunistischen
Figuren. Das Drama vermittelt den Subtext der Zweifel mit dem politischen System,
die immer wieder an die Oberfläche rutschen. Das propagandistische Kalkül des Stückes: man soll nicht darauf reinfallen, dass die Gegner des Kommunismus sympathischer sind als diejenigen, die der Parteilinie treu sind, nach dem Motto „Die Sache
macht den Menschen zur Nebensache“.
Die Arbeiterzeitung nannte Fischer Stück „linientreu“. Dem Stück ist eine deutliche
Polemik gegen den Westen eingeschrieben. Es wird beispielsweise ein englischer Spion
ermordet und als „unnützes Leben“ gerechtfertigt. Der Westen wird durchgehend als
dekadent und dem Tod geweiht dargestellt. Ganz anders die jugoslawischen Figuren,
die vor Kraft strotzen. Selbstbewusste, starke Persönlichkeiten werden gezeichnet.
„ROBIN: [...] moralisch ist uns der Kommunismus turmhoch überlegen. Unsere Kraft ist die Unmoral, die glänzende, verführerische, attraktive Unmoral.
[...]
Mit uns stirbt eine Welt, das ist wahr. Aber im Fieber des Todes wachsen uns Riesenkräfte. Wir
sind ansteckend.
[...]
Es ist ein sonderbares Gefühl, einer untergehenden Klasse in einem untergehenden Weltreich anzugehören.
MADUROS: Weißt du, was kommen wird, kommen muß, wenn wir uns losreißen von der Sowjetunion? [...] Alles, was faul und giftig ist, steigt aus dem Kehricht auf, setzt sich auf uns wie ein
Fliegenschwarm. Was tot war, ist nicht mehr tot, Vergangenheit erwürgt die Gegenwart, über den
Ozean weht die Krise ins Land, der Leichendunst des Untergangs. Das Volk wird arm sein, leiden,
schweigen – bis es aufsteht gegen euch, bis es euch stürzt.“
Malabranca schlägt diese Warnung in den Wind. Denunzierung mit den Todes- und
Verfallsbildern, die aneinandergereiht werden. Am Schluss bekommt Malabranca sei-
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
nen 30 Mio.-Dollar-Kredit. Er verkauft sein Land. „Politiker kann man kaufen, das
Volk nicht. Das Volk, das man nicht kaufen kann, ist reif für den Kommunismus.“
Das nicht-käufliche Volk sei somit nicht kommunistisch. Deshalb sei der Kommunismus auch jene Politik, welche die Interessen des Volkes vertrete. Ernst Fischer hat
sich später von diesem Stück distanziert. Seine politische Einschätzung Titos wäre
völlig falsch gewesen. Den Verrat am Volk habe nicht Tito, sondern Stalin begangen.
Die Brücken von Breisgau
Otto Tausig nennt dieses Stück als zweites miserables Stück. Als historischer Anlassfall gilt der Fall Bamberg.
„Der Bamberger Stadtrat hat ein Beispiel gegeben, das ihn über viele andere zeitgenössische Stadtratversammlungen turmhoch emporhebt. Er hat einstimmig eine Weisung der Bonner Bundesregierung [...] abgelehnt. Die amerikanischen Substituten von Bonn haben nämlich dazu aufgefordert, den Besatzungsbehörden die Baupläne der Brücken zu Sprengvorbereitungen auszuhändigen.
Bürgermeister Grosch erklärte: ‚1933 haben wir gegen die Gewaltherrschaft gekämpft und sind dafür in die KZ gegangen. Darum werden wir auch heute gegen derartige Maßnahmen eintreten. Wir
haben keine Veranlassung bei Zerstörungen mitzuhelfen.’
Der Bamberger Oberbürgermeister Weegmann erklärte:
‚1945 hat man die Brückensprengungen als Sinnlosigkeit dargestellt. Wir haben Vorwürfe bekommen, daß wir damals Befehle ausführten, ohne uns zu weigern. Jetzt wollen wir unsere Fehler von
damals nicht wiederholen.’“
(TAGEBUCH 6 (1951) H. 8, 14.4.1951, S. 1.)
Die Kommunisten als Fortsetzer der Nazi-Politik ist ein ganz wichtiges Motiv im
Kalten Krieg. Die Brücke gilt dabei als Friedenssymbol. Der historische Kontext
schließt an eine NS-Brückensprengung zu Kriegsende an. Das Bild der gesprengten
Brücke aus Breisach/Baden war in der Nachkriegszeit ein sehr präsentes Bild. Dies
schließt an angebliche Brückensprengungspläne der US-Besatzungstruppen an. Der
Brückenbau gilt dabei als entscheidendes Friedenssymbol und wird somit negativ
gegen den „Feind“ instrumentalisiert.
Am Beginn des Stücks steht ein Brückeneinweihungsfest der gesprengten NaziBrücke. Der deutsche Wehrmachtsangehörige, der die Brücke sprengen ließ, wird mit
den Amerikanern gleichgesetzt.
„Ein Herr (tritt an den Kiosk): Haben Sie die Deutsche Soldatenzeitung?
Verkäufer (gibt ihm eine Zeitung): Bitte, mein Herr - !!
Der Herr: Die deutsche Soldatenzeitung, nicht die amerikanische!!
Verkäufer: Entschuldigen Sie – im Zwielicht kann man sie kaum unterscheiden. (Der Herr geht.)
Dirnböck: Deutsche Soldatenzeitung – das gibt’s auch schon!!
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Verkäufer: Alles kommt wieder, Herr Stadtrat. Nur mein Bein wächst nicht nach. [...] Hoffentlich
kommt nicht auch der Stumpf noch zurück.!
Dirnböck: Der sitzt bei den Amerikanern.
(BB 7)
Im Zentrum der Handlung steht ein unpolitischer junger Mann, was ganz typisch für
solche Stücke ist. Dieser Heinz Zweidler wird im Stück in eine Debatte verwickelt, die
ihn zwingt, Stellung zu beziehen. Am Ende des Stücks werden die angeblichen die
Pläne der Amerikaner verhindert und es wird berichtet, dass viele andere Städte der
Stadt Breisgau folgen.
Die acht ideologischen Achsen im Stück, welche stark plakativ aufgenommen werden,
beschreiben die (1) Parallelisierung von NS und USA, welche ein neues Bündnis bilden im Gespräch von Heinz Zweidler und Stumpf über die Brückenplänen. Dabei entscheidet sich Heinz dagegen, den Amerikanern die Pläne zu geben, da er sie als neue
Kriegspläne deutet. Daneben (2) vertreten die US-Besatzer die Interessen der USWirtschaft, wobei (3) die Kommunistische Partei als Vertreterin der Interessen der
einheimischen Bevölkerung präsentiert wird. Die vierte ideologische Achse ergibt sich
durch (4) die Unmöglichkeit einer neutralen Position zwischen den beiden Polen, worauf (5) die Konvertierung des Zweiflers Heinz Zweidler zur „richtigen“ Tat folgt. (6)
Der Kommunismus stiftet demnach Sinn: „Volk. Menschheit. Frieden. Wahrheit. Liebe“ und stellt damit (7) den Beginn einer sich verbreitenden Auflehnung der Basis
dar, was durch die (8) Parole am Schluss: „Ami go home!“ gestützt wird.
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Kapitel 8
Romeo und Julia im Kalten Krieg
Es gibt zwei unterschiedliche Funktionalisierungen des Romanstoffs:
1) Die lagerübergreifende Liebesgeschichte lädt den politischen Diskurs emotional auf:
„[...] der Eiserne Vorhang, der Deutschland geographisch in zwei Hälften gespaltet
hat“ geht „schließlich vielleicht noch quer durch die Herzen“ (DIE ZEIT, 1947)
2) Die Spannung des Kalten Krieges verschärft die Konturen der Liebesgeschichte –
Die für den Kalten Krieg konstitutive Bipolarität kommt dabei dem strukturellen
Kern dieser Erzählungen entgegen.
Die Bipolarität kommt dem Stoff des Romans insofern entgegen, da gleiche Ausgangspunkte bzw. Möglichkeiten in der Protagonisten im Hinblick auf Status, Geld
oder familiärer Hintergrund keine inhaltliche Spannung im Text erzeugen. Die erbittliche Feindschaft zwischen den zwei Blöcken, denen die Figuren angehören, trägt zur
Spannung und zur Popularität der Liebesgeschichte bei (ähnlich wie bei Westside
Story usw.). Die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West spielt auch im Hollywoodfilm eine bedeutende Rolle. Ein berühmter Film entstand bereits vor dem Kalten Krieg, „Ninotschka“ von Ernst Lubitsch. Der Film gehört dem Genre der romantischen Komödie an, allerdings gibt es immer wieder klar politische Anspielungen auf
die repressiven Verhältnisse der stalinistischen Herrschaft in der Sowjetunion. Die
Abgründe der stalinistischen Gewalt spielen im Film eine bedeutende Rolle, der sich
um eine „kalte“ Kommunistin dreht, die in den Westen „hinübergeliebt“ wird. Ein
zweiter Film, der die Systemkonkurrenz ebenfalls thematisiert, war Billy Wilders „One, Two, Three“. Im Film geht es um einen überzeugten Jungkommunisten, der sich
in die Tochter des Coca-Cola-Konzernchefs verliebt. Der Jungkommunist gibt sein
Leben buchstäblich auf und geht für sie in den Westen. Noch während der Dreharbeiten wurde die Berliner Mauer gebaut, weshalb die Thematik des Films als sehr problematisch betrachtet wurde und der Film vorerst in Vergessenheit geraten ist. Erst in
den 80er Jahren wird er wieder entdeckt.
Sehr typisch für diese Filme sind die düstere Szenerie des kalten Krieges und das kalte, nasse Wetter. Es gibt ganz klare und ideologische Positionierungen, „Romeo und
Julia“ schlagen dabei nie einen sogenannten „dritten Weg“ ein. Dies hängt logsicherweise von der Ideologie des Autors ab.
Romeo und Julia in Wien von Milo Dor und Reinhard Federmann
Dor und Federmann wollten einen Unterhaltungsroman schreiben. Sie übertrugen
den Shakespeare’schen Stoff in das Wien der Besatzungszeit und gleichzeitig in ihre
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
Gegenwart. Die Protagonisten haben sogar weitgehend gleiche Namen wie bei Shakespeare.
Montagues vs. Cpulets
Romeo Montague
Julia Capulet
Tybalt (= Cousin Julias)
Mercutio (= bester Freund Romeos)
Bruder Lorenzo
USA vs. UdSSR
Romeo Wilson – ein amerikanischer
Journalist (bei New York Tide) und
ehemaliger Korea-Kämpfer
Julia Mischkin – russische Übersetzerin
bei der TASS
Major Tubaljow
Mark Roberts
Hofrat Lorenz
Die Übertragung funktioniert in vielen Aspekten sehr gut, was bis in die Details der
Handlung übergeht. Auch zwei versteckte Selbstportraits von Dor und Federmann
sind enthalten (zwei Cognac trinkende, junge Männer).
„Aber das ist doch interessant! Das ist der Kühlschrank, in den der Krieg gelegt ist. Schau, wie
nett sie zueinander sind. Dabei hassen sie einander. Sie sind bereit, einander exekutieren zu lassen,
sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt. Heute trinken sie noch Aperitifs und unterhalten sich über
Cocteau.“
Auf diesem diplomatischen Empfang lernen sich die beiden kennen, wonach sie in ein
Lokal gehen und politische Gretchenfragen diskutieren. Dass Romeo Amerikaner ist,
erschreckt Julia. Aber auch ihre russische Herkunft lässt Romeo zurückschrecken.
„‚Haben Sie nicht gewußt, daß ich Russin bin?’ Sie sah ihm zum erstenmal wieder in die Augen.
‚Nein, ich dachte mir zuerst, Sie seien eine Deutsche, und dann hielt ich Sie für eine Schwedin.’
‚Schweden ist gar nicht so weit von Leningrad’ [...]. Ich habe nichts gegen die Russen’, sagte
Romeo. ‚Ich bin nur kein Verehrer ihres Systems.’“
Diese erste Begegnung bringt die beiden dazu, die Propagandaklischees zu besprechen
und zu überwinden.
„‚Sie sind eigentlich der erste Amerikaner, den ich kennenlerne, und ich habe mir die Amerikaner
immer ganz anders vorgestellt.’ ‚Na, und wie? Dick, gefräßig, mit einem fischigen kalten Blick und
gefletschten Zähnen?’“
(Dor/ Federmann, Romeo und Julia in Wien)
Zeitgenössische politische Elemente wie die Propaganda der Sowjets gegen Amerikaner und umgekehrt finden immer wieder Eingang in die Literatur des Kalten Krieges.
Auch Berthold Brecht nimmt die zeitgenössische Propaganda mit den Kartoffelkäfern
in eines seiner Gedichte auf. Die Figur des Tybalt, der in Shakespeares „Romeo und
Julia“ äußerst grausam ist, wird übertragen auf die Figur des Major Tublajow, der
ebenfalls als gewalttätiger und partei-orthodoxer Mensch beschrieben wird. Dieser
warnt Julia vor Romeo, er sei ein Agent, der sie anwerben wolle. Auch hier verläuft
die Handlung ähnlich, da Romeo bei Dor und Federmann wie auch bei Shakespeare
Tybalt bzw. den Major schließlich ermordet. Zuvor denunziert der Major Tubaljow
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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Julia bei ihrem Vorgesetzen, „sie sei zum Feind übergelaufen“. Auch hierin ist eine
reale Bedrohung in den fiktiven Roman eingeschrieben, da dieses Überlaufen zum
Feind auch in der Realität des Kalten Krieges eine höchst bedrohliche Anzeige darstellte, die sogar zur Todesstrafe führen konnte.
Der Roman gilt weitgehend als Kritik an der Sowjetunion, jedoch kommt auch Kritik
an den USA vor, wenn auch nur in geringem Ausmaß. Die Situation spitzt sich vor
allem durch die Ermordung Tubaljows durch Romeo zu. Der Roman hebt die Sowjetunion als Land der Unterdrückung hervor, was bis in die österreichische Besatzungszone hineinreicht. Strukturell sind die politischen Verhältnisse sehr einfach und
reibungslos in den Roman und nach Wien transformierbar. Wie im Original kommt
es im Roman zu einer enormen Verzögerung des Informationsflusses. Das Täuschungsmanöver von Julia, die einen Selbstmord vortäuscht, dringt nicht zu Romeo
durch, der daraufhin durch einen von ihm absichtlich hervorgerufenen Autounfall
tödlich verunglückt.
Unterschiede zu Shakespeare sind in zwei zentralen Punkten erkennbar:
1) Die Paranoia vor Spionage und Konspiration gegen die Sowjetunion und somit die
Unmöglichkeit der Liebe und Tod der Titelfiguren wird eindeutig der Sowjetunion
zugeschrieben. Der Roman hat also eine klare politische Position.
2) Anders als bei Shakespeare fehlt auch die Versöhnung der Familien am Grab der
Toten.
Die inhumane Dimension des Kalten Krieges und die System- und Totalitarismuskritik werden im Roman thematisiert. Eine Einbettung in den zeitgenössischen Kontext
findet sich in der (1) scharfen Bestrafung von Beziehungen zwischen ÖsterreicherInnen und Angehörigen der sowjet. Besatzungsmacht und in der (2) amourösen Beziehungen in Form von Spionage („Romeo-Methode“). Spionage war ein zentrales Element im Kalten Krieg. Das Wissen über den Feind wurde also immer wichtiger,
wodurch Beziehungen, um etwas über den Feind herauszufinden, zu Straftaten wurden. In den meisten Fällen waren diese Spionagevorwürfe maßgeblich übertrieben.
Kritik am Roman wurde laut, indem ihm vorgeworfen wurde, dass Wien schon zur
Kulisse jeder Reportage herabgesunken sei, und über das wirkliche Wien und dessen
Menschen nicht viel zu erfahren sei, lediglich über dort zufällig sich aufhaltende politische Personen.
Romeo und Julia an der Bernauer Straße
Diese Erzählung von Franz Kain erscheint ein Jahr nach Dors und Federmanns Buch
und spielt in Berlin. Symbol der Trennung von Berlin und der Systeme – und damit
auch das Zentrum der Erzählung – bildet die Bernauer Straße. Die neue und die alte
Ordnung werden einander gegenübergestellt:
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„Auf der Südseite der Bernauer, ‚im Osten’, gingen die Leute daran, eine neue Form des menschlichen Zusammenlebens zu erproben, denn die alte Ordnung hatte ihnen nur die Vernichtung all
dessen gebracht, was dem Menschen lieb und teuer ist. Wozu aber die alte Ordnung hundert Jahre
gebraucht hatte und hundert Jahre lang Erfahrung sammeln konnte, das sollte [Hervorhebung d.
Verf.] die neue Ordnung in wenigen Jahren schaffen: Arbeit für jeden und alles, was jeder zum Leben braucht. [...] Auf der Nordseite, also ‚im Westen’, wurde die alte Ordnung [Hervorhebung d.
Verf.] wiedererrichtet [...]. Große Zuschüsse und Anleihen wurden in diesen Teil der Stadt gepumpt, und die Schaufenster begannen sich schnell zu füllen. Freilich, die ganze Kläglichkeit besteht heute wie seit hundert Jahren darin, daß die alte Ordnung nicht imstande ist, die Schätze
richtig zu verteilen, die der Mensch aus dem Stein und dem Eisen schlägt. Die Reichen von einst
waren bald wieder reich, aber die Zahl der Menschen, die keinerlei Reichtümer sammeln konnten,
war größer als je zuvor. Jeder dritte, zeitweise sogar jeder zweite arbeitsfähige Mann auf der Nordseite der Bernauer war arbeitslos.“
(Franz Kain, Romeo und Julia an der Bernauer Straße)
Die Figurenkonstellation stellt als den Feind nicht nur die USA, sondern auch die
Sozialdemokraten dar. Die Protagonisten Helga Kowalski aus dem Westen und Heiner Schradow aus dem Osten sind stark verfeindet.
„Jeder hielt nun den anderen für einen Abtrünnigen, und weil sie zu halsstarrig waren, sich wie
früher gründlich auszusprechen, entstand bald eine schwelende Feindschaft. Wenn der eine geringschätzig von den ‚Ostsektoranern’ sprach, dann hatte er zunächst Paul Schradow vor Augen, und
wenn der andere sich über die ‚Spitzbäuche’ ausließ, dann bezog er stets auch Maxe Kowalski in
diese Kategorie ein.“
(Franz Kain, Romeo und Julia an der Bernauer Straße)
Ein weiteres wesentliches Element des politische Diskurses ist die doppelte Politisierungsgeschichte oder Erweckungsgeschichte: Heiner wird durch die Auseinandersetzung mit Helga politisiert. Die Figuren versuchen sich, gegenseitig zu verstehen.
Helga führt immer wieder die Argumente ihres Vaters ins Treffen. Heiner kann sie
aber schlussendlich überzeugen, dass die DDR nicht so schlecht ist, wie sie glaube.
Dies wird zum Teil sehr plakativ formuliert. Die West-Argumente gegen die DDR
werden also sukzessive widerlegt (z.B. Fleischversorgung). Die Konversionsgeschichte
zeigt, dass Helga durch ihre konkrete Erfahrung im Osten „bekehrt“ wird. „Arbeitslosigkeit im Westen: „’Wie lange soll ich noch herumlungern ohne Ziel [...]?“’ Früher
hatte sie darüber gespottet, daß man im Osten weit mehr alte Weiber auf den Straßen sähe als im Westen. Aber wenn sie jetzt um sich blickte, fühlte sie, daß die Mädchen ihres Alters nur deshalb die Straßen bevölkerten, weil sie keinen Platz in den
Ämtern, Büros und Betrieben fanden.“
Der Text führt die Widersprüchlichkeit des Westens deutlich vor. Von DDR-Seite
gab es durchaus Lob für den Text, da er das System des Ostens durchaus positiv darstellt. Die Beziehung zwischen Helga und Heiner wird von beiden Vätern massiv kritisiert. Heiners Vater interpretiert die Beziehung auch als klar politisch und zeigt sich
enttäuscht von seinem Sohn und macht ihm Vorwürfe. Helgas Vater reagiert in gleicher Weise und schimpft den Freund der Tochter einen „Russenknecht“. Die scharfe
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politische Abgrenzung wird hier deutlich. Das Paar nähert sich jedoch über ihre Diskussionen immer weiter an, während sich die Väter prügeln. Die Mütter versöhnen
sich. Die Erzählung endet damit, dass die beiden, Heiner und Helga, gemeinsam auftreten und gleichsam in den technisierten Sonnenuntergang gehen. Interessant ist der
Text, da er das Sujet der Liebesgeschichte verwendet, um ein politisches Thema anzusprechen.
Am Ende der Erzählung gibt es spanenderweise ein Happy End gen Osten: der Systemkonflikt wird vom Liebespaar überwunden, indem sie sich lieben und die Mütter
gut verstehen. Es folgt ein leuchtendes Ende.
„‚Gehen wir’, sagte Heiner Schradow nur. Sie traten, noch unschlüssig, auf die Straße hinaus. Da
legte Heiner Schradow seinen Arm fest um die Schultern des Mädchens, und jetzt überquerten sie
langsam, doch ohne Zögern in südlicher Richtung den Damm. In diesem Augenblick bog ganz oben
ein Auto in die Bernauer Straße ein. Es ging ein kleines Leuchten über die Straße, die ein Berliner
Arbeiterviertel in zwei Teile trennt.“
(Franz Kain, Romeo und Julia an der Bernauer Straße)
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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Kapitel 9
Die atomare Bedrohung
Es wird diskutiert, ob der Atombombenabwurf über Hiroshima (1945) lediglich als
Machtdemonstration der US-Amerikaner zu verstehen ist. Stalin ließ nach dem Abwurf den Bau einer Atombombe in Auftrag geben, die 1949 fertiggestellt war. Günther Anders prägte den Begriff vom „atomaren Zeitalter“. Das Atombombenszenario
besaß eine starke Imaginationskraft. Dadurch entstanden viele !politische Planspiele
(„Was passiert, wenn...“) und Spekulationen über die konkreten !Pläne und Besitze
des jeweiligen Gegners. !Die Literatur war das dabei Medium der Imagination. Es
wurden immer wieder verschiedene !Szenarien entwickelt, konstruiert und phantasiert
im Zusammenhang mit der atomaren Gefahr.
!Atomare Bedrohung als Gravitationszentrum des Kalten Krieges !
„Der Einsatz der Atombombe in Japan hob den seit der Oktoberrevolution 1917 anhaltenden politisch- ideologischen Konflikt zwischen Ost und West in eine neue, bisher völlig unbekannte Dimension. Der nun einsetzende Rüstungswettlauf, der 1949 zunächst die Sowjets, dann eine Reihe
von weiteren Staaten in den Besitz der Atombombe brachte, schuf ein umfassendes Bedrohungsszenario, das von nun an alle politischen Entscheidungen, vor allem aber auch das Lebensgefühl
der Epoche des Kalten Krieges bestimmte.“
(Bernd Stöver, Historiker)
Die Auseinandersetzung mit dem Thema der atomaren Bedrohung fand Einzug in
zahlreichen deutschsprachigen Theaterstücken. Es gab eine große Aversion gegen diese „Atomdramen“. Grund dafür war die ästhetische Qualität, die zumeist sehr gering
war.
„A peace, that is no peace“ (Orwell)
!Zentral war die Frage des Aggressors, wobei es stets gegenseitige Schuldzuweisungen
gab.
„[...] wir glauben, daß die amerikanischen Kriegstreiber, (nicht das amerikanische Volk), einen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion vorbereiten, [...]. Ehe noch die Atombombe als militärische Waffe
in Erscheinung treten konnte, sollte sie als diplomatische Waffe, als Mittel der Erpressung, ihre
Wirkung tun. Die Atombombe in der Hand der Sowjetunion hat diesem Spiel ein vorzeitiges Ende
gesetzt, nicht der Friedenswille der amerikanischen Regierung.“
(Tagebuch, 1950)
„Die Atombombe ist das einzig taugliche Abschreckungsmittel gegen die ideologischimperialistischen Expansionsbestrebungen einer totalitären Diktatur, die sich gleichfalls auf die
Atombombe stützt.“
(Torberg im FORVM, 1964)
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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Das Phänomen der Empfindung der Bedrohung durch eine Atombombe (vor allem in
Europa) ist höchst interessant. Trotz der Abrüstungsversprechungen gegen Ende des
Kalten Krieges legte sich dieses Phänomen erst nach der Auflösung der Sowjetunion.
Die atomare Bedrohung ist heute (gemessen an Atomwaffen) nicht geringer, doch der
Diskurs hat sich geändert. !
Große Friedensbewegungen gab es dann in den 70er und 80er Jahren. Vorläufer waren unter anderem der Ostermarsch (pazifistische Friedensbewegung, die ihren Ursprung in den 50er-Jahren in Großbritannien hatte) oder die Göttinger Achtzehn (18
hochangesehene Atomforschern aus der Bundesrepublik Deutschland, die sich gegen
die atomaren Aufrüstungspläne der Bundeswehr aussprachen). !
Atomprotest: zwischen Instrumentalisierung und Kommunismus- Vorwurf !
Die Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen kommunistischer Friedenspropaganda
und !parteipolitisch ungebundenem Engagement für den Frieden war stark präsent.
dabei kam der Vorwurf der Antikommunisten, der Protest gegen die atomare Aufrüstung diene nur den !Interessen der Kommunisten. Wer also für die Abrüstung war,
wurde automatisch gebrandmarkt. !
„Der Kampf gegen den Atomtod, dem durch die Aktionen der Gelehrten wirkungsvolle Hilfe zuteil
wird, hat ein erfolgverheißendes Ausmaß angenommen. [...] Die Bewegung geht weit über die Arbeiterschaft hinaus, erfaßt alle Menschen, deren Gewissen nicht abgestorben ist. So haben sich
zum Beispiel die Stadtsenate von München, Hamburg, Verona einmütig dieser Bewegung angeschlossen. Nicht nur Parteien, Gewerkschaften, Städte, sondern auch Staaten wie Indien, Indonesien, Japan, nehmen an der Bewegung gegen den Atomtod teil.“ !
(Ernst Fischer, Die Atomgefahr, 1957)
„Auch ist nicht eigentlich die Atombombe die entscheidende Weltbedrohung unserer Tage, sondern
die unmenschliche und unsittliche Doktrin und Praxis der Willkürherrscher im Kreml.“ !
(Torberg im FORVM, 1958)
Sämtliche Autoren, die sich gegen die atomare Abrüstung aussprachen, wurden - insbesondere von Torberg und Weigel - scharf angegriffen. !Hoch anrechnen muss man
Torberg jedoch, dass er in seiner Zeitschrift „FORVM“ stets alle Diskussionen zuließ
und auch immer Antworten seiner Meinungsgegner abdruckte. !
Ingeborg Bachmann sprach sich gegen die Pläne der atomaren Aufrüstung der deutschen Bundeswehr aus. !Torberg schrieb daraufhin einen öffentlichen Brief an Ingeborg Bachmann, der höchst despektierlich war: „Liebe Inge...“. Er meinte, als Frau
stünde es ihr nicht zu, über so etwas zu urteilen. Zudem stünde ihr es als Österreicherin nicht zu, über Angelegenheiten !Deutschlands zu urteilen. So, als würde die
Bedrohung von Atombomben an der Grenze enden.
!Der Journalist Robert Jungk protestierte bereits sehr früh gegen die atomare Aufrüs-
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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tung. Deshalb wurde auch er immer wieder von Torberg angegriffen und als „neutralistischer Panikmacher“ bezeichnet. Jungk wehrte sich in einem öffentlichen Brief:
„Mir scheint, wir haben eher zu wenig als zu viel Angst vor der atomaren Bedrohung.“ !Diese Auseinandersetzung war ein ständiges Hin und Her.
!Die drei zentralen Aspekte österreichischer Literatur im Zusammenhang mit der atomaren Bedrohung !
1. Warnungen, die ein allgemeines Problembewusstsein schaffen wollten und die
die !Gefahren eines Dritten Weltkriegs zeichneten !
2. Auseinandersetzung mit der Atomkraft als Energieform: Atomkraft kann sowohl !destruktiv als auch konstruktiv sein !
3. Dystopien (negative Utopien): postapokalyptische Szenarien nach einem Atomkrieg !
Deutlich wurde auch die Ambivalenz des Nuklearen: Bombe und Kraftwerk stellen
zwar beides Bedrohungen dar, doch das Kraftwerk wurde in Verbindung mit der
Bombe als Zeichen von Frieden gesehen. Das apokalyptische Szenario der Bombe und
die Vorstellung einer nützlichen Verwendung von atomarer Kraft standen im Vordergrund dieses Gedanken.
„Man muß nicht Physiker, man muß nur Mensch sein, um klarzusehn, ob’s gut und ratsam, jene
entfesselte Naturkraft des Atoms dem Kriegsverbrecher blindlings zuzuschanzen – zugunsten
schwarzer Untergänge in entmenschter Weltnacht, Höll und Sintflut. Schon zeigt Natur erbost
dem Bombenfrevler die Faust: verschneite Sommer, Wolkenbrüche im Hochland, aus dem Bett
geworfne Ströme, Sturzflut und Dammbruch, fortgeschwemmte Dörfer, – unsäglich Leid als Vorgeschmack von viel Unsäglicherm. Man braucht kein Physiker zu sein, um händeringend Nein zu rufen: Erschütterten Gemüts tut euch zusammen und zähmt das Übel rasch! Gebt der Vernunft ihr
neues Kraftwerk! Setzt Atomturbinen! !gegen Atomkanonen ein! Der Friede reiße dem Krieg den
Helm vom Kopf und setz ihm des Werkmanns blaue Mütze auf und zwinge die Urkraft zur Willfährigkeit im Nutzdienst!“ !
(Hugo Huppert im Tagebuch, Totale Sonnenfinsternis, 1954)
Friedrich Heer: Der achte Tag (1950)
Friedrich Herr war Vertreter des sogenannten „Dritten Weges“. 1950 erschienen unter
dem Pseudonym Hermann Gohde (damals wurde schnell aufgedeckt, dass Heer dahinter steckte) e! ine Dystopie über die totalitäre Gesellschaft nach einem 3. (nuklearen) Weltkrieg. Darin wird die komplementäre Beziehung zwischen Atomwaffenproduktion und !Atomenergienutzung für wirtschaftliche Zwecke t! hematisiert. Dabei geht
es um eine atomare Rüstung mit der Begründung eines möglichen Angriffs aus !dem
Weltall.!
Der Roman entwirft auch die Idee einer „Arbeit am Atom“, die auf !Ordnung, Frieden
und Christentum abzielt. Dabei entsteht die Seltsame Utopie, man müsse durch
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
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Atomenergie nur noch zwei Stunden pro Tag arbeiten. Die moralische Verwendung
der Atomenergie und das Christentum werden dabei eng miteinander verknüpft. Die
zerstörerische Kraft der Atomenergie wird hier natürlich dem Antichristen zugeordnet. Die atomare Kraft kann sowohl teuflisch als auch christlich (positiv) sein.
„Denjokin hoffte, auf Grund eines Zwanzigjahrplanes [...] der Menschheit Atomenergie in nahezu
jeder gewünschten Form, Stärke, Wirkweise zur Verfügung stellen zu können, so, daß die Generalarbeitszeit der in der autonomen M.G. [Menschheits-Gesellschaft] organisierten Menschen, damals
rund 90 Prozent der Gesamtbevölkerung der Erde umfassend, sukzessive zuerst auf sechs, dann auf
vier, zuletzt auf zwei Arbeitsstunden pro Tag herabgesetzt werden könnte!“
(Friedrich Heer, Der achte Tag)
„Heer schrieb den Roman im Sommer 1949 und zentriert viele seiner Ansichten über Geschichte,
Religion und Politik in komplexer Weise, wobei ein dystopischer Weltstaat, in dem Machtgier,
Kontrollzwang und skrupellose Ausbeutungspraktiken herrschen, mit der Utopie eines unbeugsamen Urchristentums konfrontiert wird, das im dialektischen Widerspruch zur unmenschlichen Lebenswelt des Romans entsteht und eine hoffnungsvolle Zukunftsperspektive am Ende des Textes
motiviert.“
Hans Friedrich Kühnelt: Es ist später als du denkst (1957) !
Kühnelt gewann 1957 einen Preis für das Drama, welches aber erst 1963 in Saarbrücken uraufgeführt wurde und ! unterirdische Kritiken bekam.
Der Kameramann: Achtung! Aufnahme! Licht!
Der Produzent: Weiße Bäume steigen zum Himmel! Lautlos! Sonnenhell! [...]
Die drei Herren: Das Münster von Straßburg! Die Brücken von Prag! Die Kuppel von Rom! Die
Tempel Indiens! Die Straßen New Yorks!
Der Regisseur: Hinaufgeworfen zu den Wolken! Entgegen der Schwerkraft!
Der Kameramann: Keine Trickaufnahmen!
Der Regisseur: Die Bäume verfärben sich! Orange! Rot!
Der Produzent: Violett! Purpur! Der Film des Jahres! In glühenden Farben! [...]
Der Produzent: Millionen Mitwirkende! Grandiose Massenszenen! Der Kameramann: Großaufnahme! Einblenden!
Der Regisseur: Mutter mit schreiendem Kind versinkt im Schlamm! Der Kameramann: Musik!
Händel! Messias!
Der Produzent: Die Menschen und Tiere, alle verbrannt!
(Hans Friedrich Kühnelt, Es ist später als du denkst, 1957)
Die Spektakelhafte Imagination der Medien stand im Mittelpunkt. Sämtliche humane, moralische Fragen in puncto Atomkraft wurden medial ausgeblendet, was den
Zeitgeist des damaligen medialen Umgangs mit der Atomenergie traf, der sich fasziniert zeigt und sämtliche Gefahren ausblendet. In den USA sprach man von einer
„Angstlust“ beim Zuschauen einer Explosion einer Atombombe. Man stellte diese
Waffe als „technisches Wunderwerk“ dar.
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
Prometheus, Faust und Zauberlehrling - alte Bilder für neue Wirklichkeiten
„In jenem unendlich kleinen Bruchteil der Zeit [als die Atombombe detonierte], hatte Prometheus
seine Fesseln gesprengt und ein neues Feuer auf die Erde gebracht, ein Feuer, das dreimillionenmal
gewaltiger war als das, was er den Göttern zum Wohl der Menschheit vor undenklichen Zeiten
entrissen hatte.“
(William Laurence, US-Journalist, 1948)
Prometheus ist eine Figur der griechischen Mythologie, der für seinen Betrug an den
Göttern bestraft wurde. Zeus verfrachtete ihn in ein abgelegenes Gebiet im Kaukasus.
Er musste dort über einem Abgrund, ohne Essen, Trinken und Schlaf ausharren und
jeden Tag kam der Adler Ethon und fraß von seiner Leber, die sich zu seiner Qual
immer wieder erneuerte, da er unsterblich war.
Alfred Heller: Zwischen Gott und Teufel (1952)
Heller schrieb einen Roman über Atomspionage. Ein Agent findet ein Geheimdokument zur Herstellung einer Wasserstoffbombe zwischen den Dokumenten zu „Gott“
und „Teufel“ !
„Hier ruht das schwere Geheimnis, das über Wohl und Weh der Menschheit entscheiden kann,
liegt in der Mitte zwischen Gott und Teufel, genau so wie die ganze Menschheit seit jeher – und
nie mehr als jetzt – zwischen diesen beiden Polen hängt und sich nie entschließen kann, für welchen von beiden sie sich endgültig entscheiden soll, für ihren glückvollen Aufstieg – oder ihren Untergang.“ !
Auch Faust als gefährlicher Gelehrter spielte immer wieder eine Rolle in der Literatur. !
Ulrich Becher: Die Kleinen und die Großen - Neue Zauberposse in zwei Akten
Hier handelt es sich um ein unaufgeführtes Drama. Der Teil-Erstdruck erschien 1955
in DDR-Zeitschrift „Aufbau“ in Anlehnung an Ferdinand Raimund ist es parodistisch
und grotesk im Inhalt. Dabei geht es um einen Diktator im Besitz einer hocheffizienten „Zinnoberbombe“, die er nach einem Ultimatum !zu sprengen droht. Im Drama
gibt es außerdem, kleine Wesen, „Hinze“ genannt, die bereits seit Jahrhunderten !in
die menschlichen Geschicke eingreifen. Sie verhindern das Zünden der Atombombe
durch den Diktator, indem sie ihm einen Streich spielen.
KRETPFUHL: Ein Holzscheit zu spalten, mag gottgefällig sein. Das K-l-e-i-n-s-t-e jedoch in der
Schöpfung zu spalten, ist wider Gott; es schmerzt ihn. In der großen Explosion entlädt sich Gottes
jäher Schmerz und Zorn. Sein Jähzorn. ROSSTRAPP stur: Hummm...
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
BLASSERLE: I-c-h meine, die Spaltung ist das Alpha und Omega aller Kraft. Allen Lebens vom
Tag an, da die Qualle im Meer sich spaltete in Männliches und Weibliches. Der Doktor Faustus
wußte das. Ihm schon war geglückt, in seiner Küche [...] einen künstlichen Hinzen zu erzeugen.
ROSSTRAPP: H-u-m-m-m...
BLASSERLE: Auch das Atom zu spalten war Fausto geglückt; doch behielt er das Kunststück für
sich.
!Pathos und Unfassbarkeit der atomaren Bedrohung
!„Besondere Gefahr „daß wir unseren eigenen Produkten und deren Effekten nicht weniger ahnungslos und nicht weniger atemlos gegenüberstehen, als wenn sie Objekte wären, die Bewohner eines
fremden Planeten uns unaufgefordert ins Haus geliefert hätten.“
(Günther Anders, Der Mann auf der Brücke, 1959)
„In welcher Kategorie immer wir es auch denken würden, wir würden es falsch denken, weil es, einer Klasse von Gegenständen zugeordnet, zu ‚einem unter anderen’ gemacht und dadurch bagatellisiert wäre. [...] Unseligerweise ist es gerade diese (monströse) Nirgendzugehörigkeit, die es mit
sich bringt, daß wir den Gegenstand vernachlässigen oder einfach vergessen.“
(Gebote des Atomzeitalters in der FAZ, 1957)
Pazifistische Jugendliteratur – Sadako Will leben von Karl Bruckner (1961)
Bis heute wurde der Roman immer wieder neu aufgelegt. Es wurde heftig diskutiert,
ob man dieses Buch Jugendlichen zumuten !könne. Titelheldin nach historischem
Vorbild (von dem Bruckner durch Robert !Jungk erfährt) in Gestalt von Sadako Sasaki als Symbol der Friedensbewegung.
Die Papierkraniche, von denen Sadako 1000 falten wollte, um einen !Wunsch nach
japanischer Mythologie freizuhaben, wurden dabei ebenfalls zu einem Friedenssymbol. Im Roman wird die Dämonie der Atombombe von beiden Seiten aus wahrgenommen.
„Sie starrte voll Entsetzen auf dieses Werk von Dämonen. Denn nur solche konnten diese überirdische Riesenfackel entzündet haben, um Menschen zu strafen. Aber wofür?“
(Sadakos Mutter)
„Und sie sahen, daß der Kopf dieses grausigen Pilzes aus geballten Feuern bestand, die jede
menschliche Vorstellung von einem Höllenbrand übertrafen.
(Piloten des Bombenflugzeugs)
Allgemein kann festgehalten werden, dass die a!tomare Bedrohung sehr schwer zu fassen war für die Kunst bzw. die Literatur. !Im Vergleich zu Auseinandersetzungen mit
anderen Themen (Eiserner Vorhang, !Spionage, Totalitarismus, Verschleppung) scheiterte man damit in Österreich bis auf ganz wenige Ausnahmen. !
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Österreichische Literatur im Kalten Krieg
Kapitel 10
Gastvortrag von Joseph McVeigh: Ingeborg Bachmann in Wien
Hierbei handelt es sich um eine Fallstudie über Bachmann in ihren Jahren in Wien
zwischen 1946 und 1953. Bachmann ging es wie vielen anderen der Nachkriegsgeneration. Sie ist jedoch ein Sonderfall. Als Schützling von Hans Weigel pflegte sie eine
intensive Freundschaft und bekam so eine gewisse politische Ausbildung von ihm in
den späten 40er Jahren. Außerdem hatte sie eine feste Stelle im Skriptdepartment als
Redakteurin beim Sender Rot Weiß Rot (RWR).
Wir wussten lange Zeit nichts über Bachmanns politische Ausbildungszeit bei
Hans Weigel. Es lagen lediglich die Studienbücher vor, dies sagte aber nichts über
ihre politischen Interessen aus. Die Quellen fehlten, da die Bachmannerben fast alle
Briefe usw. gesperrt haben (bis ca. 2025). Bachmann bestand aber auch lange Zeit
darauf, dass nicht über ihr persönliches Leben geschrieben werden sollte.
„Denn ich habe zu schreiben. Und über den Rest hat man zu schweigen“
(Aus einem Interview, 1971)
„Ich erzähle nicht, ich werde nicht erzählen, ich kann nicht erzählen, es ist mehr als eine Störung
in meiner Erinnerung“
(Malina, 1971)
Weil es keine Quellen gab, entwickelte sich das Bild von Bachmann, als dass sie sich
eigentlich gar nicht für Politik interessierte. Diese Information basiert vor allem auf
einem offenen Brief in der Zeitschrift FORVM von Hans Weigel. Dieser hat ihr geraten, sich von öffentlichen politischen Veranstaltungen fern zu halten.
„Und wenn es Dich zur Politik drängt (was mir neu ist), dann hast gerade du als Atom-Gegnerin
eine Möglichkeit um die dich deine deutschen Freunde (Gruppe 47) und Mitunterzeichner glühend
beneiden werden: Du kannst bei uns kommunistisch wählen!“
(Hans Weigel, offener Brief im FORVM, Juni 1958, H. 54)
Bachmann war jedoch in den Jahren des Kalten Krieges sehr wohl politikinteressiert.
Sie interessierte sich für politische Theorie. Sie wollte unbedingt nach Wien, um Philosophie zu studieren und später an der Universität zu unterrichten. Zuerst studierte
sie in Innsbruck, dann in Graz und ist dann 1946 nach Wien gekommen. Aus dem
Kriegstagebuch erfahren wir über die Korrespondenz mit dem Wiener Jack Hamesh:
Österreichische Literatur im Kalten Krieg
57
„Nicht viele Mädels in deinem Alter waren imstande sich so mit ihrer Zeit und ihren Probleme so
auseinanderzusetzen, wie du es tust.“
Er war also sehr begeistert von ihrem politischen Interesse und der Beteiligung an
Diskussionen über den Krieg. Wir wissen, dass Weigel für sie zu einem Mentor wurde. Er nahm sie in die Redaktion der Zeitschrift TURM mit, wo sie ihre KollegInnen
dort schnell beeindruckte. In der Turmredaktion hat sie Siegfried Melchinger kennengelernt. Die eigentliche politische Ausbildung Bachmanns beginnt durch Weigel, als
dieser nicht in Wien war und sich in New York aufhielt. Mitten in dieser Zeit arbeitete Bachmann als seine Sekretärin und Sachwalterin und schickt ihm eines Tages
einen Brief, der wie eine große Explosion auf ihn wirkte.
Ich hab inzwischen den Hermann Hakel kennengelernt und sein Wohlwollen auf mich gezogen [...]
Er hat die ganzen jungen Leute von Federmann bis Danneberg etc. an sich gezogen [...].
(Ingeborg Bachmann an Weigel)
Weigel wollte aber immer der große Förderer junger AutorInnen sein. Hakel organisierte sich in seinem Vorhaben über den PEN-Club. Auch Bachmanns erste öffentliche Lesung von Gedichten wurde von Hakel und dem PEN-Club organisiert. Bachmann bekam daraufhin von Weigel viele Ratschläge. Man kann sich vorstellen, was er
ihr riet. Sie solle sich von Hakel und dem PEN-Club fernhalten. Aber aus der Ferne
schlug er ihr vor, vorsichtig vorzugehen. Sie bekommt trotzdem eine Einladung von
Hakel. Weigel hatte ihr nahegelegt, dass es nicht nur um Kultur gehe, sondern ebenfalls um die Politik. Bachmann hat sich auch wirklich ferngehalten von Hakel. Wüsste man nicht, dass sie so eine enge Beziehung zu Weigel führte, glaubte man, sie wäre
selbst überzeugte Antikommunistin.
Im März 1951 bekam Bachmann eine Stelle beim Sender RWR durch Bobby Löcker und beschreibt die Atmosphäre dort als fabrikartig, alle produzieren wie am laufenden Band, obwohl nur Intellektuelle dort sitzen und Artikel und Nachrichten
schreiben. Bobby Löcker spielte eine weitere Rolle innerhalb des amerikanischen Besatzungsapparats: sie war die Kontaktperson zwischen dem Kongress für kulturelle
Freiheit in Paris und Wien. Der Kongress war vom amerikanischen Geheimdienst
finanziert worden und hatte die Aufgabe, KünstlerInnen und SchriftstellerInnen zu
organisieren und gegen den Kommunismus zu mobilisieren. Der Kongress gab in vielen Ländern Zeitschriften mit beachtlichen Beiträgen von Intellektuellen dieser Zeit
heraus. Ein Beispiel dafür war die Zeitschrift DER MONAT. Was Hans Weigel dabei
nicht verstehen konnte, war, dass dieser Kongress Linke anlocken wollte. Weigel und
viele andere Leute aus Wien wurden eingeladen. Weigel klagte, wo all die Konservativen seien und lehnte die Einladung ab. Die TeilnehmerInnen des Kongresses wurden
dazu angehalten, in ihren Heimatländern Organisationen zu gründen. So eine Organisation wurde schließlich auch gegründet, mit Reinhard Federmann als Vorsitzenden
und Milo Dor im Vorstand. Bachmann war dem Kongress gegenüber sehr kritisch.
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„Der Kongress liegt mir auf wie eine Krankheit.“
(Brief Löckers an Hans Weigel, 1950)
Hans Weigel hingegen schreibt immer wieder Artikel darüber, dass es keine Neutralität im Kalten Krieg gebe. Löcker und Weigel streiten sich daraufhin, da er ihr vorgeworfen hat, sie versuche, seine Beziehung zu verschiedenen Menschen zu unterbinden. Das hat auch mit Bachmann zu tun. Bachmann profitierte von dieser Organisation, indem sie Reisezuschuss für die Reise nach Paris bekommen hatte. Anderseits
auch, als dass sie ihre erste Lesung in der BRD halten durfte.
1953 reist Bachmann aus Wien ab und geht zuerst nach Italien. 1954 schreibt sie
Friedrich Torberg einen Brief, nachdem sie von ihm die Aufgabe bekommen hat, über
italienische Literatur aus politsicher Perspektive zu schreiben. Der Sender RWR war
ein Propagandasender, der selbst verheimlichen wollte, politisch zu sein. Dort war sie
Redakteurin, schrieb aber selbst auch Beiträge für „Die Radiofamilie“. Dies solle vorwiegend unterhaltsam sein, hatte aber einen politischen und moralischen Hintergrund. Bachmann bekam sehr viele Hörerbriefe, die auch Kritiken enthielten. Man
warf ihr vor, sie müsse ja Anti-Kommunistin sein. Rückblickend schreibt Bachmann
im Roman „Malina“ über diese Zeit beim Sender, indem sie schreibt „das ist eine Störung“.
Milo Dor schrieb in einen Brief, dass viele von ihnen, darunter auch Bachmann,
aus Österreich weggingen bzw. nach Deutschland gingen, da sie sich mit der jüngsten
Vergangenheit auseinandersetzen wollten, dies in Österreich aber nicht ging. Bachmann setzte sich nicht nur mit der NS-Zeit auseinander, sondern auch mit der Zeit
mit Weigel und seinen Kreis in „Unter Mördern und Irren“. In den 60er Jahren wollte
sie schließlich politisch aktiv werden und wirkte im Wahlkampf Willi Brandts mit. In
den 70er Jahren zog sie das Fazit, dass sie mit ihren politischen Aktivitäten als
Schriftstellerin nichts bewirkt habe und dies auch nicht möglich war. Der Umgang
mit der Gruppe 47 war mitunter auch einflussreich darauf, dass sie Ende der 50er
wirklich aktiv wurde. In Wien unter Weigel war Bachmann eine ganz andere, es
kommt in den Gesprächen der beiden nichts über ihre zerstörte Kindheit und über
die Zeit im Nationalsozialismus vor. Diese Zeit verschwieg sie. Sie meinte einmal zu
Weigel, sie habe jetzt wieder ganz neu gelernt, die Welt sonnig zu sehen.