Introversion - Natalie Schnack

Lichtblick · 92
Was ist eigentlich....?
Introversion
Unattraktive Langweiler und nichtssagende Graumäuse? Die Unwissenheit über die
Eigenarten der Stillen und Leisen ist eklatant. Natalie Schnack will das ändern.
Hässliche Hornbrille, Mundgeruch, von Motten zerfressener Pullunder, kein Blickkontakt, kriegt den Mund nicht auf, hockt allein in einem vollgemüllten Zimmer
und hackt irgendwelche Programme: Dieses oder ähnliche Bilder sehen wohl die
meisten Menschen vor sich, wenn sie an eine introvertierte Person denken. Solche Vorurteile können ganz schön nerven, vor allem als Betroffene. Wenn ich zum
Beispiel sage, dass ich introvertiert bin, bekomme ich sehr oft als Antwort: „Du
und introvertiert? Dann bin ich der Kaiser von China!“ Auf meine Nachfrage, wie
denn jemand Introvertiertes ist, kommt meist die Beschreibung einer schwer gehemmten, extrem schüchternen oder sogar sozialphobischen Person. Das zeigt
mir immer wieder, dass die wenigsten wissen, was Introversion tatsächlich ist.
Auch selbst viele Introvertierte haben keine Ahnung und wissen gar nicht, dass sie
dazu gehören. Meist fühlen sich nur schüchterne Menschen mit großen Kontaktschwierigkeiten von dem Begriff angesprochen. Was schlicht falsch ist.
Natalie Schnack ist Wirtschaftsingenieurin und arbeitet seit
2009 als Sichtbarkeits-Coach mit
zurückhaltenden Menschen. Sie
ist selbst introvertiert und lebt in
Ahrensburg.
www.natalieschnack.de
Erst kürzlich hat sie eine Akademie für Introvertierte gegründet.
www.akademie-fuer-introvertierte.de
Das Wissen um Introversion ist nicht neu, aber seltsamerweise wenig verbreitet.
Zwar hat C.G. Jung schon 1921 die Unterschiede zwischen Introversion und Extraversion beschrieben und es gab bis heute viel Forschung auf diesem Gebiet. Doch
die Vermischung mit der Schüchternheit ist nach wie vor sehr verbreitet. Es gibt
auch kaum eine Lobby für Introversion. Erst seit wenigen Jahren gibt es überhaupt
Literatur jenseits psychologischer Fachbücher, die sich mit diesen Unterschieden
befasst. Immerhin 90 Jahre nach Jung, als Susan Cain im Jahre 2011 mit „Still - Die
Kraft der Introvertierten“ und darauf basierend Sylvia Löhken mit „Leise Menschen - starke Wirkung“ jeweils Bestseller landeten, bekam das Thema Auftrieb.
Als ich diese Bücher las, wurde mir überhaupt erst klar, dass ich introvertiert bin.
Davor wusste ich nur: „Ich mag keinen Small Talk. Ich bin mir selbst genug. Stille ist so wunderbar. Ich will nicht immer reden. Unter Menschen bin ich schnell
erschöpft und überreizt. Ich denke viel über mich und die Welt nach. An fremde
Menschen und Umgebungen muss ich mich erst gewöhnen. Ich beobachte erst
und halte mich lieber im Hintergrund. Lasst mich doch alle in Ruhe, wenn ich in
eine Sache vertieft bin!“ Dies ist ein Auszug aus dem Vorwort zu meinem 2014
erschienen Buch „Leise überzeugen: Mehr Präsenz für Introvertierte“. Doch ich
habe auch andere Seiten an mir: Ich lache gern, treffe mich gern mit tollen Menschen, stehe gern auf der Bühne, sowohl als Improvisationstheater-Spielerin als
auch Vortragende. Ich bin auch nicht wirklich schüchtern. Und leise sprechen tue
ich auch selten. Auch kann ich reden wie ein Wasserfall, wenn mich ein Thema
wirklich interessiert. Und ich habe schon gesagt bekommen, dass ich einen intensiven Kontakt allein mit meinen Augen aufbauen kann. Auch kenne ich andere
Menschen, den es genauso ergeht. Sie sprechen weder leise, noch sind sie schüchtern. Sie stehen im Gegenteil gern vor Menschen, halten Vorträge und Trainings
oder moderieren Großgruppen. Dennoch sind auch sie introvertiert.
Das Buch von Natalie Schnack
„Leise überzeugen. Mehr
Präsenz für Introvertierte“ ist
im Humboldt-Verlag erschienen
und wird in der nächsten Lichtblick-Ausgabe rezensiert.
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Mich hat das alles lange Zeit sehr irritiert. Denn ich merkte, dass ich mich allein mit
dem „Leisesein“ nicht identifizieren kann, weil ich so viele andere Seiten habe.
Andererseits merke ich immer wieder, wenn ich mit so richtig Extravertierten zu
tun habe, dass ich ganz sicher nicht extravertiert bin. Und als ich meine eigenen
Klischees zum Thema Intro- und Extraversion überprüft habe und mir nur die Definitionen angeschaut habe, was das im Einzelnen bedeutet, habe ich verstanden,
worauf es bei dieser Unterscheidung wirklich ankommt.
Introversion ist genau wie Extraversion angeboren und diese beiden bilden gegensätzliche Pole. Die Unterschiede liegen darin, wie Informationen im Gehirn
verarbeitet werden, welche Nervenbahnen für den Reiztransport zuständig sind
Was ist eigentlich....?
und welche Botenstoffe dabei ausgeschüttet werden.
So wurden folgende Unterschiede im Vergleich zu Extravertierten festgestellt (Quelle: „Intros und Extros“,
Sylvia Löhken, S. 32-35):
• Bei Introvertierten sind andere Hirnregionen bei der
Verarbeitung der Informationen aktiv. Sie sind auch
dann aktiv, wenn keine Reize von außen kommen.
Das heißt, das Hirn arbeitet immer, auch wenn sie
allein sind. Was dazu führt, dass sie sich nie mit sich
selbst langweilen und sich selten einsam fühlen.
• Die Nervenbahnen sind bei Introvertierten länger,
was mehr Energie verbraucht. Und in manchen Situationen brauchen sie daher etwas mehr Zeit, um
neue Dinge einzuordnen, zu verarbeiten und eine
Meinung dazu zu bilden. Dafür ist die Meinung dann
wirklich fundiert.
• Der Mandelkern im Gehirn von Introvertierten ist
leichter erregbar und reagiert stärker auf Umweltreize. Dieser Teil des Gehirns, das limbische System,
ist älter als andere Bereiche, die für das Bewusstsein stehen. Dort entstehen Emotionen und Gefühle. Die stärkere Reizbarkeit des Mandelkerns bedeutet eine erhöhte Alarmbereitschaft und führt so zu
einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis. Deswegen
ist es introvertierten Menschen wirklich wichtig,
in einer neuen Umgebung erst zu beobachten, bevor sie aktiv werden. Wenn sie die Situation besser
einschätzen können, entspannen sie sich und sind
dann auch besser in der Lage in den Kontakt zu anderen Menschen zu gehen.
• Introvertierte reagieren weniger auf Belohnung und
Anreize von außen, als das bei extravertierten Menschen der Fall ist. Das liegt daran, dass das „Lustzentrum“ eines introvertierten Menschen (Nucleos
accumbens), das auch im limbischen System des
Gehirns angesiedelt ist, schwächer auf die Reize der
Umwelt reagiert. Deswegen empfinden Introvertierte auch seltener und weniger intensiv Gefühle
wie Begeisterung und Euphorie. Auch springen sie
nicht so stark auf Anreize und Belohnungen an. Deswegen kommen sie manchmal ernsthafter rüber
und wirken eher autonom.
• Die Nutzung unterschiedlicher Bereiche des vegetativen Nervensystems und die Ausschüttung unterschiedlicher Botenstoffe prägen die Neigung zu
Überreizung und großen Bedarf nach Ruhe. Introvertierte werden stärker von den Aktivitäten des
Parasympathikus geprägt. Auch die Neurotransmitter, die in Gehirnen Introvertierter ausgeschüttet
werden, sprechen dafür, dass äußere Reize und damit dauerhafte Kontakte zu anderen Menschen zu
Energieverlust und Gereiztheit führen.
Soviel zu den „Bau-Unterschieden“ von Introvertierten
und Extravertierten. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal, das man auch leicht bei sich selbst und anderen nachvollziehen kann, ist folgendes: Introvertierte
Menschen gewinnen ihre Energie durch das Alleinsein
und verbrauchen ihre Energie, wenn sie unter Menschen sind.
Lichtblick · 92
• Sie gehen also ungern auf Partys, treffen sich lieber mit ein paar Freunden in privater Atmosphäre.
Überhaupt wirkt großer Lärmpegel belastend auf
sie.
• Sie brauchen viel Zeit für sich allein. Ein gutes Buch
oder einen Spaziergang im Grünen werden sie also
in ihrer Freizeit immer einer anderen Aktivität vorziehen.
• Sie sind am leistungsfähigsten und kreativsten,
wenn sie Dinge für sich allein durchdenken können.
Sie brauchen viele Phasen, in denen sie ungestört
arbeiten können. Deswegen sind sie leistungsfähiger, wenn Sie allein arbeiten und nicht in Gruppen.
• Wenn sie viel unter Menschen waren, müssen sie
unbedingt Zeit für sich haben, in der sie sich allein
erholen können. Sonst fühlen sie sich völlig ausgelaugt und reagieren gereizt.
Bei den Extravertierten ist es andersherum: Sie gewinnen Energie durch den Kontakt zu anderen und verlieren
Energie, wenn sie allein sind. Nun könnte man denken,
dass introvertierte Menschen ungesellig und verschlossen sind. Doch so ist das nicht. Auch sie brauchen Kontakt zu anderen Menschen und sind auch offen für ihre
Mitmenschen. Nur eben in anderen Dosen, als das bei
den Extravertierten der Fall ist, die unbedingt Kontakt
brauchen, um sich wohl zu fühlen.
Außerdem sollte man immer beachten, dass Introversion nur ein Merkmal der Persönlichkeit ist. Denn jeder
Mensch ist natürlich weit mehr ist als nur intro- oder extravertiert. Unsere Persönlichkeit ist sehr komplex und
setzt sich aus vielen verschiedenen Teilen zusammen.
Zugegeben, dieses eine Merkmal kann eine sehr große
Bedeutung für die Ausbildung vieler anderen Merkmale
haben. Durch die Erziehung, die Erfahrungen zur Außenwelt, wird jeder Einzelne so geprägt, dass jeder Introvertierter anders ist als ein anderer.
Was aber definitiv fest steht: Introversion hat rein gar
nichts mit Schüchternheit, also Menschenscheu, zu tun.
Denn schüchtern ist ein Mensch, der sich Kontakt zu anderen wünscht und gleichzeitig unter seiner Angst vor
anderen, vor deren Reaktion, deren Bewertung, leidet.
Er würde ja gern, traut sich aber nicht. Dagegen geht ein
Introvertierter nur dann in Kontakt, wenn er das will.
Und da er nicht so auf Kontakt zu anderen angewiesen
ist und wenn der dann einfach kein Interesse an der Person hat, hält er sich manchmal einfach zurück, um seine
Ruhe zu haben. Auch wenn manche meinen, das wäre
arrogant. Nein, es ist einfach überlebenswichtig für einen introvertierten Menschen.
Natürlich kann es sein, dass ein Introvertierter auch
noch schüchtern ist, das kann man nie ausschließen.
Dennoch ist klar: Das eine hat mit dem anderen keinen
unmittelbaren Zusammenhang. Es gibt nämlich auch genug extraverierte Menschen, die schüchtern sind. Das
wäre nun also auch geklärt...
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Ve r e i n f ü r p r a k t i z i e r t e
Individualpsychologie
Verein für praktizierte
Individualpsychologie e. V.
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Redaktionsschluss: 1. September 2015
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