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ZRS 2016; 8(1–2): 30–35
Open Access
Liv Andresen. 2015. Persönlichkeitsspezifische Sprachvariation. Eine empirische
Untersuchung zum Zusammenhang von Extraversion und Nähesprachlichkeit
(Germanistische Linguistik – Monographien 31). Hildesheim u. a.: Georg Olms.
177 S. + CD.
Besprochen von Sylvia Bendel Larcher: Hochschule Luzern, Wirtschaft, Zentralstr. 9, CH-6002
Luzern, E-Mail: [email protected]
DOI 10.1515/zrs-2016-0006
Auf eine Untersuchung zum Zusammenhang von Gesprächsverhalten und Persönlichkeit hat die Gesprächsforschung lange gewartet. Die vorliegende Studie,
die sich theoretisch und methodisch an der Psychologie orientiert, weist den
Weg, vermag aber die Erwartungen nur teilweise zu erfüllen.
Das Forschungsdesiderat ist offensichtlich. Wie die Autorin im äusserst
knapp gehaltenen Forschungsüberblick zur linguistischen Literatur darlegt, belegen
Studien sowohl aus der Dialektologie als auch aus der Gesprächsforschung, dass
sprachliche Individualität auf allen Ebenen existiert und durch soziologische
und situative Variablen allein nicht erklärt werden kann. Mehrere Autoren vermuten, dass die Persönlichkeit das sprachliche Verhalten von Menschen beeinflusst,
konnten das bislang aber nicht nachweisen. Hier hakt Liv Andresen ein. Mit ihrer
Studie will sie überprüfen, ob der Wesenszug Extraversion mit b
­ estimmten sprachlichen Verhaltensmerkmalen korreliert. Sie empfiehlt, zukünftig den Begriff Psycholekt zur Beschreibung persönlichkeitsspezifischer Varietäten zu verwenden
(S. 22) – ein innovativer Vorschlag für die Soziolinguistik.
Von Seiten der Psychologie liegen viele Einzelergebnisse zum Zusammenhang
von Extra- bzw. Introversion und sprachlichem Verhalten vor. Als weitgehend
gesichert gilt, dass Extravertierte mehr reden, schneller sprechen, mehr Rückmeldungen geben, mehr Wörter mit hoher Gebrauchsfrequenz sowie mehr Wörter
aus den Wortfeldern certainty, (positive) emotions und social processes benützen.
Introvertierte machen demgegenüber mehr und längere Pausen, verwenden mehr
Heckenausdrücke, Verzögerungssignale und mehr Wörter aus dem Wortfeld tentative. Einzelne Studien wiesen nach, dass Extravertierte lauter sprechen, häufiger
das Gespräch eröffnen, eher dialogisch orientiert sind, die Themen eher oberflächlich behandeln und abrupt wechseln, während Introvertierte eher monologisch
orientiert sind sowie Themen vertieft behandeln und graduell wechseln (S. 38ff.).
Diese Erkenntnisse wurden allerdings vorwiegend an schriftlichen Texten und
eher monologischen mündlichen Äusserungen gewonnen, was die Autorin neben
der Heterogenität der Probandengruppen zu Recht kritisiert.
© 2016, Sylvia Bendel Larcher, published by de Gruyter
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.
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Persönlichkeitsspezifische Sprachvariation 31
Andresen will die bestehenden Forschungslücken wie folgt schliessen: mit einem
Korpus mündlicher, dialogischer Texte, einer homogenen Probandengruppe sowie
der Fokussierung auf bislang nicht untersuchte sogenannte „pragmatische Wortarten“ (S. 45). Das Korpus besteht aus 15 Dialogen von 13 bis 29 Minuten Länge, die im
elektronischen Anhang der Dissertation eingesehen werden können. Die Probandinnen sind 30 Studentinnen der Germanistik zwischen 19 und 29 Jahren, deren Extra­
versionsgrad mittels eines Fragebogens gemäss dem NEO-Fünf-Faktoren-Inventar
erhoben wurde (N = Neurotizismus, E = Extraversion, O = Offenheit). Je zehn der Pro­
bandinnen gehören zur Gruppe der Extravertierten, Ambivertierten und Introvertier­
ten. Danach mussten die Probandinnen eine Mission Survival Task lösen, das heisst
in einem fiktiven Setting die Ausrüstungsliste für einen rettenden Marsch durch die
kanadische Wildnis zusammenstellen. Die Dialoge wurden aufgenommen und vollständig transkribiert.
Entsprechend den Gepflogenheiten der experimentellen Psychologie erfolgt
die Auswertung der Transkripte nicht in einem offenen Verfahren, sondern hypothesengeleitet. Zu diesem Zweck formuliert Andresen acht zu überprüfende Hypothesen, welche sie aus der bisherigen Forschung zu Sprache und Extraversion,
den Charakteristika extra- und introvertierter Personen sowie aus der Beschreibung von Nähe- und Distanzsprachlichkeit nach Ágel & Hennig ableitet. Dabei
lässt sie sich von der Annahme leiten, dass Extravertierte „häufiger prototypisch
nähesprachliche Merkmale verwenden“ (S. 49). Diese Annahme erscheint trotz der
mitgelieferten Erklärung etwas willkürlich.
Die ausführlich hergeleiteten Hypothesen lauten zusammengefasst (S. 76f.):
Extravertierte verwenden häufiger als Introvertierte Gliederungspartikeln, Modalpartikeln, Interjektionen, prototypisch nähesprachliche Vagheitsausdrücke,
umgangssprachlich markierte Varianten und inkludierende Personalpronomen, sie
funktionalisieren die Lexeme weil, obwohl und wobei häufiger als Diskursmarker (das
heisst mit Verbzweitstellung) und fahren im Falle von Simultanereignissen häufiger
in der Rede fort als Introvertierte.
Es fällt auf, dass bei sechs Hypothesen Einzelwörter (vereinzelt auch Wortgruppen) untersucht werden. Eine Hypothese widmet sich einer syntaktischen
Kategorie und nur die letzte einem genuin interaktiven Phänomen. Das ist recht
erstaunlich, nachdem Andresen selber kritisiert hatte, die bisherige Forschung
habe sich zu sehr auf Einzelwörter fokussiert (S. 34).
Auf immerhin 20 Seiten erläutert Andresen anhand von Beispielen aus dem
Korpus, welche Wörter ausgezählt und welche von der statistischen Auswertung
ausgeschlossen wurden. Homonyme mit anderen als den in Frage stehenden
Funktionen wurden sorgfältig aussortiert, so zum Beispiel doch als Adverb anstatt
als Modalpartikel (S. 89f.). Dabei geht die Autorin ausgesprochen restriktiv vor,
sodass keine falschen Einträge die Auswertung verfälschen. Die ausführlichen
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Erläuterungen schaffen nicht nur Transparenz, sondern belegen eindrücklich,
dass eine solche Studie nur mit einer händischen Annotation der Gesprächsdaten valide Ergebnisse liefert. Die Belege wurden für jede Probandin aufsummiert
und in Relation zur Gesamtwortzahl gesetzt.
Die dergestalt erhobenen Daten wurden inferenzstatistisch ausgewertet, mit
folgendem Ergebnis: Extravertierte fahren bei Simultanereignissen signifikant
häufiger mit ihrem Beitrag fort, benützen weil, obwohl und wobei häufiger als
Diskursmarker und gebrauchen weniger Vagheitsausdrücke als Introvertierte
(p < .01). Sie verwenden signifikant häufiger Interjektionen, umgangssprachliche
Varianten und Personalpronomina der 1. Person Plural (p < .05). Kein signifikanter linearer Zusammenhang ergab sich bei den Gliederungs- und Modalpartikeln.
Somit können sechs von acht Hypothesen bestätigt werden.
Eine deskriptive Auswertung der Daten schlüsselt die Ergebnisse weiter
auf, wobei einige Details besondere Aufmerksamkeit verdienen. So zeigt sich
zum Beispiel, dass Extra- und Introvertierte andere Gliederungspartikeln
bevorzugt verwenden. Bei Ersteren sind das Startsignale, Aufforderungssignale, Korrektursignale sowie Rückversicherungspartikeln, bei Letzteren Partikeln mit Bezug auf die eigene Äusserung sowie Rezeptionssignale (S. 120).
Das gleiche Bild bietet sich beim Gebrauch der Modalpartikeln: Extravertierte
bevorzugen ja, doch, auch und denn, die Introvertierten mal, eben, halt, schon
und eigentlich (S. 122). Wie die Autorin im Diskussionskapitel erläutert, zeigt
sich in diesen Präferenzen ein Hang zur Bestimmtheit und Dominanz bei den
Extravertierten bzw. eine gewisse Unbestimmtheit und Zögerlichkeit bei den
Introvertierten.
Eine weitere aufschlussreiche Beobachtung betrifft den Einsatz von umgangssprachlichen Varianten. Sie werden von Extravertierten gebraucht, um der imaginierten Situation die Brisanz zu nehmen (S. 142), von den Introvertierten hingegen,
um eigene Einwände, Vorschläge oder Argumente abzuschwächen (S. 145). Es sind
diese ins Detail gehenden, den interaktiven Kontext berücksichtigenden Beobachtungen, die den grössten Ertrag der Arbeit ausmachen und viel mehr als die schieren Zahlen die wesentlichen Unterschiede zwischen Intro- und Extravertierten
erahnen lassen.
Hinter dem dünnen Büchlein steckt eine immense Transkribier-, Annotations- und Rechenarbeit, worüber der über 500-seitige Anhang Aufschluss gibt.
So sorgfältig das Vorgehen der Autorin war, so sorgfältig wurde auch der Text
erstellt, der durch seine schlichte, präzise und knappe Ausdrucksweise ebenso
überzeugt wie durch die fehlerfreie Sprache. Für ihre aufwändige, interdisziplinär ausgerichtete Arbeit sei der Verfasserin voller Respekt gezollt. Trotzdem
bleibt eine Leserin, die von der Seite der Gesprächsforschung kommt, nach der
Lektüre einigermassen ratlos. Wären mit einer offeneren Herangehensweise
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dem phantastischen Korpus nicht ertragreichere Erkenntnisse abzugewinnen
gewesen? Drei Fragen drängen sich auf:
Die erste Frage betrifft die Auswahl der ausgezählten Items. Sie ist weitgehend an grammatischen Kategorien orientiert und ausgesprochen restriktiv.
Aber ist es sinnvoll, Emotionalität ausschliesslich anhand von Interjektionen
zu messen? Es befremdet, wenn jede Interjektion unbesehen als Ausdruck von
Emotionalität gewertet wird, gleichzeitig jedoch explizite Gefühlsäusserungen
wie „ich bin da ganz optimistisch“ (S. 142) oder „ich würd erstma n heulkrampf
kriegen“ (S. 143) nicht in die Auswertung eingehen. Bei den Diskursmarkern zeigt
die Detailanalyse, dass Introvertierte ihren Einwänden eine Zustimmung und
eine Pause vorausschicken (nach dem Muster „ja – aber“), während Extravertierte ihre Einwände nicht abmildern. Die vollzogenen Sprechakte (z. B. Selbstkorrektur vs. Fremdkorrektur, Einwand mit vs. ohne Hedging) wären an vielen
Stellen die viel interessanteren Items gewesen als die ausgezählten Wörter oder
Grammatikstrukturen.
Die zweite Frage betrifft die Interpretation der Ergebnisse. So sollen die
Bestimmtheit ausdrückenden Modalpartikeln ja, auch, doch und denn der sozia­
len Orientierung Extravertierter zuzuschreiben sein (S. 137) oder die vielen Vagheitsausdrücke den Introvertierten helfen, ihren Sprachfluss aufrechtzuerhalten
(S. 141). Beides mutet eher seltsam an. Noch abwegiger ist die Einschätzung, Extra­
vertierte würden „das Auftreten von Simultanereignissen besser tolerieren als
Introvertierte, da es ihrem Bedürfnis nach Stimulation entgegenkommt“ (S. 152).
Dass Extravertierte bei Simultanereignissen einfach weiterreden, ist vermutlich
eher ihrer Dominanz zuzuschreiben. Dass Introvertierte sich vage ausdrücken
und bei Simultanereignissen ihre Äußerung abbrechen, deutet weniger auf Unsicherheit und Sprachplanungsschwierigkeiten hin als vielmehr auf einen submissiven Gesprächsstil.
Daran schliesst sich die dritte Frage an: Ist die Grundannahme zutreffend,
Extravertierte würden eher eine Sprache der Nähe verwenden? Die Resultate und
deren Interpretation durch Andresen weisen in eine andere Richtung. Wenn Extravertierte häufiger in der Wir-Form sprechen, häufiger „äußerst bestimmt“ für ihren
Gesprächspartner mitentscheiden (S. 148), bekräftigende Modalpartikeln verwenden, Widerspruch ohne Hedging anmelden (S. 151), sich umgangssprachlicher
ausdrücken, weniger Vagheitsausdrücke verwenden und bei Simultanereignissen
einfach weiterreden, so ist das keine Sprache der Nähe, sondern eine Sprache der
Dominanz (vgl. Müller 1996, Thimm et al. 2001). Dies zu erkennen hat sich die
Autorin mit ihrer Annahme zu Beginn der Untersuchung verbaut.
Ein Blick in einige Gesprächstranskripte zeigt, dass die Unterschiede zwischen Intro- und Extravertierten noch viel eklatanter sind, als die punktuellen
Untersuchungen von Andresen erahnen lassen. Die beiden Gespräche unter
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Introvertierten (2, 3) werden durch eine offene Frage eingeleitet: „was machen wir
jetzt?“ (2: Z. 3). Dann wird ausführlich diskutiert, ob man beim Flugzeug bleiben
soll, ob man den Weg zur Blockhütte überhaupt findet, wie man eine Nachricht
beim Flugzeug hinterlassen könnte, bevor einvernehmlich entschieden wird,
dass man losläuft (2: Z. 132ff., 3: Z. 32ff.). Erst dann beginnt das Zusammenstellen
der Ausrüstungsliste. Es folgen vorsichtige Verhandlungen über jeden einzelnen
Gegenstand, wobei Vorschläge, was mitzunehmen oder dazulassen sei, grundsätzlich im Konjunktiv geäussert werden. Für jeden Gegenstand erfolgt eine separate Einigung. Thematische Abschweifungen oder Ironisierungen kommen nicht
vor. Die Gespräche gehören zu den längsten vier des Korpus.
In den drei Gesprächen unter Extravertierten (13, 14, 15) gibt es keinerlei Präliminarien. Die ersten Entscheidungen, was mitgenommen wird, fallen in den
Zeilen 4, 14 und 3 und werden teilweise sehr dezidiert vorgenommen: „also auf
jeden fall brauchen wir ja ähm (–) lebensmittel […] und ich würd auch sagen
dass (–) wir alle lebensmittel mitnehmen“ (13: Z. 4 + 6). Danach werden in rascher
Folge Entscheidungen gefällt, wobei viele Entscheidungen einseitig getroffen
werden. Alle sechs Probandinnen hüpfen sprunghaft von einem Thema zum
andern und lassen teilweise Gesprächsbeiträge der Partnerin unbeantwortet.
Einige der überstürzt gefällten Entscheidungen müssen später revidiert werden,
was den Gesprächsverlauf noch chaotischer erscheinen lässt. Trotzdem sind die
Gespräche wesentlich kürzer.
Zusätzlich fällt auf, dass die Extravertierten, ganz im Gegensatz zu den
Introvertierten, dazu neigen, die bestmöglichen Vorannahmen zu treffen und
Bedenken wegzuschieben: In der Blockhütte gibt es bestimmt Vorräte und
Wasser (13: Z. 26–31), wir sind sportlich und können viel tragen (14: Z. 7 + 595),
der Schlafsack ist bestimmt ein Hightechmodell (15: Z. 136), wir gehen
„einfach“ davon aus, dass Sommer ist (15: Z. 680) und dass man Gefriergetrocknetes ohne Wasser essen kann (15: Z. 317). Schliesslich entwickeln die
Extravertierten zum Spass auch absurde Szenarien, was sich bei den Introvertierten nicht findet. Sollte sich bei einer Reanalyse der Gespräche bestätigen, dass dieser Eindruck zutrifft und Extravertierte eher vorschnell agieren,
ohne gegenseitige Abstimmung handeln und unüberlegte Entscheidungen
fällen, während Introvertierte zwar langsam, aber umsichtig handeln und
Entscheidungen erst nach vorsichtigen Verhandlungen und in gegenseitigem
Einvernehmen fällen, so wären diese Resultate von eminenter Bedeutung
für gesellschaftlich relevante Fragen wie Personalselektion oder Ausbildung
von Führungskräften. So bleibt zu hoffen, dass Andresen ihr phantastisches
Korpus mit einer offeneren Herangehensweise noch einmal gründlich unter
die Lupe nimmt.
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Persönlichkeitsspezifische Sprachvariation 35
Literatur
Müller, Andreas Paul. 1996. Reden ist Chefsache. Linguistische Studien zu sprachlichen Formen
sozialer Kontrolle in innerbetrieblichen Arbeitsbesprechungen (Studien zur deutschen
Sprache 6). Tübingen: Gunter Narr.
Thimm, Caja, Sabine Koch & Sabine Schey. 2001. Sprach- und Kommunikationsforschung
inter­disziplinär: Ein methodischer Ansatz zur Analyse innerbetrieblicher Kommunikation.
In: Helmut Gruber & Florian Menz (Hg.). Interdisziplinarität in der Angewandten Sprachwissenschaft. Methodenmenü oder Methodensalat? (Sprache im Kontext 10). Bern: Peter
Lang, 189–206.
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