Wir dürfen nicht schüchtern sein, sondern müssen

DAS GANZE INTERVIEW
mit der NEOS- NR-Abgeordneten, Justizsprecherin und
Spitzenkandidatin der Wien-Wahl, Beate Meinl-Reisinger.
Das Interview führten Markus Drechsler und Thomas Ehrenberger.
„Wir dürfen nicht
schüchtern sein,
sondern müssen
kämpfen und
aufbegehren!“
Interview
Frau
Meinl-Reisinger,
Sie
sind
jetzt
seit
2013
als
Nationalratsabgeordnete im Parlament. Wie können Sie Arbeit und
Familie vereinbaren?
Es ist nicht immer leicht, denn es erfordert viel Disziplin und Organisation. Ich
blockiere Termine für meine Kinder im Kalender und halte das auch ein.
Außerdem stoße ich auf viel Verständnis meiner Kollegen, die bei
Ausschusssitzungen einspringen. Mein Mann und ich haben das generell sehr
partnerschaftlich organisiert.
Mit welchen Zielen sind Sie in das Parlament gegangen und konnten Sie
davon schon welche umsetzen?
Wir glauben daran, dass es eine Erneuerung des politischen Systems in
Österreich braucht. Wir sind wütend und trauen den etablierten Parteien,
besonders den ehemaligen Großparteien, keine großen Reformen zu. Wenn
machen auch als kleine Fraktion Druck, und ich sehe, dass unser Druck etwas
bewirkt. Aber natürlich in einem solchen System, in dem durchgewunken wird,
was von der Regierung kommt und vertagt wird, was von der Opposition
kommt, ist es schwierig. Wir kämpfen in jedem Fall weiter!
Wie sehr nerven Sie der Klubzwang und die damit einhergehende
ständige Ablehnung von NEOS-Entschließungsanträgen?
Es nervt nicht, aber ich halte es für keine gute politische Kultur. Ich halte es eher
für ein Problem, weil das Parlament ein Ort der Gesetzgebung ist, aber auch eine
Tribünenfunktion hat. Das heißt, man müsste dort auch streiten können und
seine Standpunkte vertreten. Wenn aber dort nur mehr durchgewunken wird,
und bei Fragestunden die Regierungsabgeordneten mehr oder weniger nur
mehr fragen: „Sind Sie wirklich so gut wie alle sagen?“, dann ist das keine gute
politische Kultur.
Sie haben im Vorjahr den „Blickpunkt des Jahres“ von uns erhalten.
Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie und haben Sie dafür schon
einen Platz gefunden?
Ja, der „Blickpunkt des Jahres“ steht noch auf meinem Kasten im Parlament,
aber ich habe vor es ins Rathaus mitzunehmen. Die Auszeichnung hat mich
wirklich gefreut und ich war sehr gerührt.
Zur Wien-Wahl: die NEOS treten angriffslustiger auf und agieren
populistischer. Ist das notwendig um sich Gehör zu verschaffen?
Ja, man muss zuspitzen, um Gehör zu bekommen. Erst wenn ich in die
Diskussion komme, kann ich darlegen, was mein Programm ist. Es ist einfach
letztlich die Frage, wie ich dazu komme, eine Botschaft anzubringen. Ich halte
es für wichtig, zuzuspitzen und zu polarisieren. Wir haben natürlich auch die
eine oder die andere Aktion im Parlament gemacht, die nicht gut angekommen
ist. Zum Beispiel der Auszug aus dem Plenarsaal, weil uns die Regierung falsche
Budget-Zahlen vorgelegt hat, nach dem wir medial stark kritisiert wurden. Da
waren wir eindeutig zu schüchtern, aber dann braucht es uns nicht. Wir dürfen
nicht schüchtern sein, sondern müssen kämpfen und aufbegehren!
Was ist Ihr persönliches Ziel bei der Wahl? Reicht der Einzug ins
Rathaus oder möchten die NEOS Verantwortung übernehmen und
mitregieren?
Eigentlich will ich Bürgermeisterin werden, denn ich glaube, dass es für Wien
gut wäre, wenn jemand aus meiner Generation und auch eine Frau
Bürgermeisterin wird. Das würde eine echte Aufbruchsstimmung bringen, die
Wien dringend bräuchte. Ein Wahlziel in Prozent kommuniziere ich nicht, das
sollen die Politikberater diskutieren. Ich möchte lieber davon reden, bei der
Politik einzusparen und in die Bildung zu investieren. Wir sind aber bereit,
Verantwortung zu übernehmen, aber das bespreche ich dann am 12. Oktober
nach der Wahl.
Können Sie sich in Wien eine Koalition mit der FPÖ vorstellen?
Ich werde Strache oder Gudenus nicht zum nächsten Bürgermeister machen.
Ich arbeite zwar mit der FPÖ zusammen und habe beispielsweise mit den
Grünen
und
dem
FPÖ-Kultursprecher
gemeinsam
Pressekonferenzen
abgehalten. Bei Sachthemen arbeiten wir zusammen und es gibt auch Bereiche,
in denen wir gemeinsame Ziele haben. Aber wir haben uns die Kandidatenliste
der FPÖ für die Wiener Gemeinderatswahl angesehen und da ist keine Person
darauf, die nicht bereits mit einer menschenverachtenden Aussage aufgefallen
ist.
Wer wird Ihnen als Justizsprecher im Parlament nachfolgen und wer
wird Ihr Nationalratsmandat übernehmen?
Nachfolgen als Nationalratsabgeordnete wird mir Claudia Gamon, die
ehemalige
JUNOS-Vorsitzende
(Anm.
der
Red.:
Junge
NEOS,
Studentenvertretung). Sie wird sich im Wissenschaftsbereich engagieren und
sich um Themen der sozialen Gerechtigkeit und Chancengleichheit kümmern.
Und unser Menschenrechtsexperte Niki Scherak wird mir als Justizsprecher
nachfolgen.
Leistbares Wohnen und gute Bildung sind hinreichend bekannte
Themen. Nennen Sie uns drei wichtige NEOS-Forderungen für Wien
abseits dieser Themen.
Erstens der Kampf gegen die gierige Politik, denn wir haben ein System der
höchsten Parteienförderung weltweit. Dennoch haben wir zusätzlich noch einen
Selbstbedienungsladen, der gigantisch ist. Das geht von Partei- und
Kulturvereine über öffentliche Aufträge, die an Parteiunternehmen vergeben
werden, bis zu Zusatzjobs im Bereich der Stadt. Das ist ein gigantisches
Geschäftsmodell für vor allem eine Partei, und auch die anderen Altparteien
machen mit. Da muss gespart und sinnlose Jobs abgeschafft werden, denn das
kann ich ja niemanden mehr erklären bei 150.000 Arbeitslosen in der Stadt. An
allen Ecken und Enden fehlt das Geld, aber die Parteienförderung wird
valorisiert. Es gibt in jedem Bezirk zwei Bezirkshauptmannstellvertreter, und
die bekommen 4.200 Euro im Monat. Mir geht es aber nicht um eine
Politikergehaltsdiskussion, aber mir geht es darum, dass es keiner mehr
versteht und die Bürger zu Recht „angefressen“ sind.
Zweitens braucht es mehr Arbeitsplätze in Wien. Dazu gehört das Thema
Bildung, denn Unternehmen sagen mir, dass sie Lehrlinge einstellen würden,
aber dass es eben schon an den Grundkompetenzen Rechnen, Schreiben und
Lesen mangelt. Die Pisa-Tests zeigen, dass in Wien ein Fünftel die Schule
verlässt, ohne sinnerfassend Schreiben und Lesen zu können, also praktisch als
funktionelle Analphabeten. Das ist ein Wahnsinn und eine Tragödie für diese
jungen Menschen. Es braucht auch bessere Rahmenbedingungen für die
Betriebe, denn es werden wegen den hohen Lohnnebenkosten keine neuen
Mitarbeiter eingestellt, und der bürokratische Aufwand ist sehr hoch.
Außerdem gibt es Betriebe, die keine neuen Mitarbeiter einstellen, weil sie nicht
ahnen können, was der Regierung als nächstes einfällt und welchen Belastungen
sie in Zukunft ausgesetzt sein werden. Drittens gehört die Gewerbeordnung
reformiert, die WK-Pflichtmitgliedschaft für EPUs abgeschafft und die
Lohnnebenkosten gesenkt. In Wien würden wir auch gleich die U-Bahnsteuer
und die Kammerumlage II temporär aussetzen, denn wir haben eine Krise und
brauchen Arbeitsplätze.
Die Grünen waren jetzt einige Jahre in einer Koalition mit der SPÖ und
haben auch relativ wenig durchgebracht. Glauben Sie, dass Sie sich
gegen einen Michael Häupl durchsetzen werden können?
Erstens glaube ich, dass Michael Häupl nach der Wahl weg sein wird, aber ich
kann in einer kraftvollen Position sein, wenn ich die Wählerstimmen bekomme.
Die Grünen haben einzelne Projekte gut gemacht, aber sie haben nicht
prinzipiell die Politik der Stadt geändert. Man weiß nach wie vor nicht, ob etwas
Stadt oder Partei ist. Bei der Wahlrechtsreform sind sie komplett umgefallen.
Ich hätte mir das nicht bieten lassen und wäre aus der Koalition ausgestiegen.
Die NEOS sind nun – ohne einer Wahl – nicht mehr die kleinste Partei
im Parlament. Wie möchten Sie in Zukunft Wähler dazugewinnen?
Indem ich alle anspreche, die Veränderung wollen. Aber eine Veränderung ohne
Hass und Hetze, denn es gibt zwei Parteien in Österreich, die für eine
Veränderung des politischen Systems stehen. Das eine ist die FPÖ, bei der man
sich fragen muss, ob sie wirklich für Veränderung stehen, denn sie waren in der
Regierung und Teil des politischen Systems. Strache ist seit 1993 in der Politik,
die Korruptionsprozesse laufen immer noch, dennoch wird die FPÖ als
Reformpartei wahrgenommen. Aber es gibt auch uns, und bei uns gibt es kein
Ausspielen der Bevölkerungsgruppen oder extreme Ideologien. Wir kämpfen
für eine ehrliche Veränderung und transparente Politik.
Ich glaube, viele wünschen sich einfach einen „nassen Fetzen“, mit denen man
die herrschenden Politiker aus dem Amt jagt. Denn was ist der Bürgerwille noch
wert? Politik dreht sich nur noch um Machterhalt und Machtgewinn,
demokratische Werte zählen nicht mehr. Der Rot-Blaue Pakt im Burgenland ist
ein Beispiel dafür, die aktuelle Shoppingtour des ÖVP-Klubs im Team Stronach
ein weiteres.
Kurz
zur
Asyl-Problematik:
Wie
bewerten
Sie
die
bisherige
Performance der Regierung?
Welche
Performance?
Ich
finde
das
Asylthema
zeigt,
neben
dem
Maßnahmenvollzug, wie sehr dieses politische System und der Föderalismus
nicht mehr funktioniert. Wir schaffen keine Lösungen. Man muss sich
vorstellen,
dass
das
Innenministerium,
das
Außenministerium,
das
Verteidigungsministerium, sämtliche Landeshauptmänner, und - nach Wochen
des Abgetauchtseins - auch der Bundeskanzler und der Vizekanzler mit dem
Thema beschäftigt sind und sie alle keine Lösung schaffen. Der Vizekanzler hat
im Sommergespräch gesagt: „Wir können nicht zaubern!“ Das verlangt auch
keiner und es ist eine schwierige Situation, aber man hätte es kommen sehen
können.
Es gibt keine Strategie und es muss einfach gelöst werden. Von SOS-Kinderdorf
habe ich gehört, dass sie 100 Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
angeboten haben und das Innenministerium das jetzt prüfen will. Was prüfen
die da? Prüfen sie, ob es in Traiskirchen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
gibt? Prüfen sie, ob SOS-Kinderdorf in der Lage ist, sie unterzubringen? Was
soll das? Es ist einfach unbeschreiblich! Ich frage mich, ob es wirklich nicht
funktioniert, weil das System des Föderalismus mit dem Ping-Pong-Spielen der
Verantwortung so versagt, oder ob es auch bewusst gemacht wird? Ich bin mir
da nicht so sicher.
Ist Innenministerin Mikl-Leitner rücktrittsreif?
Ja, das ist sie. Es bräuchte eine politische Verantwortungskultur und wenn man
so versagt, dann sollte man zurücktreten! Wobei man muss auch sagen, dass es
ein Versagen der Verwaltung, der Bürokratie und des Beamtenapparats ist.
Wie würde Ihre Lösung zu Traiskirchen aussehen
wenn Sie
unbeschränkte Möglichkeiten hätten?
Ich würde mir einen Manager und alle Verantwortlichen an einen Tisch holen
und sie erst wieder aufstehen lassen, wenn es eine Lösung und ein
Zusammenarbeiten gibt. Es kocht momentan jeder sein eigenes Süppchen, das
muss besser gehen!
Kann man nicht relativ einfach ein Notstandsgesetz machen, indem
Verordnungen der Bauordnung und ähnliche Hindernisse außer Kraft
gesetzt werden, bis die Situation in Traiskirchen entschärft ist und sich
wieder alles normalisiert hat?
Das könnten wir auch, aber ich glaube, dass wir auch so genügend Quartiere
hätten, die den Anforderungen entsprechen und es eher Ausreden der
Gemeinden sind. Aber falls das so ist, sehe ich das genauso wie sie. Es muss
abgewogen und das wichtige zuerst gemacht werden. Auch dass die Klöster
nicht mehr Menschen aufnehmen, finde ich problematisch. Wenn man nach
Traiskirchen fährt, muss man sich genieren. Es fehlt einfach an Leadership,
denn wer zeigt denn wirklich Führungsqualität und setzt etwas durch?
Setzen Sie Hoffnung in den neuen Asylkoordinator Christian Konrad?
Das war unsere Forderung, nachdem die Regierung so versagt hat. Ich war
überrascht, dass es Konrad geworden ist, aber ich glaube schon, dass er gut
vernetzen und anpacken kann. Es sollte sich damit zum Besseren bewegen.
Generell scheint es in Europa immer mehr Menschen zu geben, die
gegen Asylanten wettern. In Deutschland brennen bereits Asylheime.
Wie steuern die NEOS dem entgegen?
Erstens müssen Flüchtlinge aus Kriegsgebieten untergebracht werden, die
Kinder müssen in die Schulen kommen - und das ganze menschenwürdig.
Zweitens zeigen wir Haltung und grenzen uns dagegen ab. Es gibt wirklich
unglaubliche Postings auf Facebook! Ich finde, jeder einzelne, der dagegen
auftritt und sagt, dass er das nicht will, ist wichtig.
Wordrap
Koffer:
Strache – er hat uns ja auf Grund eines Facebook-Sujets verklagt.
Hypo:
Größtes Finanzdebakel der Zweiten Republik,
die politische Verantwortung steht noch aus.
Bildung:
Wichtigster Schlüssel zur Chancengerechtigkeit
Menschenrechte:
Grundlage für unser gesamtes Tun, wichtigster Maßstab
politischer Arbeit und größte kulturelle Leistung Europas.
Traiskirchen:
Eine Schande
Brennende Asylheime:
Jenseitig, schlimmer geht’s nicht.
Mein politisches
Vorbild:
Schwierig, ich habe eigentlich keines. Es gibt aber Menschen,
vor denen ich großen Respekt habe.
Meine Familie:
Unendlich wichtig für mich und mein Kraftfeld.
Mein Lieblingsbuch:
„Erklärt Pereira“ von Antonio Tabucchi über einen
Widerstandskämpfer in Portugal.
Meine Lieblingsmusik:
Von Beethoven, Schubert, Mozart bis Brahms und Kurt Weil.
Derzeit habe ich auf meinem IPhone Bilderbuch, Wanda und
Lindsey Sterling.
Mein Lieblingsort:
In Wien gibt es auf der Donauinsel Richtung Klosterneuburg einen
Platz, an dem man die Berge und das Wasser in einer
schönen Kombination sehen kann.
Diese drei Dinge würde ich
auf eine einsame Insel
mitnehmen:
Mein E-Book Reader „Kindle“, einen Generator und ein
Ladekabel.
Online erschienen auf www.blickpunkte.co im September 2015.
Originalartikel abrufbar unter www.blickpunkte.co/201509interview1.pdf