Protokoll IV

Einführung in die Literaturwissenschaft
IV. Antike Poetiken
Antike Poetiken liegen allen späteren Literaturtheorien zugrunde und stellen somit ein
unverzichtbares Basiswissen für Literaturwissenschaftler dar. Generell kann ›Poetik‹ als ›Theorie
der Dichtung‹ verstanden werden; insofern bildet sie heute einen Teilbereich der ›Ästhetik‹ (=
Philosophie der Kunst).
Poetiken können sowohl normativ als auch deskriptiv sein. Zu ihren Hauptthemen zählen der
Ursprung von Dichtung, deren gesellschaftliche Legitimation und Verhältnis zur Realität, die
Definition und Hierarchisierung von Gattungen sowie die Formulierung von Regeln.1
Die vier wichtigsten Kunst- bzw. Dichtungstheoretiker der klassischen Antike sind Platon,
Aristoteles, Horaz und ›Longin‹2. Die erste ›Poetik‹ im eigentlichen Sinne stammt von Aristoteles
(384-322), der aber bereits auf Platons (428/27-348/47) Grundsatzkritik an Dichtung reagiert.
Platons Auffassung von Dichtung greift die Enthusiasmus-Theorie des Demokritos von Abdera
(460-270 v.Chr.) auf. Aus dessen Behauptung, niemand könne »ohne Begeisterung und einen
gewissen Wahnsinn« gut dichten, zieht Platon jedoch die Konsequenz, Dichtung als etwas
Irrationales und damit als Gefahr für den Staat anzusehen. Zum Verständnis von Platons
Gedankengang ist seine Ideenlehre zu berücksichtigen: Die Dinge der konkreten, materiellen Welt
werden − ihrer Vergänglichkeit wegen − nur als ›Abbilder‹ der ewigen, unveränderlichen Ideen
(›Urbilder‹) verstanden. Weil Künstler insofern immer nur reale Dinge nachahmen, sind ihre
Schöpfungen bloße ›Nachbilder‹ der ›Abbilder‹ − sie stehen also in einem noch größeren Abstand
zu den ›Ideen‹. Außerdem erfinden die Dichter ›Lügen‹ über die Götter, weil sie diese gar zu
vermenschlicht darstellen. Aber auch in der Erregung allzu heftiger sinnlicher Wirkungen sieht
Platon eine erhebliche Gefahr und hat daher in seinem idealen Staat (vgl. Politeia) keinen Platz für
Dichter. Im realen Staat ist es seiner Ansicht nach erforderlich, die Künste streng zu kontrollieren.
Die Poetik (ca. 335 v.Chr.) des Aristoteles ist als eine Reaktion auf Platons Verdikt gegen die
Dichtung zu verstehen. Seine Poetik stellt die wirkungsmächtigste poetologische Schrift überhaupt
dar, hat ihre Wirkung aber erst seit der Renaissance voll entfaltet. Bis ins späte 18. Jahrhundert
hinein liegt die aristotelische Poetik insbesondere allen europäischen Dramentheorien (speziell für
die Tragödienregeln) zugrunde. Erst die Genie-Theorie des 18. Jh. verdrängt sie und relativiert ihre
Verbindlichkeit. Aristoteles vertritt folgende Hauptthesen: Zunächst versteht er Nachahmung als ein
angeborenes Grundbedürfnis des Menschen. Für Aristoteles ist damit aber kein grundsätzliches
1
Weiterführende Literatur zu antiken Dichtungstheorien: Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike:
Aristoteles – Horaz – ‚Longin‘. Eine Einführung. 2. überarbeitete und veränderte Auflage. Düsseldorf / Zürich 2003.
2
Mit ›Longin‹ ist ein griechischer Anonymus gemeint, den man früher fälschlicher Weise mit Longinos identifiziert
hat. Sein Text Peri hypsous (wörtlich: Über das Hohe) ist nur vage in das Jahr 40 n.Chr. zu datieren.
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IV. Ästhetik und Poetik der klassischen Antike
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Wahrheitsproblem verbunden, weil er die platonische Ideenlehre nicht anerkennt. Aristoteles betont
vielmehr die Differenz von ›Geschichtsschreibung‹ (Nachahmung des tatsächlich Geschehenen)
und ›Dichtung‹ (Nachahmung des Möglichen/Wahrscheinlichen). Im Gegensatz zu Platon kann
Aristoteles der Dichtung – speziell der Tragödie – daher einen sozialen Nutzen zugestehen. Seine
Katharsis-Theorie beschreibt, wie mittels der Bewunderung der Zuschauer für einen Helden, der
einen Fehler (›hamartia‹) begeht und dadurch Leid (›pathos‹) erlebt, Schauder (›phobos‹) und
Jammer (›eleos‹) entstehen. Die Zuschauer steigern sich in die beiden tragischen Affekte ›Jammer‹
und ›Schauder‹ hinein und reagieren sich dadurch ab − das wird als emotionale Reinigung
(›Katharsis‹) zum Zweck der psychischen Stabilisierung verstanden.
Die drei ›aristotelischen Einheiten‹ von Zeit, Handlung und Ort haben lange Zeit die Dramentheorie
geprägt. Obwohl Aristoteles das Theater seiner Zeit nur beschreibt, ist er seit seiner
Wiederentdeckung im späten 15. Jahrhundert normativ ausgedeutet worden: ›Einheit der Zeit‹
meint, dass die ›dargestellte‹ Zeit der Aufführungsdauer möglichst nahe kommen soll; ›Einheit der
Handlung‹ meint, dass jedes Drama ganzheitlich angelegt sein soll (also Anfang, Mitte und Ende
umfasst) und ein zentraler Konflikt vorliegt; ›Einheit des Ortes‹ meint, dass die vorgeführte
Handlung an einem einzigen Ort spielt (z. B: ›Königspalast‹).
Quintus Horatius Flaccus (Horaz, 65-8 v. Chr.) formuliert mit seiner Ars poetica eine Poetik, die
selbst in Versen (Hexameter) niedergeschrieben ist. Auch wenn es sich um eine normative Poetik
handelt, ist sie nicht philologisch streng durchgeführt, sondern witzig ironisch angelegt. Horaz’ Ars
poetica erläutert die Grundregeln jeder ›klassizistischen‹ Dichtung, wobei vier Punkte im
Vordergrund stehen: Musterhaftigkeit der Griechen − Verbindung von Unterhaltung und Belehrung
− Einheitlichkeit und Schlichtheit der Gestaltung − Mäßigung bzw. Dämpfung. Als zentrales
Richtmaß in Horaz‘ Literaturprogramm dient die gesunde Vernunft, die auch das Dichter-Ideal
eines ›poeta doctus‹ voraussetzt − als zentraler Wert ergibt sich das ›decorum‹/›aptum‹.
›Longins‹ Poetik, die erst seit dem 17. Jh. Verbreitung gefunden hat, bildet den wichtigsten
Gegenpol zur klassizistischen Poetik des Horaz. Der Anonymus postuliert das ›Erhabene‹ als
ästhetischen Komplementärbegriff zum ›Schönen‹. Gemeint ist hiermit das Nicht-Schöne, aber
durchaus ästhetisch Reizvolle, das in seiner Größe und Widersprüchlichkeit sinnliche Gewalt
vermittelt (z.B. ein Sturm). Longin argumentiert, dass Poesie durch die poetische Bedeutung des
Erhabenen definiert wird. Diese bewirkt eine ›Erschütterung‹, während Rhetorik demgegenüber auf
Deutlichkeit verpflichtet ist. Die Überwältigung durch mitreißende Affekte ist die Aufgabe der
Poesie. Von der Größe begeistert, wird der Zuhörer dieser nacheifern.
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Zitate:
Platon3
Sokrates zu Ion:
»Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu
dichten, bis er begeistert worden ist und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.
Denn so lange er diesen Besitz noch festhält, ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu
sprechen.« (Ion, 534 b)
Sokrates zu Glaukon:
»›Also dieses werden uns drei Bettgestelle, das eine, das in der Natur seiende, von dem wir, denke
ich, sagen würden, Gott habe es gemacht. Oder wer sonst?‹
›Niemand, denke ich.‹
›Eines aber der Tischler.‹
›Ja‹, sagte er.
›Und eines der Maler. Nicht wahr?‹« (Politeia X [597 b])
»[Hesiod, Homer und alle anderen Dichter] haben doch für die Menschen unwahre Erzählungen
zusammengesetzt und vorgetragen und tragen sie auch noch vor.« (Politeia II [377 d])
»Ion. [...] Wenn ich nämlich etwas ›Klägliches‹ vortrage, so füllen sich mir die Augen mit Tränen,
wenn aber etwas Furchtbares und Schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht,
und das Herz pocht.
[…]Sokrates. Und weißt du wohl, dass ihr auch unter den Zuschauern
gar viele eben dahin bringt?« (Ion [535 d])
Aristoteles – Poetik4
»Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar
naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren [...] −
als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.« (11)
»Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie größtenteils - das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie
unterscheiden sich jedoch in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je
verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf
je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen.« (5)
»[...] daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern
vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder
Notwendigkeit Mögliche.« (29/31)
»Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter
Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten
je verschieden angewandt werden - Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die
3
Platon: Der Staat (Politeia). Durchgesehen, verbessert und bibliographisch ergänzt von Karl Vretska. Stuttgart 1982
(rub 8205); Platon: Ion. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Hellmut Flashar. Stuttgart 2002 (rub
8471).
4
Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1999 (rub
7828).
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Jammer und Schaudern hervorruft
Erregungszuständen bewirkt.« (19)
und
hierdurch
eine
Reinigung
von
derartigen
Zeit: »die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufes zu
halten oder nur wenig darüber hinauszugehen; das Epos verfügt über unbeschränkte Zeit und ist
also auch in diesem Punkte anders - obwohl man es hierin ursprünglich bei den Tragödien ebenso
gehalten hatte wie bei den Epen« (17)
Handlung: »Demnach muß, wie in den anderen nachahmenden Künsten die Einheit der
Nachahmung auf der Einheit des Gegenstandes beruht, auch die Fabel, da sie Nachahmung von
Handlung ist, die Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein. Ferner
müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und
durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird.« (27/29)
Horaz – Ars poetica5
»vos exemplaria Graeca
nocturna versate manu, versate diurna« (v. 268f.)
»aut prodesse volunt aut delectare poetae /
aut simul et iucunda et idonea dicere vitae«
(»Sinnbelehrend will Dichtung wirken oder herzerfreuend, oder sie will beides geben: was lieblich
eingeht und was dem Leben frommt.«)
»denique sit quodvis, simplex dumtaxat et unum« (540 − v. 23)
(»Kurz und gut, erschaffe, was du willst; nur sei es einartig und aus einem Guß.«)
»scribendi recte sapere est et principium et fons«
(»Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben.«)
»ne pueros coram populo Medea trucidet
aut humana palam coquat exta nefarius Atreus« (v. 185f.)
(»Weder soll Medea ihre Kinder vor aller Augen schlachten
noch der schändliche Atreus Menschenfleisch kochen«)
›Longin‹ – Vom Erhabenen6
»Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt
ja das Erstaunliche / mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überredet oder
gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige
unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jeglichen Hörer überwältigt; auch sehen wir die
Kunst der Erfindung und die kluge Ordnung des Stoffes nicht an einer oder zwei Stellen, sondern
im ganzen Gewebe der Rede kaum eben hervorschimmern, während das Erhabene, wo es am
rechten Ort hervorbricht, den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz zerteilt und schlagartig
die geballte Kraft des Redners offenbart.« (5/7)
5
Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort
herausgegeben von Eckart Schäfer. Stuttgart 1980 (rub 9421).
6
Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart 1988
(rub 8469).
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IV. Ästhetik und Poetik der klassischen Antike
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Einführung in die Literaturwissenschaft
»Denn unsere Seele wird durch das wirklich Erhabene von Natur aus emporgetragen, schwingt sich
hochgemut auf und wird mit stolzer Freude erfüllt, als hätte sie selbst geschaffen, was sie hörte.«
(17)
»Erste und mächtigste Quelle ist die kraftvolle Fähigkeit, erhabene Gedanken zu zeugen [...].
Zweite Quelle ist starke, begeisterte Leidenschaft; diese zwei Grundlagen des Erhabenen sind
weitgehend angeboren, während die weiteren nun schon Leistungen von Kunst darstellen, nämlich
die besondere Bildung der Figuren (hier gibt es wohl zwei Arten, nämlich Gedanken- und
Ausdrucksfiguren), weiter die großartige Sprache, deren Teile wieder die Wahl der Wörter und
figurenreiche, kuntvolle Diktion sind. Die fünfte Ursache der Größe, die alles Vorausgehende
einschließt, ist die würdevolle gehobene Wort- und Satzfügung.« (19)
»Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie
die Kunst unmerkbar einschließt.« (61)
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