Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert

Regina Schaunig: Der Dichter im Dienst des Generals. Robert Musils Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg. Mit zwei Beiträgen von Karl Corino
und 87 Musil zugeschriebenen Zeitungsartikeln. Klagenfurt, Wien: kitab 2014.
367 S. € 19,80.
Dass Robert Musil, wie viele andere Schriftsteller seiner Generation, den Beginn des Ersten
Weltkrieg nicht aus der Distanz des pazifistischen Mahners kritisierte, sondern zum einen mit
seinem Essay Europäertum, Krieg, Deutschtum in den Chor anfänglicher Bejahung und Begeisterung einstimmte und zum anderen ab Juli 1916 als Redakteur und Schriftleiter zweier
offizieller Militärblätter der k.u.k. Monarchie tätig war, ist anlässlich des Jubiläumsjahres 2014
wieder deutlicher ins Bewusstsein der (Musil-)Philologie gerückt. Die genaueren Umstände
und institutionellen Kontexte seiner redaktionellen Arbeit für die (Tiroler) Soldaten-Zeitung
(1916/1917) sowie die in Wien im Auftrag des Kriegspressequartiers hergestellte Zeitschrift
Heimat (1918) jedoch gehören weiterhin zu den weniger genau dokumentierten Aspekten seiner
Laufbahn.
Diese biographisch wie editionsphilologisch brisante Thematik, auch angesichts einer „seit
Jahren stagnierenden Forschungssituation rund um Musils Kriegspublizistik“ (S. 91), erstmals
umfassend zu sichten und damit der Musil-Forschung neue Impulse zu geben, stellt zweifellos
eine lohnende Aufgabe dar. Die Tatsache, dass Regina Schaunig zu einem bisher meist in kleineren Aufsätzen behandelten Bereich eine Monographie von stolzen 367 Seiten vorlegt (etwa
zwei Drittel davon machen die edierten Zeitungstexte aus), steigert darüber hinaus die Hoffnung, hier werde ein lange Zeit tendenziell unterbelichtetes Thema endlich einmal in seiner
vollen historischen, biographischen und ästhetischen Tragweite dargestellt und behandelt.
Nicht zuletzt befördert die zu Beginn des Bandes formulierte These, wonach „die politischen
und feuilletonistischen Beiträge der von Musil herausgegebenen Soldatenzeitungen und das
damals ‚gesetzgebende‘ militärisch-redaktionelle Umfeld für seine moralische und pragmatisch-pädagogische Haltung als Schriftsteller von nachhaltigen Bedeutung“ gewesen seien und
deren Interpretation folglich „wesentlich zum Verständnis des Gesamtwerkes beitragen“ könne
(S. 14), die Erwartung auf neue, erhellende Perspektiven, die nicht vom ausführlich beforschten
literarischen und essayistischen ‚Hauptwerk‘, sondern gewissermaßen von der ‚Peripherie‘ her
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gedacht und artikuliert werden – auch wenn Schaunigs forcierte Einschätzung, der Erste Weltkrieg sei bisher „in der wissenschaftlichen Lektüre“ des Musil’schen Œuvres „nur am Rande
wahrgenommen“ worden (S. 11), weder haltbar noch forschungsgeschichtlich plausibel ist.1
Leider jedoch wird der grundsätzlich positive Eindruck von Schaunigs Unternehmung und
ihrer Recherchen der letzten Jahre erheblich dadurch getrübt, dass sich die Studie, die wesentlich (und oft unkritisch) auf den Vorarbeiten von Karl Corino fußt, eines philologisch komplexen Gebiets in – im Kontext der Theoriedebatten des vergangenen Jahrzehnte – beinahe provokant positivistischer Weise annimmt. Zwar scheinen im äußerst knapp bemessenen Literaturverzeichnis gleich vier gewichtige Bände des französischen Soziologen Pierre Bourdieu auf,2
als theoretische und methodische Grundlegung der Studie können diese freilich kaum gelten.
Vielmehr finden sich Bruchstücke aus dem terminologischen Repertoire der Bourdieu’schen
Kultursoziologie (Habitus, Hexis, Feld) recht unsystematisch über den Text verstreut (vgl. S.
13, 35, 37f., 41f., 54 u. 87), ohne dass sich dem Leser daraus ein spezifisches Erkenntnisinteresse erschließen würde. Für Bourdieus Theoriebildung zentrale Fragen wie jene nach der Rolle
von Eigennamen, die im Sinne einer ‚biographischen Illusion‘ suggerieren, Ordnung „in das
Unscharfe und Fließende der biologischen und sozialen Realitäten“ bringen zu können,3 geraten
dabei – wohl weil sie das positivistische Projekt hintertreiben würden – gerade nicht in den
Blick. Schaunigs eigene Darstellung, die gut 100 Seiten des Bandes ausmacht, erschöpft sich
weitgehend in der Zusammenschau historisch-biographischer Wissensbestände, die zum einen
– mit einigen interessanten Ausnahmen, etwa zum titelgebenden General Alfred Krauß (v.a. S.
56–68) – in der einschlägigen Musil-Forschung kaum als neu gelten können und deren Darstellung zum anderen in weiten Teilen eines adäquaten literaturwissenschaftlichen Zugriffs entbehrt. Aus dem Befund einer „verminderten literarisch-essayistischen Qualität“ sowie „der Unsicherheit der Autorschaft“ (S. 96) entwickelt die Autorin kein hinreichendes Instrumentarium
zur Beschreibung jener diffizilen Problemlagen, die im Kontext der Autorschaftsforschung –
u.a. angeregt von Roland Barthes’ Unterscheidung von ‚Schriftsteller‘ und ‚Schreiber‘ – seit
vielen Jahren diskutiert werden. An neuralgischen Stellen tritt die fehlende theoretische und
Man denke etwa an die einschlägigen Arbeiten von Kai Evers (2009), Alexander Honold (1995ff.) und Paul Zöchbauer (1996) oder zuletzt an Mathias Mayers Der Erste Weltkrieg und die literarische Ethik (2010), die in Schaunigs Bibliographie überraschender Weise allesamt nicht aufscheinen.
2 Es handelt sich dabei um Die feinen Unterschiede, Homo academicus, Die Regeln der Kunst und Entwurf einer Theorie der Praxis;
zusätzlich wird im Text noch auf die Bände Sozialer Sinn und Die männliche Herrschaft verwiesen (vgl. S. 38).
3 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion [frz. 1994], in: P. B.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns.
Aus dem Französischen v. Hella Beister. Frankfurt a.M. 1998, S. 75–83, hier S. 79. Wenn bei Schaunig im Übrigen von
einem „habituell eindeutig vorprogrammierten Weg“ (S. 35) die Rede ist, scheint es, als habe die Verf. grundlegende
Voraussetzungen und Annahmen des Bourdieu’schen Habitus-Konzepts nicht zur Kenntnis genommen.
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methodologische Reflexion der Studie schließlich besonders deutlich hervor, etwa wenn die
„moderne Forderung der Einheit von Autor und Werk“, die an sich schon erläuterungsbedürftig
wäre, umstandslos mit dem systemtheoretischen Begriff der „autopoesis [sic]“ gleichgesetzt
wird (S. 112).
So zeugen Schaunigs Beobachtungen zur Nähe von Musils literarischer Praxis zu (s)einem
‚militärischen Geist‘ zwar von einem nicht von akademischen Routinen verstellten Zugriff auf
den Gegenstand, erweisen sich aber – auch aufgrund der fehlenden Rückbindung an die aktuelle
Forschung – in ihrer Direktheit als nur eingeschränkt valide; etwa mit einem Seitenblick auf
den Mann ohne Eigenschaften: „Musil selbst entfernt sich als Autor in dieser Beziehung [i.e.
der Suche nach ‚Ordnung‘ im Bereich einer umfassenden Anthropologie, H.G.] nicht weit von
der von ihm ausgesprochen sympathisch gezeichneten Figur des Generals Stumm von Bordwehr […].“ (S. 41) Was daraus folgen soll, mutet dann beinahe abenteuerlich an: Musil sei, so
Schaunig, auch als Romancier „ein Autor im Dienst eines positivistischen [!] Dichtungsbegriffs“ gewesen und habe „sein Werk quasi in ‚Uniform‘, der Uniform eines Gelehrten, eines
Beamten und Staatsdieners, geschrieben.“ (S. 41) – Als störend fallen bei der Lektüre einige
gröbere Verschreibungen und sachliche Fehler auf, etwa wenn der Erste mit dem Zweiten Weltkrieg vertauscht (S. 16), der angebliche Referenztheoretiker der Studie wiederholt als Pierre
„Bourdeau[ ]“ apostrophiert wird (S. 13, Anm. 16; S. 35; S. 40) oder Franz Grillparzer gemeinsam mit „Joseph Roth, Franz Werfel, Stephan [!] Zweig“ zu jenen Autoren gerechnet wird, die
„das Scheitern des Ersten Weltkriegs“ literarisch kommentiert hätten (S. 10).4 Darüber hinaus
wird kaum klar, warum die beiden forschungshistorisch sicher wichtigen und verdienstvollen
Aufsätze von Karl Corino, die darüber hinaus in literaturwissenschaftlichen Periodika leicht
zugänglich sind,5 hier noch einmal – unkommentiert und nicht aktualisiert – abgedruckt wurden. Hier wäre wohl eine Erweiterung und Vertiefung des schon in der vorliegenden Form
hilfreichen Forschungsberichts (vgl. S. 93–96) der Sache dienlicher gewesen.
Als Anstoß zu einer erneuten und umfassenderen Debatte über den Status jener Texte, die
im Rahmen von Musils redaktioneller Tätigkeit für die Soldaten-Zeitung und die Heimat entstanden sind, wird Schaunigs Monographie und ihre umfangreiche Textsammlung vermutlich
gute Dienste leisten. Auch werden viele bisher nur in Faksimiles bzw. in einzelnen Bibliotheken
Auch dass das Musil-Forum im Literaturverzeichnis mit den Musil-Studien verwechselt wird (S. 367), erfreut den Rezensenten nur eingeschränkt.
5 Es handelt sich dabei um die folgenden beiden Texte: Karl Corino: Robert Musil, Aus der Geschichte eines Regiments, in:
Studi germanici 11 (1973), S. 109–115; ders.: Profil einer Soldatenzeitung aus dem Ersten Weltkrieg, Heimat, und ihres
Herausgebers Robert Musil, in: Musil-Forum 13/14 (1987/1988), S. 74–87.
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zugängliche Texte aus der Soldaten-Zeitung hier erstmals in einem – im Übrigen ansprechend
gestalteten – gedruckten Band zusammengefasst und zur Diskussion gestellt, was jedenfalls als
Verdienst dieser Publikation genannt werden kann. Schaunigs Plan, die „recht zurückhaltende
Zuschreibungsdiskussion einiger weniger Forscher in Bezug auf Musils Beiträge in den beiden
Soldatenzeitungen“ neu anzuregen und auf eine breitere Basis zu stellen (S. 93), ist jedoch nur
dann zu unterstützen, wenn sich zukünftige Bemühungen nicht in der Frage erschöpfen, ob eine
biographische Person „Robert Musil“ diesen oder jenen Text verfasst hat, ohne dabei die Praxis
einer Textproduktion unter spezifischen institutionellen Bedingungen genauer in den Blick zu
nehmen (was die Zurechnung einzelner Texte zu einem Musil’schen ‚Gesamtwerk‘ im Grunde
obsolet macht). Will die Musil-Forschung mit dem literaturtheoretischen Niveau benachbarter
Autorenphilologien Schritt halten – wofür etwa Christoph Hoffmanns Arbeiten zu Gottfried
Benns medizinischen Schriften als Vorbild dienen können –, kann das letzte Wort in dieser
Sache noch nicht gesprochen oder geschrieben sein. Ohne konzise Interpretationsmodelle ist
dieser biographisch, historisch wie editionsphilologisch komplexe Fall nicht hinreichend zu ergründen.
Harald Gschwandtner
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