Operation Carbon

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02.09.2015
Operation Carbon
Die CFK-Aerzte von Lamborghini
Speziell ausgebildete Flying Doctors aus Sant'Agata Bolognese sind auf der ganzen Welt im
Einsatz. Ihre Mission: die Versorgung und Heilung beschädigter Teile aus
kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen. Neben technischem Know-how erfordern die
hochpräzisen Eingriffe am Leichtbaukörper der Supersportwagen jede Menge Übung. Ein
Selbstversuch als Assistenzärztin in der "Carbon-Klinik" des Advanced Composite Research
Center.
Es wirkt, als hätte Captain Kirk Scotty angewiesen, ein besonders futuristisches Flugobjekt
mitten in den OP von Grey's Anatomy zu beamen. Tatsächlich erinnert der Raum im
Advanced Composite Research Center (ACRC) von Lamborghini ein wenig an eine Klinik.
Weiß, aufgeräumt, fast schon steril. In der Mitte schwebt auf einer Hebe-bühne eine schwarze
Karosserie.
Hier trainieren drei "Doktoren" für ganz besondere
Einsätze rund um den Glo-bus. Ihr Fachgebiet:
kohlenstofffaserverstärkte Kunststoffe (CFK). Damit sind
die sogenannten Flying Doctors wohl weltweit
einzigartig. Und ich darf ihnen einen Tag lang
assistieren. Normalerweise sitze ich im Büro der
berühmten Schmiede für Super-sport-wagen. Aber heute
schlüpfe ich in die Rolle der Assistenzärztin: Haare
zusammenbinden, das schwarze Polo mit dem Stier auf
der Brust überstreifen, blaue Handschuhe anziehen.
Casper Steenbergen, Chef der fliegenden Ärzte,
begrüßt mich in seinem "OP". Das Trainingszentrum ist
auf angenehme 21 Grad Celsius temperiert. "Das ist
optimal, um Carbon zu verarbeiten", erklärt er mir und
deutet auf die schwebende Karosserie. "Daran üben die
Doktoren, wie sie nach einem Unfall selbst feinste
Haarrisse im Carbon erkennen und reparieren."
Bis zu zwei Jahre
dauert eine solche Schulung. Anschließend werden die Flying Doctors auf Kundenwunsch in
die entlegensten Erdteile entsandt, um beschädigte Lamborghini zu verarzten. "Wir sind der
ein-zige Automobilhersteller, der Carbonteile repariert", sagt Casper. "Teile auszutauschen
wäre teuer. Besonders, wenn es sich dabei um ein Monocoque handelt. Da sind wir schon
bald beim Preis eines Neuwagens."
Lamborghini arbeitet seit über 30 Jah-ren mit kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen. In
eigenen Forschungszentren und in Kooperationen wie früher mit Boeing entwickeln die
Italiener ihre Kompetenz stetig weiter. "Das Procedere für die Reparatur von Carbon kommt
aus der Aeronautik, der Wissenschaft vom Fliegen", sagt Casper. Schon kleinste
Beschädigungen können die Crashsicherheit von Carbon massiv beeinflussen. "Wir haben
einen Prozess entwickelt, der Steifigkeit und Sicherheit wiederherstellt. Damit ist Lamborghini
der erste Automobilhersteller mit einem TÜV-zertifizierten Reparaturstandard für Ca
Casper zeigt mir einen großen Metalltisch, auf dem die Bestecke für eine OP bereitliegen.
"Das ist unser Werkzeug." Ich erkenne Klebeband, Schere, Skalpell. Jetzt wird es ernst. Ich
versuche, mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal etwas repariert habe. Dunkel dämmert in
meinem Hinterkopf ein platter Fahrradreifen. Das war vor 13 Jahren. Hätte ich das erwähnen
sollen? Zu spät. Paolo Bisordi, Flying Doctor der ersten Stunde und mein heutiger Trainer,
schüttelt mir bereits die Hand zur Begrüßung. Der 35-Jährige trägt zwar keinen weißen Kittel.
Aber sein ruhiger Blick und die grünen OP-Handschuhe verleihen ihm die Souveränität eines
altgedienten Arztes.
"Schau dir mal diesen Riss an." Er deutet auf das
Radhaus der Lamborghini-Karosserie. Ich kann beim besten Willen nichts erkennen. "Ja,
man braucht ein geschultes Auge", gibt er zu. "Mit einem Riss im Carbon verhält es sich wie
mit einem Eisberg. An der Ober-fläche ist fast nichts zu sehen, aber darunter kann sich der
Riss in viele Richtungen verzweigen."
ACRC
Das Advanced Composite Research Center ist eine Keimzelle für Innovationen. Hier
forscht Lamborghini unter anderem an neuen Ein-satzmöglichkeiten für Carbon und an
neuen Produktionsweisen.
Deshalb müssen alle Schichten unter dem Riss sorgfältig abgeschliffen werden. Bevor mich
Paolo an den eigentlichen "Patienten" lässt, soll ich an einem Dummy üben – einer Platte
aus vier Carbonlagen. Mit einem Seitenschleifer arbeite ich mich kreisförmig Schicht um
Schicht durch die schwarzen Fasern. Der Schleifer liegt schwer in der Hand. Ganz schön
anstrengend, dabei auch noch präzise zu sein.
Über die abgeschliffene Stelle legt Paolo eine
Klarsichtfolie. Er deutet auf das Loch in der Platte: "An
der gegenläufigen Struktur der Carbonfasern siehst du
die einzelnen Schichten." Mit einem schwarzen Marker
zeichnet er sie auf der Folie nach.
So entsteht eine Vorlage für die sogenannten Patches –
Kreise, die wir anschließend aus Carbongewebe
ausschneiden und die später – Schicht um Schicht
übereinandergelegt – exakt das Loch verdecken
sollen.Doch das Ausschneiden ist gar nicht so leicht.
Die Fasern sind mit Harz überzogen, damit sie sich
später miteinander verbinden. Das Material ist extrem
hart, gleichzeitig aber sehr flexibel. Mit dem Skalpell
komme ich nur mühsam durch. Paolo muss nachhelfen.
Mit der Genauigkeit eines Chirurgen schneidet er die
restlichen Patches. Ruhe sei wichtig bei der Arbeit. "Zeit
darf keine Rolle spielen", sagt Paolo. "Es geht um
Perfektion. Nur so können wir höchste Sicherheit für
den Kunden nach einer Reparatur gewährleisten."
Während Paolo schneidet, fallen mir seine extrem kurzen Nägel auf. Sie drücken sich kaum
durch die Handschuhe. "Das ist Vorschrift für uns Doktoren", erklärt er. "Damit wir das
Carbon nicht verletzen." Deshalb besitzt er auch unzählige Nagelsets. "Auf fast jeder Reise
bemerke ich erst am Flughafen, dass ich mal wieder die Nagelfeile zu Hause vergessen
habe." Nach acht Jahren als Flying Doctor kommt da ganz schön was zusammen.
1,5g pro cm3
Damit ist Carbon 80 Prozent leichter als Stahl und über 50 Prozent leichter als
Aluminium.
Als Paolo mit dem Schneiden fertig ist, zieht er die blaue Schutzfolie vom kleinsten
Carbonkreis. Er klebt ihn exakt über das Loch. Mit einem Gummiabzieher streicht er ihn an
den Seiten fest. "Jetzt bist du dran." Er reicht mir das Werkzeug. Der Größe nach soll ich alle
Patches einzeln auftragen. Das Harz auf dem Carbongewebe haftet schnell. Ich muss immer
wieder gründlich nacharbeiten, damit keine Luftblasen entstehen.
Die letzten Luftbläschen verschwinden jedoch erst beim
Vakuumisieren. Gleichzeitig müssen die Patches erhitzt werden. Das Harz schmilzt und
verbindet beim Erhärten die Carbonschichten. In der Produktion werden die laminierten Teile
in diesem Stadium in einen riesigen, runden Ofen geschoben. Da die Flying Doctors mobil
arbeiten, erledigt eine rote Wärmematte aus Silikon diesen Job bei einem externen Einsatz.
Darüber kommen Nylonfolie, ein Vlies zum Schutz und dann die Vakuumfolie. Innerhalb
weniger Sekunden zieht eine Pumpe jegliche Luft unter der Folie heraus. Jetzt kommt das
wichtigste Werkzeug zum Einsatz: der Hotbonder. Ein Metallkoffer, der jede Menge Stecker
und Schalter enthält. Der "Patient" wird verkabelt. Der Hotbonder regelt die Temperatur der
Wärmematte auf konstante 120 Grad Celsius. Paolo streift die Handschuhe ab. "Pause für
uns." Zwei Stunden müssen die Kreise aus Carbongewebe nun backen.
"Mit einem Riss im Carbon verhält es sich wie mit
einem Eisberg. An der Oberfläche ist fast nichts zu
sehen, aber darunter kann sich der Riss in viele
Richtungen verzweigen."
Paolo Bisordi, Flying Doctor
Der erfahrene Doktor packt unterdessen bereits für den nächsten Einsatz. In einer großen
braunen Kiste verstaut Paolo zahlreiche Werkzeuge. Sechs solcher Kisten sind von der
Westküste der USA über die Golfregion bis nach Asien stationiert. Wenn ein Flying Docotor
zu einem Einsatz aufbricht, ist außerdem eine Kiste mit Gefahrengütern wie
Reinigungsmitteln und Klebern an Bord. Und natürlich die Eiskiste – eine Box, in der das
Carbongewebe mithilfe von Trockeneis auf minus 18 Grad Celsius gekühlt wird. So übersteht
es den Transport, ohne dass das Harz bereits in der Box aushärtet.
Pro Jahr fliegen Paolo und seine drei Kollegen durchschnittlich zu acht Einsätzen. Ihr bisher
schwierigster Fall? "Ein Kunde hatte eine unfreiwillige Begegnung mit einer Palme", erzählt
Paolo. "Zu allem Übel ist ihm nach dem Zusammenstoß auch noch eine Kokosnuss auf die
Motorhaube gefallen." Die ist zwar nicht aus CFK. Dennoch waren die Schäden am
Monocoque eine Herausforderung. Als Paolo mir gerade die Reparaturgeschichte erzählen
will, klingelt sein Telefon. Für ihn heißt das: Koffer packen. Was ihn erwartet, weiß er noch
nicht genau. Aber eines nimmt er sich fest vor: Diesmal wird er die Nagelfeile nicht
vergessen.
TEAM
Flying Doctor werden nur die Besten der Besten. Wer sich in der Serienproduktion von
Carbonteilen bewiesen hat, durchläuft zusätzlich ein zweijähriges Training.
Text: Dorothea Joos
Fotos: Bernhard Huber