SAGENHAFTE WANDERUNGEN Sage aus dem Fricktaler Jura AG DIE ZWERGENTAUFE UNTER DEM BERG Wisst ihr noch von jenen längst vergangenen Tagen, als am Fuss der Ramsflue oberhalb von Erlinsbach das Dorf Wil gestanden hatte? Eine Quelle mit warmem heilsamem Wasser entsprang einst dem Felsen und linderte die Gebrechen zahlreicher Besucher aus aller Herren Gauen. Es heisst, die Zwerge hätten diese Wunderwasser aus der Tiefe heraufgeleitet, aus einem verborgenen See im Innern des Berges, wo sich ihr Schloss und ihr Königreich unter Tag befanden. Die Härdlütli erschienen den Menschen jener Zeit immer wieder in hilfreicher Absicht und vollbrachten manches segensreiche Werk an ihnen. Später hätten sich die Talbewohner aber mit ihnen zerworfen, und daraufhin sei der Flecken Wil durch ein Erdbeben gänzlich vom Angesicht dieses Landstriches getilgt worden. Vor langer Zeit schnitten zwei aufgeweckte Bauernmädchen Kornähren am Fuss der hochragenden Juraflühe. Die Ältere der beiden Schwestern hiess Ursula und liess plötzlich einen überraschten Schrei hören. «Ei, Bürgi, sieh, da hoppelt eine feiste Kröte», rief sie, «ich schlage das garstige Tier gleich tot.» Sie hob ihre Sichel zum vernichtenden Hieb, doch da fuhr Walburg, die Jüngere, dazwischen und fiel ihr in den Arm. «Halt ein, Ursi, dieses Geschöpf hat dir nichts zuleide getan. Und schau, es ist recht rund und trägt wohl Kleine im Bauch.» Mitfühlend folgte ihr Blick dem warzigen Wesen, das behäbig von dannen kroch. Ursula rief ihm frohgemut nach. «Wenn das so ist, dann lasse es mich beizeiten wissen, wenn der Nachwuchs kommt, ich will gerne seine Gotte sein.» Am Abend erzählten die Mädchen bei Tische von ihrer wundersamen Begegnung. Misstrauisch runzelte die Mutter ihre Stirn. «Kind, da hast du deinen Mund wieder einmal voll genommen – und du weisst nicht einmal gegen wen. Nicht alles ist so wie es scheint – es heisst, dass die Härdlütli allerlei Gestalt annehmen können.» Mitten in der Nacht, als der Mond sein geheimnisvolles Licht über die Ramsflue verströmte, klopfte es unvermittelt an den Fensterladen von Ursulas Kammer. Aufgeregt fuhr sie hoch. Ob ihr Liebster aus dem Dorfe draussen seine Aufwartung machte? Rasch huschte sie zum Eingang, entriegelte die Tür und zog sie einen Spalt breit auf. Kein Nachtbube stand draussen parat, nein, ein Härdmanndli vertrat sich vor der Schwelle die Beinchen und erhob sein Fistelstimmchen, als das Mädchen seinen Kopf an die frische Luft herausstreckte. «Folge mir schön, Jungfer, und löse dein Versprechen ein, das du gestern auf dem Feld gegeben hast.» Ursula folgte dem Männchen bereitwillig in den Wald hinauf, und bald gelangten sie zu einer jähen Felswand. Ein Türchen tat sich darin auf, das dem Mädchen in all der Zeit zuvor nie aufgefallen war. Tief hinab wand sich der Stollen in das Innere des Erdreiches. Sorgsam wachte das Männchen darüber, dass das Mädchen nicht zurückfiel und deswegen den Weg verlor in diesem Wirrsal aus verschlungenen Gängen. Nach einer geraumen Weile gelangten sie an ein weiteres Tor, und das öffnete sich geradewegs auf eine blühende Wiese, von anmutigem Tageslicht erhellt und in den schönsten Farben strahlend. Verstreut Quelle: Rochholz, Ernst Ludwig (1984): Schweizersagen aus dem Aargau. Edition Olms, Zürich standen niedliche Behausungen aus filigranem Glas. Glanzvolle Lichter leuchteten in diesen Gehäusen und verliehen der Szene einen recht aparten Schmuck. Der Zwerg geleitete Ursula zielstrebig zu einem dieser Häuschen und hiess sie niederknien. Im Innern gewahrte das Mädchen mit Erstaunen ein feines Wiegelein – und darin lag ein frisch geborenes Wichtelkind gebettet. Ein blasses Erdweiblein lag daneben auf dem Kindbett und lächelte holdselig. Fröhliches kleines Volk sprang von allen Seiten herbei und bestürmte die Besucherin aus der Menschenwelt, ihr Gottenkind hochzuheben. In den Arm zu nehmen vermochte Ursula das winzige Geschöpf nicht, deshalb barg sie es behutsam in der hohlen Hand. Eine bunte Schar in feierlichen Gewändern komplementierte das Mädchen nun zu einem besonderen Gebäude in der Mitte der Zwergensiedlung, das ganz aus lauterem Kristall geschnitten schien und den Anschein einer Heidenkirche erweckte. Eine Alabasterschale mit glasklarem Wasser stand bereit, und geweihte Kerzen brannten allenthalben. Ursula verstand, dass sie nun die Kindstaufe an dem neugeborenen Wichtelwesen zu vollziehen hatte. Nach landesüblichem Brauch, wie es ihr geläufig war, zeichnete sie das heilige Kreuz auf die Stirn des Zwergenkindes. Da herrschte eitel Freude unter den Härdlütli und sie tanzten ausgelassen um die grosswüchsige Taufgotte herum. Zurück am Wochenbett zog die glückstrahlende Mutter fünf Halme aus ihrem Strohsack und reichte sie dem Mädchen als Gabe dar. Der Vater überbrachte ihr einen kostbaren Gürtel, der mit viel Zierrat bestickt war, und hielt sie an, dieses Geschenk ihrer Schwester Walburg zu überreichen. «Aber habt acht», mahnte er mit fester Stimme, «dass niemand von euch Menschen dieses Zauberwerk verwende, ohne dass wir es euch wissen lassen.» SAGENH Aus der Broschüre: Sagenhafte Wanderungen Sage zur Wanderung: 2015 / Nr. 1109 www.wandern.ch/sagenhaft AFTE WAN DER 10 Wand ervorschläg mit VIDE e O UNGEN Der Zwerg, der sie zu Hause abgeholt hatte, führte Ursula schliesslich wieder zurück in die Oberwelt. Er entliess sie am Fuss der mondbeschienenen Ramsflue mit höflichen Verbeugungen und überschwänglichem Dank. Ehe er wieder in den Berg zurück schlüpfte, wies er mit seinem kleinen Finger auf den Birnbaum, der weit unten auf der Hofstatt von Ursulas Vater stand. Die unnützen Strohhalme in ihrer Schürze schienen dem verdrossenen Kind lästig und es warf sie ärgerlich beiseite. Der Gürtel für seine Schwester gefiel ihr schon eher. Als es den Birnbaum an der March zu seines Vaters Grundstück erreicht hatte, schlang es das zierliche Band aus einer Laune heraus um den rissigen Stamm herum. Da ertönte ein lautes Krachen und der altehrwürdige Baum zerbarst in tausend Splitter. Erschrocken rang Ursula nach Atem. Sie wagte sich nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn sie den Gürtel ihrer unbedarften Schwester überlassen hätte. Das Zwergengeschenk war indes zu Staub zerfallen. Rasch sprang das Mädchen nun nach Hause, wo sich im Licht des anbrechenden Tages die Hofbewohner zu regen begannen. Niemand wollte der Nachtstreicherin recht glauben, als sie holterdiepolter ihre sonderbare Geschichte vortrug. Zum Beweis zog Ursula den letzten Strohhalm unter ihrem Rock hervor. Ganz von Gold glänzte er in den ersten Sonnenstrahlen und zeugte von der Grosszügigkeit des kleinen Volkes unter dem Berg. Reumütig durchstöberte das leichtfertige Mädchen sogleich das ganze Gelände unter der Ramsflue, um die restlichen Halme auch noch zu finden. Aber die blieben verborgen und desgleichen das geheimnisvolle Türchen im Felsen, das die Zwergengotte in der vergangenen Nacht so wundersam empfangen hatte. Andreas Sommer
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