WOCHENENDE MAGAZIN | REISEN | FREIZEIT | KARRIERE | IMMOBILIEN | MOTOR BILD: SN/HISTORISCHER VEREIN NORDRACH S A M S T A G, 9 . M A I 2 0 15 Die Schattenkinder Töchter und Söhne des Feindes. Ihr Schicksal ist eng mit dem Kriegsende verbunden, ihre Geschichte war lang ein Tabu. Sie litten unter einem doppelten Stigma: unehelich geboren, aus einer Beziehung mit dem ehemaligen Feind. Sie schleppten zusätzlich die schwere Last von Ausgrenzung und Verhöhnung. Sie kannten ihre Väter nicht oder wurden von ihnen verlassen. Ehemalige Besatzungskinder – viele von ihnen sind noch heute auf der Suche nach diesen Männern. SEITEN 2–4 REISEN FREIZEIT KARRIERE IMMOBILIEN MOTOR Pracht und Tränen Leistungsflüchtlinge Tipps Milder Winter Vorbereitung Louisiana zeigt seine reiche Geschichte zwischen Pflanzerprunk und Sklaverei. Seite 11 Sie protestieren nicht, sie rebellieren nicht. Was sind das nur für junge Leute? Seite 16 Wer effizient arbeiten will, muss bereit sein für Veränderungen. Sagt der Experte. Seite 31 Weil der Winter so mild war: Energieverbrauch für das Heizen ist gesunken. Seite 39 Wer mit dem Auto ins Ausland fährt, sollte für Eventualitäten gerüstet sein. Seite 47 Sizilien von Antike bis Barock Seite 9 SN CARD – die Vorteile Seiten 14, 15 Mehr Frauen in Vorständen Seite 31 Rechtsstreit Immobilie Seite 40 Nicht immer Erdöl Seite 48 2 MAGAZIN S AMS TA G, 9. MA I 2 0 15 Geboren, verlassen, verfemt, vergessen Die Geschichte der Besatzungskinder war lang ein Tabu. Jetzt zeigen sich an ihnen Ungeist und Geist der Nachkriegsgesellschaften. URSULA KASTLER Am 8. Mai 1945 endete mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht der Zweite Weltkrieg in Europa. Der sechs Jahre dauernde Weltbrand hatte Millionen von toten und lebenden Opfern zurückgelassen. Nie zuvor war das Ausmaß an Zerstörung so groß gewesen. Krieg und Massenverbrechen, Hunger, Flucht, Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen prägten Menschen und Länder. Die politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Auswirkungen sind bis heute sichtbar und spürbar. Während der Nachkriegsjahre rangen die Menschen um eine neue Ordnung. In den Aufbaujahren wollten sie die Gräuel vergessen. Eine Gruppe blieb deshalb am Rande der Gesellschaften: die Besatzungskinder. Viele Jahre ihres Lebens trugen sie ein doppeltes Stigma. Sie waren unehelich geboren und entstammten einer Beziehung mit dem ehemaligen Feind. Sie schleppten zusätzlich die schwere Last von Ausgrenzung und Verhöhnung. Sie kannten ihre Väter nicht oder wurden von ihnen verlassen. Viele ehemalige Besatzungskinder sind bis heute auf der Suche nach Hinweisen zu diesen Männern. Die Suche nach den Vätern war für die Besatzungskinder nicht nur dringlich, als sie zur Schule gingen, damit öffentlich wurden und wissen wollten, was geschehen war. Sie war auch dringlich, als sie eigene Kinder bekamen und diese nach der Familiengeschichte fragten. Als notwendig empfunden wird die Suche jetzt wieder, weil viele Frauen und Männer im Alter zwischen 60 und 70 Jahren ihr Leben überdenken und ihr Biografien ordnen möchten. Die Forschungsarbeiten von Historikern, die etwa Mitte der 1990er-Jahre einsetzten, die Öffnung amerikanischer und russischer Archive, die Berichterstattung in den Medien und das Internet haben inzwischen bis hin zu Familienzusammenführungen mit Halbgeschwistern vieles möglich gemacht. Ingrid Bauer, Professorin für Zeit- und Kulturgeschichte an der Universität Salzburg, gehörte zu jenem Kreis von Wissenschaftern, die sich früh mit dem Los der Kinder beschäftigten: „Vor gut 20 Jahren haben sich die ersten geoutet. Das war schwierig, weil das vor allem in Österreich gegen die Kultur des Vergessens gerichtet war. Viele sagen, mithilfe der Forschung und der Medien seien sie aus der Isolation geholt worden. Aus Einzelschicksalen wurde eine Erfahrungsgemeinschaft.“ Ein neues Selbstbewusstsein blühte auf. Die Anzahl jener Kinder in Österreich und Deutschland, die aus Liebesbeziehungen, Affären oder versorgenden „Bratkartoffel-Verhältnissen“ mit amerikanischen, britischen, russischen und französischen Soldaten hervorgingen, ist nicht geklärt. Auch über die Zahl an Vergewaltigungen gibt es kaum Register. Historiker sprechen von etwa 400.000 Besatzungskindern in Deutschland und rund 30.000 Kindern in Österreich. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Viele Mütter schwiegen zur Herkunft ihrer Kinder, um sie zu schützen und nicht auf sich aufmerksam zu machen. Mehr als 70 Prozent der Frauen brachten den Nachwuchs unter widrigsten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen selbst durch. Die Militärregierungen der Alliierten hatten mit Ausnahme der Franzosen wenig Interesse an den Früchten der Fraternisierung. Das Ende des Kriegs, der Einmarsch der „Besatzer“ in Deutschland und der „Befreier“ in Österreich – das gemäß der Moskauer Deklaration das „erste freie Land war, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer gefallen war“ – bedeutete nicht, dass zügig eine Art von Alltag einkehrte. Der niederländische Historiker Ian Buruma beschreibt in seinem soeben auf Deutsch bei Hanser erschienenen Buch „’45. Die Welt am Wendepunkt“ eindrücklich das, was in allen Kriegsländern unter dem materiellen Schutt, unter Gräbern und Gräben verborgen lag: Misstrauen, Feindseligkeit, Rachsucht, Vergeltungsdrang, Lynchjustiz, eine unbändiger Wille, sich irgendwie und ohne Rücksicht auf andere ein neues Leben zu schaffen, erotischer Gefühlstaumel und unwiderstehliches Verlangen nach Zuneigung und Vergessen – all dies geschürt von Hunger und Obdachlosigkeit, von Verzweiflung und Trauer, von Gewinnsucht und Gier, von einem nicht mehr existierenden Wirtschaftsleben und vom Zusammenbruch eines ganzen Wertesystems. „Im Krieg fällt die Moral“, so fasst es Ian Buruma zusammen. Das menschliche Elend in den Nachwirkungen des Kriegs sei ungeheuerlich und allgegenwärtig gewesen. Es war die Zeit, in der Besatzungskinder zur Welt kamen. Der deutsche Historiker und Kommunikationswissenschafter Rainer Gries, Inhaber des transdisziplinären Franz Vranitzky Chair for European Studies an An diesen Kindern hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Rainer Gries, Historiker der Universität Wien und Professor an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, hat zusammen mit der Magdeburger Historikerin Silke Satjukow die Fakten erforscht und Lebensgeschichten dieser Kinder in Deutschland zusammengetragen. „Für 1945 muss man sich das so vorstellen“, sagt er, „da kommen Fremde, Feinde. Sie erobern das Land und die Frauen, sie zeugen Kinder. Die Ideologie der Nationalsozialisten lässt sich nicht so rasch abschütteln. Im Rassenwahn ist allen klar, auch Fürsorgern und Politikern, dass man diese Kinder wegsperren und abschieben muss. Sie sollten nicht im Volkskörper verbleiben.“ Den französischen Besatzern kam dieses Denken besonders entgegen. Bereits am Nikolaustag des Jahres 1945 erging ein Befehl, demzufolge die deutschen Behörden unverzüglich all jene Kinder an die Besatzungsmacht melden mussten, die seit 1939 vor allem aus Lothringen oder dem Elsass deportiert worden waren oder künftig eine Deutsche zur Mutter und einen Franzosen zum Vater hatten. „Retour en France“ lautete die Devise. Mindestens 17.000 Kinder dürften zwischen 1945 und 1955 betroffen gewesen sein, viele von ihnen waren nach Vergewaltigungen geboren worden. „Unseren Erhebungen zufolge wurden dann aber nur 1000 bis 1500 Kinder zurückgeschickt. Der Grund dafür waren strengste Ausleseverfahren“, stellt Rainer Gries fest. In Kinderheimen wurden die Kleinen gesammelt, gepflegt, sogar liebevoll umsorgt, aber auch gewogen, gesichtet und auf ihre Tauglichkeit als Franzosen begutachtet. Wer den Vorstellungen nicht entsprach, blieb auf der Strecke. Die Franzosen wussten, dass diese Mission politisch, juristisch und moralisch heikel war. „Man hat mit allen möglichen Mitteln versucht, die Mütter zu überreden, die Kinder wegzugeben. Die Kinder wurden dann tatsächlich durchwegs von begüterten Familien des französischen Mittelstands adoptiert. Das wichtigere Versprechen, die Kinder in die Obhut der Väter zu übergeben, wurde aber niemals eingelöst. Das Gnadenlose war, dass man ihnen das Wissen um ihre Herkunft raubte. Ihnen war nicht einmal mehr der Name, nur der Geburtsort und das Datum geblieben“, sagt Rainer Gries. Für Österreich lässt sich laut Ingrid Bauer eine solche Vorgangsweise nicht feststellen. Die Franzosen reduzierten in Vorarlberg und Tirol bald ihre Truppen. Offiziere holten ihre Familien nach. Die Anzahl der Besatzungskinder war gering. Der Abschiebungsgedanke hielt sich als Hirngespinst bis in die 50er-Jahre. Die Kinder kamen in die Schulen und sollten eine gute Ausbildung erhalten, um in ihren „Zielländern“ zurechtzukommen. Als zehn Jahre später die Gesellschaften sich durch Liberalisierungsprozesse veränderten, offener wurden und die einstigen Feinde zu Verbündeten mutierten, hörte die öffentliche Stigmatisierung auf. Die ehemaligen Besatzungskinder der Franzosen, Amerikaner und Briten wurden zu Subjekten, an denen sich Aufgeschlossenheit demonstrieren ließ. Dann wurde es still um sie. Den Kindern russischer Soldaten erging es weniger gut. Ihnen funkte außerhalb der DDR die Politik mit dem Kalten Krieg dazwischen. Das erschwerte immens die Anerkennung wie auch die Suche nach den Vätern, wie Barbara Stelzl-Marx, Historikerin am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz, berichtet. „1945 kamen 400.000 Rotarmisten nach Österreich, 1955 waren noch 40.000 im Land. Ich nehme an, dass es rund 15.000 sowjetische Besatzungskinder gab. Beziehungen zu einheimischen Frauen waren nicht erlaubt, Eheschließungen nicht einmal ab 1946 möglich, als die anderen Militärs dies bereits gestatteten. Der Kreml fürchtete Spionage, Sabotage und Fahnenflucht. Erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 ließen sich Erkundigungen etwas leichter einholen.“ In der russischen Zone kamen verhältnismäßig viele Kinder nach Vergewaltigungen zur Welt. Sie trugen besondere Bürden. Noch als Erwachsene hatten viele von ihnen das Gefühl, sie hätten als „Feindeskinder“ und „Russenbälger“ kein Recht zu leben und müssten permanent Sühne für eine Schuld leisten. In der Rückschau der Historiker haben die Besatzungskinder für die Gesellschaften ihrer Zeit wesentliche Leistungen erbracht, wie Rainer Gries feststellt: „Sie waren das Fremde, das zunächst Ausgegrenzte, das Neue und wurden so zu Medien, an denen Mitbürger wie auch Politik lernten und liberaler werden konnten.“ Das persönliche Leid war dessen ungeachtet hoch. Manches davon ist nie geheilt. Unehelich und dunkelhäutig. Für die Kinder der Afroamerikaner war die braune Ideologie nicht mit dem Krieg vorbei. URSULA KASTLER BÜCHER „Bankerte!“ Besatzungskinder in Deutschland nach 1945, von Silke Satjukow und Rainer Gries, Campus Verlag 2015. Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland, von Barbara Stelzl-Marx, Silke Satjukow (Hg.), Böhlau 2015. Wir Besatzungskinder. Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen, von Ute BaurTimmerbrink, Ch. Links Verlag 2015. Befreiungskind, von Eleonore Dupuis, Edition Liaunigg 2015. MAGAZIN 3 S A M S T A G, 9 . M A I 2 0 15 Die Fotografien auf diesen Seiten wurden in der „Pouponnière de Nordrach“ im Schwarzwald aufgenommen. Das Heim war eine Sammelstelle für Kinder deutscher Mütter und französischer Soldaten, die zur Adoption in der „Heimat“ freigegeben werden sollten. Die Bilder stammen aus dem Archiv von Helene Haas (1. kleines Bild, sie steht ganz links), die dort als Krankenschwester arbeitete. Alle Fotos sind mit 1949 datiert. Fotografiert wurde mit der Kamera ihres späteren Ehemanns (3. kleines Bild von oben, er steht links). BILDER: SN/HISTORISCHER VEREIN NORDRACH „Die schwarze Schmach“ Schweigen, Demütigungen, Lügen, Scham: Sogar, wenn sie das Glück hatten, von ihren Müttern oder Großeltern geliebt und behütet zu werden, wuchsen in diesem Labyrinth die meisten österreichischen und deutschen Kinder ehemals feindlicher Soldaten auf. Unentrinnbar wurde das Dickicht für jene Mädchen und Buben, deren Hautfarbe dunkler war und deren Haare sich mehr kräuselten. „Die schwarze Schmach“ nannte man sie gemäß der Propaganda des Dritten Reichs noch lang nach dem Krieg. Ihre Mütter galten als „Amiflitscherl, Amihuren, Dollarflitscherl, Schokoladenweiber“. Die Frauen hatten sichtbar „Schande“ über das Dorf oder die Familie und die aus dem Krieg zurückgekehrten Männer gebracht, die die Beziehungen zum „Feind“ als Verrat an ihrer Männlichkeit und ihrem Kampf für das Vaterland ansahen. In Deutschland dürften ab 1946 mindestens 5000 Kinder afroamerikanischer Soldaten oder französischer Kolonialsoldaten zur Welt gekommen sein. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Für Österreich gilt die Anzahl von 300 Kindern als Annäherungswert. In Salzburg sollen einem Bericht aus dem Jahr 1955 zufolge 1899 uneheliche Kinder einer Beziehung von Österreicherinnen mit Soldaten der U. S. Army entstammt sein. Bei diesen Besat- zungstruppen dienten fünf Prozent afroamerikanische Soldaten. Philipp Rohrbach ist Historiker am Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI). Er erforscht zusammen mit Kollegen für das am Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg angesiedelte Projekt „Lost in Administration“ die Geschichte der österreichischen Kinder mit schwarzer Hautfarbe. Überrascht hat ihn, dass ein Großteil der damals oft jungen Mütter sich – wie in Deutschland auch – weigerte, ihre Kinder trotz wirtschaftlicher Not und trotz aller Schikanen wegzugeben. Gesellschaftlich wäre die Adoption erwünscht gewesen. Die „Negerbrut“ – so lautetet ein Schimpfwort – sollte bis in die 50er-Jahre hinein in ihre „Heimatländer“ geschickt werden. Als Heimat galt das Herkunftsland des Vaters. Das führte etwa in Deutschland dazu, dass christlich getaufte Kinder von marokkanischen Franzosen nach Nordafrika zu muslimischen Familien oder in die Départements d’outre-mer, die Überseegebiete wie Guadeloupe und Réunion, verschifft wurden. „In Österreich gab es einige Zeit vor allem für Halbwaisen und Waisen einen Vermittlungsschwarzmarkt. Das war möglich, weil adoptionswillige Amerikaner nicht persönlich kommen mussten“, stellt Philipp Rohrbach fest. Für viele schwarze Kinder begannen die Schwierigkeiten erst richtig, als sie in die Schule kamen. Sie waren oft schüchtern, weil sie zurückgezogen aufgewachsen waren. Verzweifelte Tarnung war das Gebot der Stunde, wenn die Hautfarbe „glücklicherweise“ nicht ganz so dunkel war. Mütter und Großmütter versuchten dann etwa mit Glätteisen die verräterischen Locken in den Haaren zu entfernen. „Man darf nicht vergessen, dass nationalsozialistisches Gedankengut und Rassendenken in der Gesellschaft in den 50er-Jahren noch verbreitet war. Es gab fortschrittliche und liebevolle Lehrer, aber auch solche, die von der braunen Ideologie nicht abrückten“, sagt Philipp Rohrbach. Während in Deutschland zu dieser Zeit bereits erste von Politik, Wohlfahrtseinrichtungen und Medien getragene Diskussionen in Gang kamen, die die Aufnahme der Kinder als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zum Ziel hatten, ist solches für Österreich kaum festzustellen: „In Österreich war erstens die Anzahl vor allem der schwarzen Kinder dafür zu gering. Deutschland hatte zudem als Täternation schlechte Karten. Die Kinder wurden also dort eine Projektionsfläche für erfolgreiche Demokratisierung und den neuen guten Umgang mit Minderheiten. Österreich fühlte sich als Opfer des Natio- nalsozialismus. Es gab demnach keinen Grund, sich mit Folgen auseinanderzusetzen“, erklärt Philipp Rohrbach. Für die Besatzungskinder – vor allem jene mit dunkler Hautfarbe – hat das bis in die heutige Zeit Folgen. Als Kinder lebten sie vaterlos, weil die Soldaten versetzt wurden, nicht heiraten durften oder sich aus dem Staub machten. Die Mädchen und Buben waren jahrelang Anfeindungen ausgesetzt, mussten miterleben, wie ihre Mütter gedemütigt wurden, sie hörten Lügen über ihre Familiengeschichte oder standen vor einer persönlichen Mauer des Schweigens, die für viele nie aufgebrochen ist. Als aus den Kindern Jugendliche und Erwachsene wurden, gab es für sie in diesem Land keine Öffentlichkeit. Sie waren mit ihren schweren Schicksalen verdrängt und vergessen. „Wenn wir mit ehemaligen Besatzungskindern reden, wundern sich heute viele immer noch, dass sie nicht allein betroffen sind“, sagt Philipp Rohrbach. Das offizielle Schweigen hat lang gehalten. Für das Projekt „Lost in Administration“ werden Frauen und Männer gesucht, die zwischen 1946 und 1956 als Kinder von Österreicherinnen und afroamerikanischen GIs geboren wurden, ihre Geschichte erzählen oder Betroffene kennenlernen möchten. [email protected] 4 MAGAZIN S AMS TA G, 9. MA I 2 0 15 Auf der Suche nach dem Schatten Helmut Köglberger wurde als Besatzungskind geboren. Der prominente Fußballer hat von dem Mann, der sein Vater ist, weder Namen noch Bild. URSULA KASTLER Helmut Köglberger ist in Linz bekannt. Kaum öffnet er die Tür zum Café, strecken sich ihm Hände entgegen: „Hallo, servas, griaß di“, sagen die jungen Fußballfans und lachen. Er schmunzelt. „Erfolge sind auch nur relativ“, wird er später tiefsinnig anmerken und ebensolche Einblicke in sein ungewöhnliches Leben erlauben. In eines, das viele Jahre lang schwierig war, denn er trug das Besatzungskind im Gesicht und die Vaterlast, den Vaterverlust auf den Schultern. Mehr noch als zu jener Zeit, da er in Österreich ein berühmter Fußballer war, 236 Tore erzielte und im Oberhaus für den LASK spielte, packt es ihn jetzt manchmal. Immer noch will er wissen, wer der Mann war, dem er seine Geburt verdankt. Bis jetzt ist alles im Dunklen geblieben. Nächstes Jahr wird er 70. Schwierigkeiten mit der Gesundheit haben ihm vergangenes Jahr zu schaffen gemacht. „Ich bin es gewöhnt, dass es nicht so läuft, wie es sich gehört“, sagt er und fügt milde hinzu: „Ich nehme das alles an, das hat mir immer geholfen.“ habe aber nie einen Anhaltspunkt bekommen. Nie. Ich habe nicht einmal einen Vornamen. Bei meinen Nachforschungen stieß ich bis zum Tode meiner Mutter 1988 auf eine Mauer des Schweigens. Sie wollte es entweder nicht sagen oder wusste nicht, wer es war, weil es als Gewaltakt passierte. Es muss aber knapp nach Kriegsende gewesen sein, weil ich im Jänner im Krankenhaus Steyr zur Welt kam. Die Mutter hat mich in den ersten Monaten weggegeben. Abgeschoben wahrscheinlich, ja abgeschoben. Ich bin in der Verwandtschaft herumgereicht worden, bis mich die Oma zu sich genommen hat. Sie war damals um die 50. Bei ihr habe ich bis zum 18. Lebensjahr gewohnt. Die Mutter hat später geheiratet, aber als ich ein Kind war, hat ihr Mann nur mit mir geschimpft. Wenn mich die Oma nicht genommen hätte, wäre ich in ein Heim gekommen. Ich habe erst später erfahren, was das bedeutet hätte. Die Oma war super. Das war mein Glück. SN: Wie war es damals, wenn man als Kind feststellte, dass man nicht so aussah wie alle anderen im Dorf? Schwierig. Im Nachhinein habe ich aber verstanden, dass viele Leute durch den Krieg, die Verluste und die Niederlage verkehrt gedacht haben. Sie waren die Verlierer, aber ich war das Kind eines Siegers. Die Schwarzen hat man mit Afrika verglichen. In den ersten Jahren hieß es, diese Kinder gehören weg. Man wollte sie in Heime schieben, nach Amerika oder Afrika verfrachten. Es war aber nicht immer schwierig für mich. Mein Aussehen hat mir auch Vorteile gebracht. Das habe ich bald ausgespielt. Wenn ich zu den Amerikanern ging, habe ich immer etwas bekommen. Man war ja auf sich allein gestellt. In der Schule habe ich Glück gehabt. Ich hatte einen Lehrer, der auf die Schüler einging. Er hat mich und mein sportliches Talent gefördert. Damals habe ich auch gelernt, dass man Dinge zuerst erledigen muss, dann gibt es Zuwendung und Fußballspielen. Ich habe gelernt, dass man etwas tun muss, um ein Ziel zu erreichen. Das hat mich geprägt. Mein Talent für den Fußball hat sich bald gezeigt. Das hat mir geholfen. Außerdem war ich bald der Murli von Österreich und damit etwas Besonderes. SN: Herr Köglberger, stört es Sie nicht manchmal, dass Sie immer wieder über Ihre Kindheit und Jugend, über Ihre Erfahrungen als schwarzes Besatzungskind befragt werden? Köglberger: Nein. Es ist mein Leben und ich kann es nicht ausradieren. Vielleicht kann ich damit jemandem helfen, dem es auch so ergangen ist. Ich arbeite gern sozial. SN: Wie sind Sie aufgewachsen? Meine Mutter war Magd auf einem Bauernhof in Sierning. Dort war eine Gruppe von schwarzen Amerikanern untergebracht, mit denen sie in Kontakt kam. Einer davon muss mein Vater gewesen sein. Ich Helmut Köglberger, der Stürmer, verschaffte sich beim LASK rasch mit Toren Respekt. Hier spielt er 1973 im Austria-Dress. BILDER: SN/SÜNDHOFER, GEPA/ CHRISTIAN ORT SN: Hat Sie das getroffen? Nein, das hat mich nie gestört. Blöde Bemerkungen habe ich ausgehalten. Die gab es vor allem bei Auswärtsspielen. Da flogen schon manchmal Bananen und beleidigende Zurufe. Aber das gibt es heute auch noch. Heute werde ich nicht mehr angefeindet. Ich bin Jahrhundertspieler beim LASK. Ich habe meinen Platz gefunden, ich habe einen guten Namen. SN: Was hat Sie gestärkt? Mit 20 Jahren habe ich die Frau meines Lebens kennengelernt. Wir bekamen drei Söhne und sind immer noch zusammen. Meine Frau hat in allem zu mir gehalten, wir haben einander gut ergänzt. Das war das Wichtigste. Dadurch hat mich die Vergangenheit nicht mehr so belastet. Ich lebe in einer glücklichen Familie. Eine meiner Überlebensstrategien war, nicht nur auf mich selbst zu schauen. Wenn man teilt, ist man willkommen. Ich habe so von anderen auch immer etwas bekommen. Ich bin mit meinem Leben zufrieden. SN: Was macht Sie glücklich? Glücklich macht mich die Freude der Kinder in unserem Projekt in Nairobi, das wir zusammen mit dem Land Oberösterreich und der Caritas aufgezogen haben. Wir planen eine sichere Zukunft für die Kinder und Familien in Korogocho, dem zweitgrößten Slum in Kenias Hauptstadt. Mittlerweile gibt es dort eine Schule für 1300 Kinder, eine Bäckerei mit Ausbildungsstellen und die Fußballakademie. Die jungen Talente, die sie besuchen, sind sehr stolz darauf. Ich bin alle zwei Monate dort. Als Nächstes wird es ein Gesundheitszentrum geben. Alles ist so organisiert, dass Einheimische mitarbeiten und es in den nächsten Jahren übernehmen können. Das ist unser Ziel. Wer sich für das Projekt „Hope for Future“ interessiert, findet unter www.hopeforfuture.at weitere Informationen.
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