Klassiker wieder gelesen
Erving Goffman (2005): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 17. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; 192 Seiten, €€ 9,50.
Erving Goffman
Stigma
Über Techniken
der Bewältigung
beschädigter Identität
suhrkamp taschenbuch
wissenschaft
Die Konstruktion des Normalen
Als Angehörige psychotherapeutischer und beraterischer Berufe hantieren wir in der Regel mit einem Konzept von Identität, das sich auf unser eigenes Selbstverstehen und das
unserer Klienten als eine Art psychische Größe bezieht, der wir uns durch Introspektion
und Empathie annähern können. Als sozialwissenschaftlich inspirierte systemische Praktiker ist uns dabei klar, dass auch scheinbar hochindividuelle Identitätsentwürfe sich
letztlich als soziale Konstruktionen erweisen, die das psychologisch Einzigartige mit
dem sozial Typischen amalgamieren. Für diese Einsicht hat neben anderen Erving Goffman, der am 11. Juli dieses Jahres 85 werden würde, Wesentliches geleistet, ein Soziologe, der – übrigens im Unterschied zu vielen seiner Kollegen – weit über die Fachgrenzen
hinaus populär geworden ist.
Identität und ihre Handhabung im sozialen Kontext durchziehen als zentrales Thema sein Werk. Dabei taucht das oben angedeutete Identitätskonzept bei ihm als Idee der
„Ich-Identität“ auf, die es erlaubt, „zu betrachten, was das Individuum über das Stigma
und sein Management empfinden mag“ (S. 133), für Goffman aber von nachgeordnetem
Interesse ist. Dagegen sind „soziale und persönliche Identität ... zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität
in Frage steht“ (S. 132). Persönliche Identität manifestiert sich für Goffman hier eben
nicht im psychologischen Innenleben des Individuums, sondern in seinem Namen, seinem Ausweis, in seiner Biografie und in den dafür notwendigen Techniken der öffentlichen Selbstdarstellung (weshalb wir auf Täuschung und Hochstapelei so empfindlich
reagieren). Psychotherapeuten tun meines Erachtens gut daran, diese unterschiedlichen
KONTEXT 38,1 (2007), ISSN
S. 99–105,
0720–1079
ISSN 0720–1079
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
99
Klassiker wieder gelesen
Perspektiven auf Identität in ihre eigenen Wirklichkeitskonstruktionen einzubeziehen,
wenngleich es sich hier – wie wir sehen werden – keinesfalls um ein PsychotherapieBuch handelt.
Goffman hat sich nie bemüht, seine Konzepte innerhalb eines theoretischen Gesamtzusammenhanges zu entwickeln und darzulegen, was ihm manche Kritik seiner Disziplin eingebracht hat. Seine Gedanken entfalten sich immer anhand konkreter Beobachtungen und Situationsbeschreibungen, eine Systematik ist nicht ohne weiteres erkennbar.
Gleichzeitig lässt sich diese Vorgehensweise auch nicht umstandslos als Empirie verstehen, denn die benutzten Quellen machen einen eher verstreuten Eindruck, wie zufällig
oder beiläufig eingesammelt, wenngleich sie immer genau den Punkt der Argumentation
treffen. Goffman selbst formuliert in einem anderen Buch entsprechend: „Um die Details
und Fragmente des gegenwärtigen sozialen Lebens in einer umfassenden Analyse miteinander zu verknüpfen, muss man eine große Anzahl von Behauptungen aufstellen, die sich
nicht auf solides quantitatives Beweismaterial stützen können“ (Goffman 1982, S. 15).1
Wenn man aber seine Bücher liest, stellt man fest, dass es einer solchen systematischen
Beweisführung gar nicht bedarf, um die Evidenz der präsentierten Überlegungen zu vermitteln.
„Stigma“ ist 1963 erschienen und 1967 von der Soziologin Frigga Haug, die mit
ihrer kritischen Arbeit zur Rollentheorie bekannt geworden ist, in ein manchmal etwas
sperriges Deutsch übersetzt worden. Diese Übersetzung nimmt dem Original zweifellos
etwas von der literarischen Eleganz, mit der Goffman sich auszudrücken pflegte. Als ich
das Buch in den frühen 70er Jahren zu Anfang meines Studiums zum ersten Mal las,
störte ich mich jedoch vor allem daran, dass Begriffe wie „Krüppel“, „Neger“, „geistig
Defekte“, „Berufsverbrecher“ usw. ohne jede Relativierung oder Anführungszeichen benutzt wurden, was meine Aufmerksamkeit für das eigentliche Argument des Buches
leider schmälerte: dass wir nämlich die Stigmatisierung als sozialen Mechanismus benutzen, um uns darüber im Klaren zu werden, wie wir denn selbst in sozialen Verhältnissen
sein und erscheinen wollen. Stigma ist also keine Eigenschaft, auch wenn es auf den
ersten Blick wegen der damit verbundenen individuellen Diskreditierung den Anschein
hat, sondern ein relationaler Begriff (S. 11), der genauso gut Auskunft darüber gibt, wie
das Normale beschaffen ist.
Das Normale wie das Stigmatisierte ist einerseits einem Wandel unterworfen (insofern reden wir heute nicht mehr von Negern und Krüppeln), andererseits vermag alle
political correctness nicht, den grundlegenden Mechanismus der Stigmatisierung außer
Kraft zu setzen, weil in der Tat für die Konstruktion dessen, was sein darf und Geltung
haben soll, der entsprechende Gegenbegriff konstitutiv ist. So kann heute normal sein,
was früher stigmatisiert wurde, dennoch hat nichts weiter stattgefunden als eine Verschiebung der Trennlinien zwischen Stigma und Normalität (hierzulande sind in den letzten Jahren die Hartz IV-Empfänger in die Stigmatisierten-Spitzengruppe aufgerückt). Um
den Stigmatisierungsmechanismus studieren zu können, müssen wir uns bloß in eine beliebige Schule begeben und die Schülerkommunikation beobachten. Wir sind
mittlerweile daran gewöhnt, diese Tatsache als moralisches Problem aufzufassen und zu
1
Goffman, E. (1982): Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur
öffentlichen Ordnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
100
KONTEXT 38,1 (2007), ISSN 0720–1079
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Klassiker wieder gelesen
behandeln. Im Wissen um die zerstörerischen Folgen der offenen oder subtilen Ausgrenzung von Menschen aus der Gemeinschaft haben wir dafür gute Gründe. Vor diesem
Hintergrund mag die ungerührte Analyse von Goffman eher verstörend wirken. Auch
wenn Goffman die pathologischen Konsequenzen der (Selbst-)Herabsetzung nicht leugnet, liegt sein Fokus nämlich nicht auf der Brandmarkung von Stigmatisierung, sondern
auf der Analyse des „Stigma-Managements“ in der alltäglichen Interaktion, „ein Prozess,
der auftritt, wo immer es Identitätsnormen gibt“ (S. 160f.), und an dem immer beide
Seiten beteiligt sind.
Indem die „Rolle ,normal’ und die Rolle ,stigmatisiert’ Teile des gleichen Komplexes sind, Zuschnitte des gleichen Standardstoffs“ (S. 161), werden die Individuen zunehmend fähig, „in dem Drama normal-abweichend beide Rollen zu spielen“ (S. 164). Es
dürfte also für jeden Menschen ein Leichtes sein, sich einen Kontext vorzustellen, in der
er sich selbst in der Rolle des Stigmatisierten wiederfindet. Die Identitätsnormen, die im
Übrigen die „Kondition“, d. h. die körperliche Verfassung und den sozialen Status des
Individuums, nicht aber seinen „Willen“ bzw. sein Innenleben betreffen, erzeugen auf
gesellschaftlicher Ebene sowohl Abweichung wie Konformität. All dies ist in der Regel
ein impliziter Vorgang.
„Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den
kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als
gewöhnlich und natürlich empfindet. Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird. Wir stützen uns auf diese Antizipationen, die wir haben, indem wir sie in normative Erwartungen umwandeln, in rechtmäßig gestellte Anforderungen. Es ist typisch, dass wir uns nicht bewusst werden, diese
Forderungen gestellt zu haben, auch nicht bewusst werden, was sie sind, bis eine akute
Frage auftaucht, ob sie erfüllt werden oder nicht“ (S. 9f.). Der Bezug auf dieselben Identitätsnormen bei Stigmatisierten und Normalen erfordert daher ein sorgfältiges Situationsmanagement auf beiden Seiten.
Das betrifft sowohl den Umgang mit dem (für alle sichtbaren) Diskreditierten als
auch mit dem Diskreditierbaren (Goffman nennt als Beispiele Frigidität, Impotenz und
Sterilität), also einem Makel, der noch nicht offenkundig ist und daher eine entsprechend
aufmerksame und vorsichtige Informationskontrolle auf Seiten derjenigen erfordert, die
etwas zu verbergen haben. Stigmatisierte entwickeln ein breites Repertoire, um ihr Stigma zu verbergen, zu verkleinern oder gar parodistisch zu übertreiben, etwa um die Befangenheit in Komik aufzulösen. Täuschungsmanöver dienen dem Zweck, Zugehörigkeit
zum Bereich des Normalen vorzugeben, häufiger ist aber das, was Goffman kuvrieren
nennt: „Es ist eine Tatsache, dass Personen, die bereitwillig den Besitz eines Stigmas
zugeben, sich nichtsdestoweniger sehr bemühen können zu verhindern, dass das Stigma
sich zu mächtig aufdrängt. Es ist das Ziel des Individuums, Spannung zu vermindern, das
heißt, es sich und den anderen zu erleichtern, das Stigma verstohlener Aufmerksamkeit
zu entziehen und spontane Einbeziehung in den offiziellen Inhalt der Interaktion zu fördern. ... Dieser Prozess wird als Kuvrieren bezeichnet werden. Viele von denen, die selten
zu täuschen versuchen, versuchen im Regelfall zu kuvrieren“ (S. 129). Diese Spannungsregulation hat ihr Pendant auf Seiten der Normalen, die in der Regel dem Stigma „sorgsame Nichtbeachtung“ entgegenbringen, eine Haltung, deren Verletzung (z. B. durch Kinder) mit Peinlichkeit verbunden ist. Entscheidend dabei ist, dass die Begegnung von
KONTEXT 38,1 (2007), ISSN 0720–1079
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
101
Klassiker wieder gelesen
Norm und Stigma im Normalfall nicht unbefangen abläuft, da sie ständiger Beobachtung
ausgesetzt ist, die potentiell in einen permanenten Regress mündet: „Jede mögliche
Quelle von Peinlichkeit für den Stigmatisierten in unserer Gegenwart wird zu etwas,
wovon wir instinktiv spüren, dass er sich dessen bewusst ist, auch bewusst, dass wir uns
dessen bewusst sind, ja sogar bewusst unserer Situation von Bewusstheit hinsichtlich
seiner Bewusstheit; dann ist die Bühne bereitet für den unendlichen Regress wechselseitiger Rücksichtnahme, von dem uns die Meadsche Sozialpsychologie zwar das Wie des
Beginnens, aber nicht das Wie des Aufhörens verrät“ (S. 29).
Aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene findet Stigma-Management statt. Goffman beschreibt ausführlich die Gruppenbildungen von Stigmatisierten und ihre politische Vertretung durch Repräsentanten, Agenturen und Verbänden, die in den vergangenen Jahrzehnten z. T. starken Einfluss auf die Verschiebung von Identitätsnormen und
Entstigmatisierung von Betroffenen gehabt haben (man denke nur an die Schwulenbewegung). Freilich ergeben sich daraus auch wieder typische Entfremdungsphänomene zwischen den Vertretern und den von ihnen Repräsentierten. „Erstens sind gruppenangehörige Führer, indem sie einen Beruf aus ihrem Stigma machen, verpflichtet, mit Repräsentanten anderer Kategorien umzugehen, wobei sie die Erfahrung machen, dass sie aus dem
geschlossenen Zirkel ihrer eigenen Art ausbrechen. Statt sich auf ihre Krücken zu stützen, bringen sie es dahin, Golf mit ihnen zu spielen, und hören so vermittels sozialer
Partizipation auf, repräsentativ zu sein für die Menschen, die sie repräsentieren“ (S. 39).
Identitätsbildung entwickelt sich anhand gesellschaftlich vorfindbarer Bilder, Narrative und Interpretationsfolien, sie verläuft also sozial typisch und nicht im Wesentlichen individuell (das Ergebnis lässt sich mit Pierre Bourdieu auch als verkörperlichter
Habitus verstehen). Die gesellschaftlichen Narrative folgen quasi der Stigmatisierung
und gehen ihr voraus, sie bieten einen Fundus von Erfolgs-, Greuel- und Moralgeschichten, innerhalb dessen sich Stigma-Identität entwickeln kann: „So kann man sagen, dass
stigmatisierte Amerikaner dazu neigen, in einer literarisch definierten Welt zu leben, wie
ungebildet sie auch immer sein mögen. Wenn sie keine Bücher über die Situation von
Personen ihrer Art lesen, lesen sie wenigstens Zeitschriften und sehen Filme; und wo sie
dies nicht tun, lauschen sie den Reden örtlicher Schicksalsgenossen. Eine intellektuell
aufgearbeitete Version ihres Standpunkts steht so für die meisten stigmatisierten Personen zur Verfügung“ (S. 37).
Auch wenn Goffman nicht direkt auf Psychotherapie zu sprechen kommt, ist ihr
Platz dennoch benannt. Psychotherapeuten können den so genannten „Weisen“ zugerechnet werden, „Personen, die normal sind, aber deren besondere Situation sie intim
vertraut und mitfühlend mit dem geheimen Leben der Stigmatisierten gemacht hat“ (S.
40): genannt werden u. a. professionelles Heilpersonal, Polizei (!), aber auch Verwandte
und persönlich Nahestehende.
Psychotherapie hat aus diesem Blickwinkel – so könnte man formulieren – nicht
nur zur Voraussetzung, dass die Klienten sich selbst als irgendwie stigmatisiert erleben,
sondern stellt selbst eine soziale Einrichtung dar, die ihre eigenen Anforderungen an das
Identitätsmanagement der Beteiligten stellt, gerade auch, was die Unterscheidung von
normal und stigmatisiert betrifft. Von Therapeuten wird daher auch in der Regel erwartet,
sich (zumindest in Bezug auf das präsentierte Problem) als mehr oder weniger normal zu
präsentieren. Vor diesem Hintergrund wäre interessant zu untersuchen, wie im Kontext
102
KONTEXT 38,1 (2007), ISSN 0720–1079
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Klassiker wieder gelesen
von Institution (Praxis, Klinik etc.), Diagnostik, Auftragsklärung und konkreter Prozessgestaltung Stigma-Management innerhalb von Psychotherapieverläufen gehandhabt
wird und an welchen Stellen diesbezügliche Schwierigkeiten auftauchen. Insbesondere
in komplexeren Mehrpersonen-Settings (Paar- und Familientherapie, Hilfesysteme, klinische Arrangements) dürfte die Bedeutung solcher Fragen auf der Hand liegen.
Die Lektüre von „Stigma“ hilft, den sozialen Konstruktionsprozess von Normalität
und Stigma besser zu verstehen, ohne unbedingt Hoffnungen zu stärken, dass ein tieferes
Verständnis dieser Konstruktivität zur Aufhebung dieser Unterscheidung führen könnte.
Wir können sicherlich etwas gegen konkrete Stigmatisierungen (und die damit verbundenen Diskriminierungen und Benachteiligungen) unternehmen, Goffman zeigt aber unsentimental und eindrucksvoll, dass die für die Identitätsbildung konstitutive Unterscheidung von Norm und Stigma damit nicht verschwinden wird. Und damit auch nicht die
Daseinsberechtigung von Psychotherapie als Stigma-Management: „Zum Beispiel gibt
es in einem gewichtigen Sinn nur ein vollständig ungeniertes und akzeptables männliches Wesen in Amerika: ein junger, heterosexueller protestantischer Vater mit Collegebildung, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen im Sport. Jeder Mann, der in irgendeinem dieser Punkte versagt, neigt dazu, sich –
wenigstens augenblicksweise – für unwert, unvollkommen und inferior zu halten“ (S.
158). Diesem Satz haben die 44 Jahre, die seit der Niederschrift vergangen sind, aller
political corretness zum Trotz nicht viel anhaben können, auch wenn man heute selbstverständlich das weibliche Pendant einschließen würde. Aus den dargelegten Gründen
erscheint mir „Stigma“ immer noch eine Pflichtlektüre zu sein: auch für Psychotherapeuten.
Korrespondenzadresse: Dipl.-Soz.Wiss. Tom Levold, Institut für psychoanalytisch-systemische Praxis, Eiler Str. 18, 51107 Köln; E-Mail: [email protected]
Eigentlich aktueller denn je ...
Eigentlich handelt dieses Buch über ein Thema, dass alle, die im psychosozialen Bereich
arbeiten, betrifft: Was unterscheidet uns, die „Normalen“, von denen, die anders sind, als
wir es erwarten, die sich in irgendwie erkennbarer oder erlebbarer Weise als „abnormal“
zeigen, die der im jeweiligen Kontext gesetzten Norm nicht entsprechen und insofern als
unzulänglich oder nicht zugehörig definiert werden? Die Merkmale, die auf diesen Unterschied mehr oder weniger offensichtlich verweisen, fasste der amerikanische Soziologe Erving Goffman in seinem 1963 in den USA erstmals erschienenen Buch unter dem
Begriff „Stigma“ zusammen. Er beschreibt drei verschiedene Formen von Stigmata, die
er folgendermaßen kennzeichnet: „Erstens gibt es Abscheulichkeiten des Körpers – die
verschiedenen physischen Deformationen. Als nächstes gibt es individuelle Charakterfehler, wahrgenommen als Willensschwäche, beherrschende oder unnatürliche LeidenKONTEXT 38,1 (2007), ISSN 0720–1079
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
103
Klassiker wieder gelesen
schaften, tückische und starre Meinungen und Unehrenhaftigkeit, welche alle hergeleitet
werden aus einem bekannten Katalog z. B. von Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Alkoholismus, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Selbstmordversuchen und radikalem politischen Verhalten. Schließlich gibt es die phylogenetischen Stigmata von Rasse, Nation
und Religion. Es sind dies solche Stigmata, die gewöhnlich von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben werden und alle Mitglieder einer Familie in gleicher Weise kontaminieren“ (S. 12f.). In all diesen verschiedenen Stigmabeispielen findet er die gleichen
soziologischen Merkmale: „Ein Individuum, das leicht im gewöhnlichen sozialen Verkehr hätte aufgenommen werden können, besitzt ein Merkmal, das sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und bewirken kann, dass wir uns bei der Begegnung mit diesem Individuum von ihm abwenden, wodurch der Anspruch, den seine anderen Eigenschaften an
uns stellen, gebrochen wird. Es hat ein Stigma, das heißt, es ist in unerwünschter Weise
anders, als wir es antizipiert hatten.“
Und Goffman schreibt weiter über unseren Umgang mit den stigmatisierten Personen: „Die Haltungen, die wir Normalen einer Person mit einem Stigma gegenüber einnehmen, und die Art, in der wir ihr gegenüber agieren, sind wohlbekannt, da es ja diese
Reaktionen sind, die durch wohlwollende soziale Verhaltensweisen gemildert und verbessert werden sollen. Von der Definition her glauben wir natürlich, dass eine Person mit
einem Stigma nicht ganz menschlich ist. Unter dieser Voraussetzung üben wir eine Vielzahl von Diskriminationen aus, durch die wir ihre Lebenschancen wirksam, wenn auch
oft gedankenlos reduzieren. Wir konstruieren eine Stigma-Theorie, eine Ideologie, die
ihre Inferiorität erklären und die Gefährdung durch den Stigmatisierten nachweisen soll.
[…] Außerdem können wir die defensive Reaktion eines derartigen Stigmatisierten auf
seine Situation als einen direkten Ausdruck seines Defekts auffassen und dann beide,
Defekt und Reaktion, als gerechte Vergeltung für etwas sehen, das er, seine Eltern oder
sein Stamm getan haben. Auf diese Weise verschaffen wir uns eine Rechtfertigung für die
Art, wie wir ihn behandeln“ (S. 13ff.).
Ganz systematisch und sehr detailliert setzt sich Goffman im Folgenden mit den
verschiedenen Formen der stets relational zu beschreibenden Stigmata – seien sie offensichtlich oder geheim – und mit der Art, wie die Möglichkeiten der Kommunikation für
die Träger dieser Stigmata in je spezifischer Weise geformt und eingeschränkt werden,
auseinander. Die Betroffenen entwickeln differenzierte Strategien, um das zu erhalten,
was Menschen essentiell brauchen: soziale Teilhabe und echte Anerkennung und Wertschätzung, gleichzeitig Schutz vor diskreditierend erlebter Neugier und ausgrenzendem
Mitleid.
Gerade weil Stigmatisierung ein relationaler Prozess ist, handelt das Buch implizit
sehr viel von den sogenannten Normalen. Sie erwarten von dem offensichtlich Stigmatisierten, dass er sie schont, dass er Leichtigkeit im Umgang mit seinem Stigma zeigt, dass
er Würde und Selbstachtung ausstrahlt und dem Normalen die verunsichernde Ambivalenz zwischen Mitleid und Befremdung und vor allem den Verweis auf die Brüchigkeit
der eigenen Zugehörigkeit zu den Normalen erspart. Denn Stigma-Management wird von
jedem verlangt, in manchen Zeiten des Lebens mehr, in anderen weniger. Es ist eine
Notwendigkeit, wo immer es Identitätsnormen gibt: „Ob eine größere Andersartigkeit in
Frage steht, von der Art, wie sie traditionell als stigmatisch definiert wird, oder nur eine
unbedeutende Andersartigkeit, der sich zu schämen die beschämte Person sich schämt,
104
KONTEXT 38,1 (2007), ISSN 0720–1079
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Klassiker wieder gelesen
immer geht es um die gleichen Bestandteile. […] (Man kann deshalb) erstens voraussetzen, dass Personen mit verschiedenen Stigmata in einer weitgehend ähnlichen Situation
sind und in weitgehend ähnlicher Weise reagieren. […] Und zweitens kann man voraussetzen, dass der Stigmatisierte und der Normale die gleiche mentale Ausrüstung haben
und dass dies in unserer Gesellschaft notwendig die Standardausrüstung ist; derjenige,
der eine dieser Rollen spielen kann, hat also genau die erforderliche Ausstattung, die
andere zu spielen, und im Hinblick auf das eine oder andere Stigma wird er wohl auch in
der Tat einige Erfahrung darin entwickelt haben“ (S. 161).
In einer Welt, in der es als die vielleicht wichtigste Lernaufgabe anzusehen ist,
Vielfalt nicht nur zu ertragen, sondern zu begrüßen, ist dieses Buch eigentlich – und mit
diesem Wort habe ich die Rezension schon begonnen – aktueller denn je. „Eigentlich“
liest es sich flüssig; viele Beispiele machen das Dargestellte anschaulich, und ganz
selbstverständlich knüpft das Gesagte immer wieder an den Erfahrungen des Lesers an.
Und doch fiel mir die Lektüre schwer, und sie ließ mich bei mehreren Anläufen – schließlich ist der Verdacht naheliegend, dass solch ein Gefühl mehr über die aktuelle Verfasstheit des Lesers aussagt als über das Buch – mit einem Gefühl des Unbefriedigtseins zurück – einem Gefühl, dass ich von der Lektüre anderer Bücher aus den Sechzigerjahren
gut erinnere. Ich glaube, es ist dieses Verhaftetbleiben in – wie gesagt: bewundernswert
gründlichen und subtilen – Beschreibungen von Pathologie und mein subjektives Erleben von Problemtrance, das beim Lesen des Buches in mir immer wieder Gefühle latenter
Depressivität auslöst. Aber möglicherweise ist das mehr das Stigma des Rezensenten als
das des Buches.
Korrespondenzadresse: Dr. Wilhelm Rotthaus, Commerstr. 1, 50126 Bergheim bei
Köln; E-Mail: [email protected]
KONTEXT 38,1 (2007), ISSN 0720–1079
© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
105