B. Einzelne Grundrechte 4. Recht auf Leben − EGMR, Makaratzis v. Greece, Nr. 50385/99; − EGMR, Bubbins v. the United Kingdom, Nr. 50196/99; − EGMR, Scavuzzo-Hager et autres c. Suisse, Nr. 41773/98; − EGMR, Giuliani and Gaggio v. Italy, Nr. 23458/02; − Westdeutscher Rundfunk, Dokumentation „Gipfelstürmer – Die blutigen Tage von Genua“ <https://www.youtube.com/watch?v=52kOAulA0LY> (Dauer: ca. 43 Min., 27.01.2016); − European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT), CPT Standards, CPT/Inf/E (2002) 1 – Rev. 2015, S. 43 ff. EGMR Makaratzis gg. Griechenland Urteil vom 20.12.2004 Große Kammer Bsw. Nr. 50.385/99 Exzessiver Waffengebrauch durch Polizisten Art. 2 EMRK Art. 3 EMRK Art. 13 EMRK Sachverhalt: Am Abend des 13.9.1995 fuhr der Bf. mit seinem PKW in der Nähe der amerikanischen Botschaft in Athen trotz roter Ampel über eine Kreuzung. Da er auf die Aufforderung einer Polizeistreife, anzuhalten, nicht reagierte, nahm diese die Verfolgung auf. Es kam zu einer Verfolgungsjagd durch das Stadtgebiet, an der sich zahlreiche Fahrzeuge der Polizei beteiligten. Nachdem der Bf. mit einigen unbeteiligten Fahrzeugen kollidiert war, wobei zwei Personen verletzt wurden, und er fünf Straßensperren durchbrochen hatte, begannen die Polizeibeamten, auf das Fahrzeug zu schießen. Schließlich hielt der Bf. bei einer Tankstelle an, stieg jedoch nicht aus seinem Wagen. 6 Inzwischen befanden sich über 30 Beamte am Ort des Geschehens. Die Polizisten gaben weitere Schüsse ab, feuerten aber wegen der Gefahr einer Explosion der Treibstofftanks nur in die Luft. Schließlich wurde der Bf. von einem der Polizisten aus dem Auto gezogen und verhaftet. Da er Schussverletzungen am rechten Arm, dem rechten Fuß, dem Gesäß und dem Brustkorb aufwies, wurde er sofort in ein Krankenhaus gebracht. Dort wurde eine Kugel aus seinem Fuß entfernt, eine weitere steckt bis heute in seinem Gesäß. Der psychische Gesundheitszustand des Bf., der schon vor diesem Vorfall angegriffen war, verschlechterte sich seither signifikant. Newsletter Menschenrechte 2005/1 EGMR Die Polizei konnte bei der folgenden Untersuchung der Amtshandlung 29 an dem Vorfall beteiligte Beamte identifizieren. Es waren außerdem noch weitere Polizisten vor Ort, die aus eigenem Antrieb eingeschritten waren und den Tatort wieder verlassen hatten, ohne sich zu identifizieren oder ihre Waffen abzugeben. Aufgrund der Untersuchung von 33 Schusswaffen, drei Kugeln und des Fahrzeugs des Bf. wurde festgestellt, dass dieses von 16 Projektilen getroffen worden war. Die Kugeln, durch die der Bf. verletzt worden war, konnten jedoch keiner der untersuchten Waffen zugeordnet werden. Gegen jene sieben Beamte, aus deren Waffen Schüsse abgegeben worden waren, wurde Anklage wegen schwerer Körperverletzung und unbefugtem Waffengebrauch erhoben. Das Strafgericht Athen sprach alle sieben Angeklagten frei. Bezüglich des ersten Anklagepunktes stellte es fest, es sei nicht bewiesen, dass die Verletzungen des Bf. durch die Angeklagten verursacht worden seien. Zwar seien im Inneren des Fahrzeugs Kugeln gefunden worden, die aus den Waffen von zwei der Angeklagten abgefeuert worden wären, es stehe jedoch nicht fest, dass diese eine Verletzung verursacht hätten. Es wäre anzunehmen, dass die Verletzungen des Bf. durch nicht identifizierte Polizisten verursacht wurden, die aus eigenem Antrieb eingeschritten waren und sich nach der Verhaftung des Bf. vom Ort der Amtshandlung entfernt hatten, ohne sich bei der Einsatzleitung zu melden. Zur Anklage wegen unbefugten Waffengebrauchs stellte das Gericht fest, die Polizisten hätten ihre Waffen nur eingesetzt, um ein Fahrzeug zum Stehen zu bringen, dessen Fahrer sie mit gutem Grund für einen gefährlichen Straftäter gehalten hatten. Gegen dieses Urteil stand dem Bf. kein Rechtsmittel zur Verfügung. Der Bf. wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 40 Tagen verurteilt. Rechtsausführungen: Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz). Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK: Der Bf. bringt vor, die ihn verfolgenden Polizisten hätten durch ihren exzessiven Waffengebrauch sein Leben in Gefahr gebracht. Des Weiteren macht er geltend, die Behör- den hätten es verabsäumt, eine angemessene und ausreichende Untersuchung des Vorfalls durchzuführen. 1.) Zur Feststellung des Sachverhalts: Wie der GH feststellt, liegen unterschiedliche Darstellungen des Sachverhalts vor. Da jedoch die Tatsachen vom Strafgericht Athen festgestellt wurden und dem GH nichts vorliegt, was diese Feststellungen in Frage stellen würde, wird er den Fall auf dieser Basis prüfen. 2.) Zur Anwendbarkeit von Art. 2 EMRK: Die gegen den Bf. eingesetzte Gewalt war im Ergebnis nicht tödlich. Dies schließt jedoch nicht von vornherein die Prüfung der Beschwerde unter Art. 2 EMRK aus. Wie die bisherige Rspr. zeigt, kann eine physische Misshandlung durch staatliche Organe, die keinen Todesfall zur Folge hat, nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 2 EMRK begründen. In beinahe allen Fällen einer Misshandlung durch Soldaten oder Polizisten wird eine Beschwerde eher unter Art. 3 EMRK zu prüfen sein. Im vorliegenden Fall hat der GH zu prüfen, ob die gegen den Bf. eingesetzte Gewalt potentiell tödlich war und welche Auswirkungen das Verhalten der Beamten nicht nur auf seine körperliche Unversehrtheit hatte, sondern auch auf jene Interessen, auf deren Schutz das Recht auf Leben abzielt. Es ist unbestritten, dass der Bf. von Polizisten in großer Zahl verfolgt wurde, die wiederholt Gebrauch von ihren Waffen machten. Wie aus den vorliegenden Beweismitteln klar hervorgeht, wurden die Schusswaffen eingesetzt, um das Fahrzeug des Bf. fahruntauglich zu machen und seine Festnahme zu bewirken. Der Waffengebrauch diente damit einem jener Zwecke, die nach Art. 2 Abs. 2 EMRK den Einsatz von tödlicher oder lebensgefährlicher Gewalt rechtfertigen. Was eine Misshandlung iSv. Art. 3 EMRK betrifft, kann aus dem Verhalten der Polizisten keine Absicht abgeleitet werden, dem Bf. Schmerzen oder Leid zuzufügen oder ihn zu erniedrigen. Der GH anerkennt das Vorbringen der Regierung, die Polizisten hätten nicht die Absicht gehabt, den Bf. zu töten. Dennoch war es ein Zufall, dass er nicht getötet wurde. Sein Fahrzeug wurde von 16 Kugeln durchlöchert, die zum Teil eine horizontale oder aufwärts weisende Flugbahn in der Höhe des Fahrers aufwiesen. Der Bf. erlitt mehrere Schussverletzungen, deren Schwere außer Streit steht. Angesichts dieser Umstände und insbesondere der Art und Schwere der Gewaltanwen- Newsletter Menschenrechte 2005/1 7 EGMR dung gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass – unabhängig davon, ob ihn die Polizei töten wollte oder nicht – der Bf. Opfer eines Verhaltens wurde, das schon seiner Art nach sein Leben gefährdete, auch wenn er es schließlich überlebte. Art. 2 EMRK ist daher anwendbar. 3.) Zur behaupteten Verletzung der positiven Verpflichtung zum gesetzlichen Schutz des Rechts auf Leben: Wie schon der Text des Art. 2 EMRK zeigt, kann der Einsatz tödlicher Gewalt durch Polizisten unter Umständen gerechtfertigt sein. Art. 2 EMRK gewährt jedoch keine unbeschränkte Vollmacht. Unregulierte und willkürliche Handlungen staatlicher Organe sind mit einem wirksamen Schutz der Menschenrechte nicht vereinbar. Polizeioperationen müssen daher nicht nur im innerstaatlichen Recht vorgesehen sein, auch ihre Durchführung muss im Rahmen eines Systems wirksamer Sicherungen gegen Willkür und Machtmissbrauch ausreichend geregelt sein. Vor diesem Hintergrund muss der GH im vorliegenden Fall nicht nur prüfen, ob der Einsatz lebensgefährlicher Gewalt legitim war, sondern auch, ob der Einsatz in einer Art und Weise geregelt und organisiert war, die jede Gefährdung des Lebens des Bf. so weit als möglich minimierte. Der polizeiliche Waffengebrauch wurde durch das Gesetz Nr. 93/1943 geregelt, das aus der Zeit der deutschen Okkupation Griechenlands während des Zweiten Weltkriegs stammt. Dieses Gesetz sah ein weites Spektrum von Situationen vor, in denen ein Polizeibeamter von einer Schusswaffe Gebrauch machen konnte, ohne für die Folgen haftbar zu sein. Ein 1991 erlassenes Dekret des Präsidenten erlaubte den Waffengebrauch in den im Gesetz Nr. 93/1943 genannten Fällen nur noch, wenn er „unbedingt notwendig ist und wenn alle gelinderen Mittel ausgeschöpft wurden“. Das griechische Recht kannte weder weitere Bestimmungen über den Einsatz von Waffengewalt noch enthielt es Richtlinien über die Planung und Kontrolle von Polizeieinsätzen.1 Diese gesetzlichen Rahmenbedingungen scheinen nicht ausreichend, um das Recht auf Leben in jenem Grad zu schützen, der in heutigen demokratischen Gesellschaften Europas erforderlich ist. Im vorliegenden Fall war ein Einschreiten der Polizeibeamten durch das Verhalten des Bf., der durch seine Fahrt durch das Stadtzentrum Athens das Leben von unbeteiligten Personen und Polizisten gefährdete, geboten. Zu bedenken ist auch das damals herrschende 8 Klima erhöhter Alarmbereitschaft, das durch zahlreiche Anschläge auf ausländische Vertretungen in Griechenland bedingt war. Dies trug ebenso wie die Tatsache, dass sich der Vorfall nachts und in der Nähe der amerikanischen Botschaft ereignete, dazu bei, dass die Beamten den Bf. als größere Bedrohung ansahen. Die Polizisten konnten daher vernünftigerweise die Notwendigkeit eines Waffengebrauchs annehmen, um die vom Verhalten des Bf. ausgehende Gefahr zu neutralisieren. Auch wenn sich später herausstellte, dass der Bf. unbewaffnet und kein Terrorist war, anerkennt der GH, dass der Einsatz von Gewalt gegen ihn auf wohlbegründeten Annahmen beruhte. Wenn auch die Anwendung lebensgefährlicher Gewalt als solche als mit Art. 2 EMRK vereinbar angesehen werden kann, ist doch der chaotische Ablauf des Einsatzes zu berücksichtigen. Dieser wirft ernsthafte Fragen bezüglich der Organisation der Amtshandlung auf. Die Polizeizentrale gab zwar über Funk Anweisungen an einige Polizisten, die ausdrücklich angefordert worden waren, doch einige Beamte kamen ihren Kollegen aus eigenem Antrieb zu Hilfe, ohne irgenwelche Anweisungen erhalten zu haben. Das Fehlen klarer Kommandostrukturen ist ein Faktor, der zu einer Erhöhung des Risikos eines unberechenbaren Waffengebrauchs beitragen musste. Der GH übersieht nicht, dass es sich um eine Operation handelte, die nicht geplant werden konnte. Ihr chaotischer Ablauf ist dennoch primär auf das Fehlen angemessener Strukturen zurückzuführen. Das Rechtssystem bot den Beamten keine klaren Richtlinien für den Einsatz von Gewalt. Es war daher unvermeidbar, dass die Polizisten, die den Bf. verfolgten und schließlich festnahmen, einen größeren Handlungsspielraum hatten und unüberlegte Handlungen setzen konnten, die sie wahrscheinlich nicht an den Tag gelegt hätten, wenn sie in den Genuss eines ausreichenden Trainings und entsprechender Anweisungen gekommen wären. Das Fehlen klarer Richtlinien kann auch erklären, warum einige Polizisten an dem Einsatz teilnahmen, ohne sich bei einem zentralen Kommando zu melden. Griechenland hat somit nicht alles vernünftigerweise zu Erwartende unternommen, um seiner Verpflichtung nach Art. 2 Abs. 1 EMRK, das Recht auf Leben gesetzlich zu schützen, nachzukommen. Der Bf. ist daher Opfer einer 1) Der Gebrauch von Schusswaffen durch Polizeibeamte wurde inzwischen durch das am 24.7.2003 in Kraft getretene Gesetz Nr. 3169/2003 mit dem erklärten Ziel, den internationalen Menschenrechtsstandards zu entsprechen, neu geregelt. Newsletter Menschenrechte 2005/1 EGMR Verletzung von Art. 2 EMRK (12:5 Stimmen; Sondervotum von Richter Wildhaber, gefolgt von Richter Kovler und Richterin Mularoni; Sondervotum von Richterin Tsatsa-Nikolovska, gefolgt von Richterin Strážnická). Eine Prüfung der lebensgefährlichen Gewaltanwendung durch die Polizei unter Art. 2 Abs. 2 EMRK ist angesichts dieser Feststellung nicht notwendig. 4.) Zum behaupteten Fehlen einer ausreichenden Untersuchung: Die durchgeführte Untersuchung der Amtshandlung weist schwerwiegende Versäumnisse auf. Der GH misst insbesondere dem Versäumnis großes Gewicht bei, alle beteiligten Polizisten zu identifizieren. Da einige von ihnen den Ort des Geschehens verließen, ohne sich zu melden oder ihre Waffen abzugeben, wurden nicht alle eingesetzten Waffen untersucht. Die Behörden unternahmen offensichtlich keine Bemühungen festzustellen, wer diese Polizisten waren. Bemerkenswert ist auch, dass nur drei Projektile sichergestellt wurden. Diese Versäumnisse hinderten das Gericht an einer vollständigen Rekonstruktion des Vorfalls. Da es die Behörden somit verabsäumten, eine effektive Untersuchung des Vorfalls durchzuführen, liegt auch unter diesem Gesichtspunkt eine Verletzung von Art. 2 EMRK vor (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK: Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK (15:2 Stimmen; Sondervotum von Richterin TsatsaNikolovska, gefolgt von Richterin Strážnická). Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK: Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin TsatsaNikolovska). Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden (15:2 Stimmen; Sondervotum von Richter Wildhaber, gefolgt von Richterin Mularoni). Vom GH zitierte Judikatur: McCann/GB v. 27.9.1995 NL 1995, 219; ÖJZ 1996, 233. Kaya/TR v. 19.2.1998 NL 1998, 64. Rehbock/SLO v. 28.11.2000 NL 2000, 230. Ilaşcu u.a./MD & RUS v. 8.7.2004 NL 2004, 174. Czech Newsletter Menschenrechte 2005/1 9 17.03.2005 Gericht AUSL EGMR Entscheidungsdatum 17.03.2005 Geschäftszahl Bsw50196/99 Kopf Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Bubbins gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 17.3.2005, Bsw. 50196/99. Spruch Art. 2 EMRK, Art. 13 EMRK - Tötung eines mutmaßlichen Einbrechers durch die Polizei. Keine Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich seines materiellen Gehalts (einstimmig). Keine Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich der staatlichen Ermittlungspflicht (einstimmig). Verletzung von Art. 13 EMRK (6:1 Stimmen). Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000, für immateriellen Schaden, € 12.000, für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen). Text Begründung: Sachverhalt: Nachfolgende Beschwerde wurde von der Schwester von Michael Fitzgerald, der im Zuge eines Polizeieinsatzes ums Leben kam, stellvertretend für ihn eingebracht. Am frühen Abend des 26.2.1998 fuhr Melanie Joy, die Freundin von Michael Fitzgerald, zu dessen Haus. Dort angekommen sah sie, wie ein Mann gerade durch das Küchenfenster kletterte. Besorgt um die Sicherheit ihres Freundes, von dem sie nicht wusste, ob er im Haus anwesend war oder nicht, verständigte sie die Polizei, die kurze Zeit später eintraf. Bei ihrem Versuch, den Eindringling ausfindig zu machen, entdeckten die Polizeibeamten einen Mann, der offenbar gerade Anstalten machte, eine Faustfeuerwaffe auf sie zu richten. Sie forderten daraufhin von der Einsatzzentrale Hilfe an und informierten sie darüber, dass Michael Fitzgerald laut Aussage seiner Freundin eine originalgetreue Nachbildung einer Faustfeuerwaffe und überdies ein Alkoholproblem habe. Kurze Zeit später trafen vier Angehörige des mobilen Einsatzkommandos die Beamten A., B., C. und D. am Tatort ein. In der Folge erschien der Unbekannte in regelmäßigen Abständen am Küchenfenster und richtete seine Waffe auf die Beamten. Alle Versuche, ihn zum Aufgeben zu bewegen, blieben jedoch ergebnislos. Währenddessen versuchte die Polizei vergeblich, Michael Fitzgerald ausfindig zu machen. In der Folge gelang es dem Einsatzleiter, telefonischen Kontakt mit dem Eindringling der sich als Mick ausgab aufzunehmen. Während des kurzen und ergebnislos verlaufenden Telefonats gewann er zunehmend den Eindruck, dass Mick betrunken sei. Zuvor hatten bereits ein Bruder und ein Freund mit dem Unbekannten gesprochen bei dem es sich in Wahrheit um Michael Fitzgerald handelte. Beide unterließen es jedoch, die Polizei darüber zu informieren. Gegen 20.15 Uhr traf eine Nachricht über Polizeifunk ein, wonach Michael Fitzgerald gegen 18.40 Uhr in schwer alkoholisiertem Zustand das Blarney Stone Pub verlassen hätte. Diese Information verstärkte die www.ris.bka.gv.at Seite 1 von 4 AUSL EGMR 17.03.2005 Ansicht der Einsatzleitung, bei dem Unbekannten könne es sich nicht um Michael Fitzgerald handeln, da der vermeintliche Einbruch bereits um 18.28 Uhr gemeldet worden war. Kurze Zeit später erschien der Unbekannte wieder vor dem Fenster und richtete den Lauf seiner Schusswaffe direkt auf B. Als er trotz des Rufes Bewaffnete Polizei. Lassen Sie die Waffe fallen oder Sie werden erschossen! in seiner Stellung verharrte, betätigte B. den Abzug seines Gewehres. Der Schuss traf den Unbekannten mitten in die Brust. Als die Polizisten und Rettungskräfte das Schlafzimmer betraten, sahen sie Michael Fitzgerald tot auf dem Bett liegen. Die Police Complaints Authority ordnete daraufhin eine interne Untersuchung der Angelegenheit an. Sie kam zu dem Ergebnis, B. könne kein strafbares Verhalten vorgeworfen werden, da dieser von der sicheren Annahme ausgegangen wäre, er werde von einem bewaffneten Einbrecher tödlich bedroht. In der Folge entschied die Staatsanwaltschaft, keinerlei strafrechtliche Schritte einzuleiten. Die Akten wurden an den Coroner (Anm.: Richterlicher Beamter zur Untersuchung der Todesursache in Fällen unnatürlichen Todes.) weitergeleitet. Es wurde ein Untersuchungsverfahren eingeleitet, bei dem zahlreiche Zeugen und auch die vier Angehörigen des mobilen Einsatzkommandos, denen Anonymität gewährt worden war, gehört wurden. Der Coroner kam zu dem Ergebnis, dass die Tötung von Michael Fitzgerald rechtmäßig gewesen sei. Seine Rechtsansicht wurde auch von der Jury übernommen. Am 9.3.1999 wurde ein Antrag der Bf. auf Gewährung von Verfahrenshilfe zur Erhebung eines Rechtsmittels gegen das Urteil der Jury im Instanzenweg abgewiesen. Rechtliche Beurteilung Rechtsausführungen: Die Bf. behauptet, die Tötung ihres Bruders durch Polizeibeamte und die mangelhaft durchgeführte Untersuchung des Vorfalls würden eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) darstellen. Sie rügt außerdem eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz). Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK: 1. Zur Tötung von Michael Fitzgerald: a) Zum Verhalten des den tödlichen Schuss abgebenden Polizeibeamten B.: Für den GH bestehen keine Zweifel, dass B. sich tatsächlich in seinem Leben notwendig hielt, das Feuer auf Michael Fitzgerald zu eröffnen, um sich und seine Übrigen hatte der Unbekannte bereits mehrere Aufforderungen, sich der Polizei zu jeweils den Eindruck hinterlassen, er würde im nächsten Augenblick das Feuer Ferner ist zu beachten, dass bedroht glaubte und es für Kameraden zu schützen. Im ergeben, ignoriert und dabei auf die Polizisten eröffnen. B. vor Abgabe des tödlichen Schusses eine letzte Warnung aussprach, die jedoch unbeachtet blieb. Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Anwendung von tödlicher Waffengewalt, mag sie noch so bedauerlich sein, im gegenständlichen Fall nicht unverhältnismäßig war. b) Zur Planung und Durchführung der Polizeioperation: Die Operation lief stets unter der Kontrolle von hochrangigen Polizeibeamten ab, der Einsatz des mobilen Einsatzkommandos wurde von taktischen Beratern überprüft und gutgeheißen. Es ist sicher bedauerlich, dass gerade an diesem Tag kein Unterhändler anwesend bzw. erreichbar war, der Michael Fitzgerald über den Anlass der Operation aufklären hätte können. Dies gilt auch für die Tatsache, dass Melanie Joy oder die Nachbarn zu keiner Zeit darüber informiert wurden, dass dieser sich am Telefon mit Mick zu erkennen gegeben hatte. Schließlich hätte auch der Hinweis auf die originalgetreue Nachbildung einer Faustfeuerwaffe die Polizei zu der Schlussfolgerung bringen können, es handle sich bei dem Unbekannten in Wahrheit um Michael Fitzgerald. Andererseits ist sich der GH bewusst, dass bei einer Beurteilung der Geschehnisse im Nachhinein Vorsicht angebracht ist. Zum einen ist angesichts der beträchtlichen Alkoholmenge, die in Michael Fitzgeralds Blut gefunden wurde, nicht gesichert, dass ein erfahrener Unterhändler mehr erreicht hätte als der Einsatzleiter, zum anderen war der vermeintliche Einbrecher um 18.25 Uhr gesichtet worden, während Michael Fitzgerald das Pub laut Aussage der Gäste erst gegen 18.40 Uhr verlassen hatte. Ferner war die Polizei offenbar stets darauf bedacht gewesen, keine überstürzten Aktionen zu setzen und die Situation ohne Blutvergießen zu klären. Der GH kann daher dem Vorbringen der Bf. nicht folgen, wonach die Art und Weise der Durchführung der Operation unvermeidlich zu besagtem Todesschuss führen musste. Der Vorfall dauerte relativ kurz an, war mit unweigerlichen Risiken verbunden und endete abrupt und auf tragische Weise. Die Polizeibeamten waren im Gebrauch von Schusswaffen besonders geschult und ihre Aktionen unterlagen der Kontrolle und Aufsicht durch erfahrene Offiziere. Somit ist festzuhalten, dass die Tötung von Michael Fitzgerald in Ausübung einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung erfolgte. Keine Verletzung von Art. 2 EMRK (einstimmig). www.ris.bka.gv.at Seite 2 von 4 AUSL EGMR 17.03.2005 2. Zur Untersuchung des Vorfalls: Der GH hat bereits im Fall Hugh Jordan/GB festgestellt, das in England und Wales bestehende Untersuchungsverfahren betreffend die Tötung von Personen durch Polizeibeamte erfülle die verfahrensrechtlichen Anforderungen des Art. 2 EMRK im Hinblick auf eine effektive Untersuchung des Vorfalls. Im Folgenden sollen die von der Bf. aufgezeigten Untersuchungsmängel der Reihe nach geprüft werden. Die Entscheidung des Coroners, den Angehörigen des mobilen Einsatzkommandos Anonymität zu gewähren, erfolgte nach einer sorgfältigen Abwägung aller widerstreitenden Interessen und beruhte auf der Befürchtung, sie und ihre Familien könnten Opfer von Repressalien werden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass B., C. und D. jeweils ihre Aussage zu Protokoll gaben und vom Rechtsvertreter der Familie des Verstorbenen ins Kreuzverhör genommen wurden. An der Entscheidung des Coroners ist daher nichts auszusetzen. Ähnliches gilt übrigens auch für dessen Entschluss, bestimmte von der Bf. benannte Zeugen nicht zu hören. Im vorliegenden Fall erfolgte die Untersuchung über einen Zeitraum von vier Tagen, im Zuge dessen zahlreiche Zeugen gehört und auch ein Lokalaugenschein vorgenommen wurden. Obgleich der Familie des Verstorbenen die Gewährung von Verfahrenshilfe verweigert wurde, war sie dennoch während des gesamten Verfahrens von einem erfahrenen Rechtsanwalt vertreten. Zwar trifft es zu, dass die Jury auf Anraten des Coroners die Tötung als rechtmäßig qualifizierte, jedoch verlor das Verfahren damit nicht an Effektivität. Die verfahrensrechtlichen Anforderungen des Art. 2 EMRK wurden somit nicht verletzt (einstimmig). Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK: Die Bf. bringt vor, dass ihr bzw. der Verlassenschaft ihres Bruders nach britischem Recht keine Möglichkeit zukomme, eine Schadenersatzforderung gegen den Staat zu erheben. Im vorliegenden Fall wurde über eine schadenersatzrechtliche Verantwortlichkeit des Staates für die Art und Weise der Durchführung und Beendigung der Polizeioperation zu keiner Zeit gerichtlich abgesprochen. Es trifft zwar zu, dass die Jury zum Zeitpunkt der Beendigung des Verfahrens die Tötung von Michael Fitzgerald für rechtmäßig befand, andererseits kann dieses Ergebnis nicht für die Frage maßgeblich sein, ob die Polizei eine zivilrechtliche Haftung trifft oder nicht. Diese Angelegenheit wäre einem anderen Entscheidungsforum innerhalb der nationalen Rechtsordnung zugefallen, für das andere Maßstäbe auf dem Gebiet der Tatsachenfindung und der Beweiswürdigung gegolten hätten. Der GH hat übrigens bereits im Fall Keenan/GB darauf hingewiesen, dass im Fall einer festgestellten Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK eine Entschädigung für immateriellen Schaden eine von mehreren Formen der Wiedergutmachung darstellen kann. Im vorliegenden Fall ist die Bf. aufgrund ihrer fehlenden Eigenschaft als Nachkomme vom Anwendungsbereich des Fatal Accidents Act 1976 (Anm.: Dieses Gesetz gewährt ein Klagerecht für den Fall einer ungesetzlichen Tötung.) ausgeschlossen. Unter dem Law Reform (Miscellaneous Provisions) Act 1934, der den Übergang gewisser Rechte des Verstorbenen auf die Verlassenschaft regelt, würde der Bf. in Vertretung der Verlassenschaft ihres Bruders bestenfalls die Rückerstattung der Begräbniskosten zukommen. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Bf. nach der derzeitigen Rechtslage sogar im Fall einer Gerichtsentscheidung zu ihren Gunsten keinerlei Aussicht auf Zuspruch von immateriellem Schadenersatz hätte. Dazu kommt, dass die Unmöglichkeit, eine ideelle Entschädigung zu erlangen, sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit negativ auf ein Ansuchen um Gewährung von Verfahrenshilfe zur Erhebung einer Zivilklage gegen die Polizei auswirken würde. Verletzung von Art. 13 EMRK (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Zagrebelsky). Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000, für immateriellen Schaden, € 12.000, für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Zagrebelsky). Vom GH zitierte Judikatur: McCann ua./GB v. 27.9.1995, A/324, NL 1995, 219; ÖJZ 1996, 233. Andronicou & Constantinou/CYP v. 9.10.1997, NL 1997, 264; ÖJZ 1998, 674. Kaya/TR v. 19.2.1998, NL 1998, 64. Keenan/GB v. 3.4.2001, NL 2001, 65. Hugh Jordan/GB v. 4.5.2001. Hinweis: Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.3.2005, Bsw. 50196/99, entstammt der Zeitschrift Newsletter Menschenrechte" (NL 2005, 71) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt. Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format): www.menschenrechte.ac.at/orig/05_2/Bubbins.pdf www.ris.bka.gv.at Seite 3 von 4 AUSL EGMR 17.03.2005 Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar. www.ris.bka.gv.at Seite 4 von 4 EGMR: Scavuzzo-Hager et al. vs. Schweiz - Humanrights.ch 1 von 2 http://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faell... Scavuzzo-Hager et al. gegen die Schweiz Zusammenfassung: 27.01.2016 08:41 EGMR: Scavuzzo-Hager et al. vs. Schweiz - Humanrights.ch 2 von 2 http://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faell... 27.01.2016 08:41 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 1 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... EGMR: Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua NVwZ 2011, 1441 Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua EMRK Art. 2, 3, 6, 13, 38 1. Der im blockierten Wagen sitzende Polizist konnte berechtigterweise annehmen, dass sein Leben durch Angriffe von Demonstranten gefährdet war. Dass er nach einer Warnung einen ungezielten Schuss abgegeben hat, der einen Demonstranten tödlich verletzte, war nach Art. 2II lit. a EMRK (Recht auf Leben) gerechtfertigt, weil die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war, um sich und seine Kollegen gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen. 2. Art. 2 EMRK verpflichtet die Staaten nicht nur, absichtliche ungerechtfertigte Tötungen zu unterlassen, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Personen unter ihrer Hoheitsgewalt zu treffen. Sie müssen einen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen schaffen, der die Voraussetzungen begrenzt, unter denen Polizisten Gewalt anwenden und von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen, und dabei angemessene Garantien gegen Willkür und Missbrauch vorsieht. 3. Die italienischen Behörden haben alles getan, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um den Schutz des Lebens bei den Polizeioperationen, bei denen die Gefahr tödlicher Gewaltanwendung bestand, zu gewährleisten. Deswegen ist Art. 2 EMRK auch nicht bei Organisation und Planung dieser Operation verletzt. 4. Italien hat weiter die sich aus Art. 2 EMRK ergebende Pflicht, beim Tod einer Person wirksame Ermittlungen anzustellen, nicht verletzt. Deswegen ist gegen diese Vorschrift auch nicht in ihrem verfahrensrechtlichen Aspekt verstoßen worden. (Leitsätze der Bearbeiter) EGMR (Große Kammer), Urt. v. 24. 3. 2011 − 23458/02 (Giuliani u. Gaggio/Italien) Zum Sachverhalt: Der Bf. zu 1, Giuliano Giuliani, geboren 1938, die Bf. zu 2, Adelaide Gaggio, verheiratete Giuliani, geboren 1944, und die Bf. zu 3, Elena Giuliani, geboren 1972, sind italienische Staatsangehörige und wohnen in Genua bzw. Mailand. Die Bf. zu 1 und 2 sind die Eltern, die Bf. zu 3 die Schwester von Carlo Giuliani, der während einer Demonstration beim G-8-Gipfel in Genua im Juli 2001 erschossen worden ist. Hintergrund: Anlässlich des G-8-Gipfels vom 19. bis 21. 7. 2001 fanden zahlreiche „Anti-GlobalisierungsDemonstrationen“ statt. Die italienischen Behörden trafen umfangreiche Sicherungsmaßnahmen. Der Präfekt von Genua konnte das Militär zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit einsetzen. Das historische Zentrum der Stadt, wo das Treffen stattfand, wurde zur „roten Zone“ erklärt und mit Metallgittern abgesperrt. Der Zugang wurde nur Anwohnern und Personen erlaubt, die in dieser Zone arbeiteten. Um diese Zone herum gab es eine gelbe und schließlich eine weiße – normale – Zone. Der Befehlshaber der Sicherheitskräfte erließ am 19. 7. 2001, am Tage vor dem Tode von Carlo Giuliani, eine Anordnung, wonach Priorität für die Einsatzkräfte war, eine Verteidigungslinie in der roten Zone zu errichten, mit der Aufgabe, jeden Durchbrechungsversuch schnell zurückzuschlagen, und eine Verteidigungslinie in der gelben Zone. Am Morgen des 20. 7. gab es zahlreiche Zwischenfälle zwischen einigen Gruppen besonders aggressiver und maskierter Demonstranten, dem „Schwarzen Block“, und den Sicherheitskräften. Teilnehmer der „Weißen Overalls“, deren Demonstration angekündigt und genehmigt war, setzten sich in Marsch. An der Demonstration waren mehrere Organisationen beteiligt, nämlich Vertreter der „Anti-Globalisierungs-Bewegung“, von Sozialen Zentren und Jungkommunisten. Sie glaubten an einen friedlichen Protest durch zivilen Ungehorsam, hatten aber als strategisches Ziel angekündigt, in die rote Zone einzudringen. Am Vortag hatte der Polizeichef von Genua den „Weißen Overalls“ verboten, die rote und die angrenzende Zone zu betreten, und die Ordnungskräfte aufgefordert, den Marsch an der Piazza Verdi anzuhalten. Bis zu dieser Piazza konnten die Demonstranten sich frei bewegen und damit weit über die Stelle hinaus, an der es zu den Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften kam. Es gab mehrere Zusammenstöße. Tod von Carlo Giuliani: Gegen 17 Uhr beobachtete eine sizilianische Einheit von Carabinieri eine Gruppe von 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 2 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... Demonstranten, die sehr aggressiv zu sein schienen. Die Sicherheitskräfte griffen ein, wurden aber von den Demonstranten zurückgedrängt. Die Polizisten flohen und wurden von den Demonstranten verfolgt. Zwei Polizeijeeps versuchten gleichfalls die Flucht, die einem Jeep gelang, dem anderen nicht, weil er von einem umgekippten Müllcontainer blockiert wurde. Mehrere mit Steinen, Stöcken und Eisenstangen bewaffnete Demonstranten umringten das Fahrzeug und schlugen die beiden hinteren Seitenscheiben sowie die Heckscheibe des Jeeps ein. Sie beleidigten und bedrohten die Polizisten und warfen Steine und einen Feuerlöscher auf das Fahrzeug. In dem Jeep waren drei Polizisten, darunter P, der an den Folgen des Tränengaseinsatzes litt und dem seine Vorgesetzten deswegen erlaubt hatten, sich in den Jeep zurückzuziehen. Er kauerte auf dem Rücksitz, schützte sich auf einer Seite mit einem Schild und schrie, die Demonstranten sollten zurückweichen „oder er würde sie töten“. Er zog seine Pistole, richtete sie auf die zerstörte Rückscheibe und schoss nach etwa zehn Sekunden zweimal. Ein Schuss traf den maskierten Carlo Giuliani, der gerade einen leeren Feuerlöscher hochgenommen hatte. Er fiel zu Boden. Kurz darauf gelang es dem Fahrer, den Motor zu starten. Um zu entkommen, fuhr er zurück über den Körper von Carlo Giuliani, schaltete in den ersten Gang und fuhr ein zweites Mal über den Körper. Um 17.27 Uhr wurde ein Arzt angefordert, der den Tod von Carlo Giuliani feststellte. Ermittlungsverfahren wegen des Todes: Gegen M und den Fahrer des Jeeps wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts vorsätzlicher Tötung eröffnet. Andere Polizisten und Demonstranten wurden als Zeugen vernommen, audio-visuelles Material ausgewertet, ballistische und andere Untersuchungen sowie eine Autopsie zur Feststellung der Todesursache durchgeführt, die ergab, dass Carlo Giuliani unter dem linken Auge von einem Schuss getroffen worden war, der den Tod binnen weniger Minuten verursacht hatte. Ein Demonstrant hat gegenüber dem Anwalt der Bf. ausgesagt, Carlo Giuliani sei noch am Leben gewesen, nachdem der Jeep über seinen Körper gefahren sei. Am 5. 5. 2003 stellte der Untersuchungsrichter in Genua das Verfahren auf Antrag der StA ein. P habe nicht auf Carlo Giuliani gezielt, selbst wenn er es getan hätte, wäre sein Verhalten gerechtfertigt gewesen. Er habe in Selbstverteidigung gehandelt. Auch der Polizist, der den Jeep gefahren hatte, habe sich nicht strafbar gemacht, denn der Tod sei durch den Schuss eingetreten. Anträge der Bf. auf weitere Ermittlungen wies der Untersuchungsrichter zurück. Strafverfahren gegen Demonstranten: Das AG Genua verurteilte am 14. 12. 2007 25 Demonstranten wegen verschiedener Straftaten, darunter Gewalttaten gegen Polizisten. Das BerGer. Genua wies die Berufung EGMR: Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua (NVwZ 2011, 1441) 1442 von 24 Demonstranten am 9. 10. 2009 zurück, erhöhte einige Strafen und stelle fest, dass die Strafverfolgung in anderen Fällen verjährt sei. Verfahren vor dem Gerichtshof: Am 18. 6. 2002 hatten die Bf. beim Gerichtshof Beschwerde eingelegt und geltend gemacht, der Tod ihres Sohnes und Bruders Carlo Giuliani sei die Folge übermäßiger Gewaltanwendung gewesen. Außerdem habe Italien nicht die notwendigen gesetzlichen und anderen Maßnahmen ergriffen, die notwendig seien, um die Folgen von Gewaltanwendung soweit wie möglich zu reduzieren. Die Organisation und Planung der Polizeioperation sei mit der Pflicht, das Leben zu schützen, nicht vereinbar gewesen. Außerdem seien die Ermittlungen wegen des Todes nicht wirksam gewesen. Am 25. 8. 2009 hat eine Kammer (IV. Sektion) einstimmig festgestellt, dass Art. 2 EMRK nicht wegen übermäßiger Gewaltanwendung verletzt sei, und mit 5 : 2 Stimmen, dass diese Vorschrift auch nicht wegen Verstoßes gegen die positive Pflicht, das Leben zu schützen, verletzt sei, sowie mit 4 : 3 Stimmen, dass Art. 2 EMRK in seinem verfahrensmäßigen Aspekt verletzt sei. Sie hat weiter einstimmig festgestellt, dass es nicht erforderlich sei, die Beschwerde nach Art. 3 (Verbot der Folter), Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) EMRK zu prüfen, und dass Art. 38 EMRK nicht verletzt sei. Am 1. 3. 2010 hat der Ausschuss der Großen Kammer die Sache auf Antrag aller Bet. an die Große Kammer verwiesen (Art. 43 EMRK, Art. 73 VerfO), die auf Grund mündlicher Verhandlung vom 29. 9. 2010 am 24. 3. 2011 mit 13 : 4 Stimmen entschieden hat, dass Art. 2 EMRK in materieller Hinsicht nicht wegen der Anwendung tödlicher Gewalt verletzt ist, mit 10 : 7 Stimmen, dass diese Vorschrift auch weder wegen der italienischen Rechtsvorschriften über die Anwendung tödlicher Gewalt noch wegen der Ausgabe von Waffen an die Sicherheitskräfte anlässlich des G-8-Gipfels in Genua verletzt ist und auch nicht wegen der Organisation und Planung der Polizeioperation, weiter mit 10 : 7 Stimmen, dass Art. 2 EMRK nicht in verfahrensmäßiger Hinsicht verletzt ist, sowie einstimmig, dass es nicht erforderlich ist, den Fall nach Art. 3 und 6 EMRK zu prüfen. Mit 13 : 4 Stimmen hat sie festgestellt, dass Art. 13 EMRK nicht verletzt ist, sowie einstimmig, dass auch Art. 38 EMRK nicht verletzt ist. 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 3 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... Aus den Gründen: I. Behauptete Verletzung von Art. 2 EMRK in materieller Hinsicht [157] Die Bf. rügen, Carlo Giuliani sei von den Sicherheitskräften getötet worden und die Behörden hätten sein Leben nicht geschützt. Sie berufen sich auf Art. 2 EMRK … A. Ob die Anwendung tödlicher Gewalt gerechtfertigt war [158] Die Bf. machen zunächst geltend, die von dem Polizisten P angewendete tödliche Gewalt sei unter den Umständen nicht „unbedingt erforderlich“ gewesen, um die in Art. 2II EMRK genannten Ziele zu erreichen. Die Regierung widerspricht. 1. Vortrag der Parteien (zusammengefasst) a) Die Bf. [159] [–] [163] Die Bf. tragen vor, das Leben der Polizisten im Jeep sei nicht gefährdet gewesen. P habe bei seiner Befragung angegeben, er hätte niemanden gesehen, als er seine Pistole in Anschlag gebracht habe, er hätte Steinwürfe und die Gegenwart von Angreifern bemerkt, die er aber nicht hätte sehen können. Dann sei aber schwer nachvollziehbar, wie er in Selbstverteidigung hätte handeln können. Im Übrigen seien die Demonstranten nicht bewaffnet gewesen. P habe vor seinem Schuss nicht eindeutig gewarnt. b) Die Regierung (zusammengefasst) [164] [–] [172] Die Regierung ist der Auffassung, es sei nicht Aufgabe des Gerichtshofs, die Entscheidungen der italienischen Gerichte in Frage zu stellen, wonach die Behörden nicht gegen die Pflicht verstoßen haben, das Leben von Carlo Giuliani zu schützen. Es habe weder eine absichtliche Tötung noch eine übermäßige Gewaltanwendung gegeben. Zwischen dem Schuss und dem Tod von Carlo Giuliani gebe es keinen Kausalzusammenhang, weil das Geschoss einen Stein getroffen habe und abgelenkt worden sei. P sei in Panik gewesen und habe gute Gründe für die Annahme gehabt, dass sein Leben in Gefahr sei. Er habe nicht auf Carlo Giuliani gezielt, sondern in die Luft geschossen. Jedenfalls aber sei die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich und verhältnismäßig gewesen … 3. Beurteilung durch den Gerichtshof a) Grundsätze [174] Art. 2 EMRK zählt zu den grundlegenden Artikeln der Konvention, von ihm darf in Friedenszeiten nach Art. 15 EMRK nicht abgewichen werden. Zusammen mit Art. 3 EMRK garantiert er einen der Grundwerte der demokratischen Gesellschaften, aus denen der Europarat besteht (s. u. a. EGMR, Slg. 1997-VI Nr. 171 – Andronicou u. Constantinou/Zypern; EGMR, Urt. v. 24. 6. 2008 – 36832/97 Nr. 63 – Solomou u. a./Türkei). [175] Die in Art. 2II EMRK aufgezählten Ausnahmen zeigen, dass die Vorschrift vorsätzliche Tötungen erfasst, sich aber nicht darauf beschränkt. Insgesamt gelesen macht Art. 2 EMRK deutlich, dass sein Abs. 2 nicht in erster Linie bestimmt, unter welchen Umständen eine Tötung erlaubt ist, sondern Situationen umschreibt, in denen eine rechtmäßige Gewaltanwendung dazu führen kann, dass der Tod unbeabsichtigt verursacht wird. Die Gewaltanwendung muss „unbedingt erforderlich“ sein, um eines der in Art. 2II lit. a bis c EMRK genannten Ziele zu erreichen (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 324 Nr. 148 = ÖJZ 1996, 233 – McCann u. a./Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 24. 6. 2008 – 36832/97 Nr. 64 – Solomou u. a./Türkei). [176] Die Verwendung der Worte „unbedingt erforderlich“ weist darauf hin, dass das Kriterium der Erforderlichkeit strikter und enger ausgelegt werden muss als bei der Entscheidung, ob eine Handlung des Staats nach Art. 8–11II EMRK „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ ist. Die Gewalt muss insbesondere strikt verhältnismäßig sein, um die in Art. 2II lit. a bis c EMRK genannten berechtigten Ziele zu erreichen. Wegen der Bedeutung dieser Vorschrift in einer demokratischen Gesellschaft müssen überdies Fälle von Tötungen außerordentlich sorgfältig geprüft werden, besonders wenn vorsätzlich tödliche Gewalt angewendet wurde, und dabei sind nicht nur die Handlungen der Repräsentanten des Staats, die sie angewendet haben, sondern auch alle Begleitumstände zu berücksichtigen, insbesondere die Vorbereitung und Kontrolle der Operationen (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 324 Nrn. 147–150 = ÖJZ 1996, 233 – McCann u. a./Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 1997-VI Nr. 171 – Andronicou u. Constantinou/Zypern; EGMR, Slg. 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 4 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... 2001-VII Nr. 391 – Avsar/Türkei; EGMR, Urt. v. 26. 7. 2007 – 57941/00 Nr. 142 – Musayev u. a./Russland). [177] Die Umstände, unter denen eine Tötung gerechtfertigt sein kann, müssen eng ausgelegt werden. Ziel und Zweck der Konvention als Instrument zum Schutz der Grundrechte verlangen außerdem, dass Art. 2 EMRK in einer Weise ausgelegt und angewendet wird, die seine Garantien konkret und wirksam macht (s. EGMR, Urt. v. 24. 6. 2008 – 36832/97 Nr. 63 – Solomou u. a./Türkei). Der Gerichtshof hat insbesondere angenommen, dass vor Eröffnung des Feuers, soweit möglich, Warnschüsse abgegeben werden müssen (s. EGMR, Urt. v. 27. 10. 2009 – 45388/99 – Callis u. Androulla Panayi/Türkei; s. insb. Nr. 10 der Grundprinzipien der VN für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit Polizeibefugnissen v. 7. 9. 1990 …). [178] Gewaltanwendung durch Repräsentanten des Staats zur Erreichung eines der in Art. 2II EMRK genannten Ziele kann nach dieser Vorschrift auch erforderlich sein, wenn sie sich auf eine ehrliche Überzeugung stützt, die zur Tatzeit mit guten Gründen für zutreffend gehalten worden ist, sich aber später als irrtümlich erweist. Das Gegenteil würde dem Staat und seinen Bediensteten, die das Gesetz anzuwenden haben, EGMR: Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua (NVwZ 2011, 1441) 1443 eine unrealistische Bürde auferlegen, möglicherweise auf Kosten ihres Lebens oder des Lebens anderer (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 324 Nr. 200 = ÖJZ 1996, 233 – McCann u. a./Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 1997-VI Nr. 192 – Andronicou u. Constantinou/Zypern). [179] Wenn der Gerichtshof darüber entscheiden muss, ob eine tödliche Gewaltanwendung erforderlich war, kann er, entfernt von den Ereignissen, seine eigene Beurteilung der Lage nicht an die Stelle der des Polizisten setzen, der in der Hitze der Aktion reagieren musste, um eine als ernsthaft eingeschätzte Gefahr für sein Leben abzuwenden (s. EGMR, Slg. 2005-II Nr. 139 – Bubbins/Vereinigtes Königreich). [180] Ebenso muss der Gerichtshof vermeiden, die Rolle eines erstinstanzlichen Tatsachengerichts einzunehmen, es sei denn, das ist nach den Umständen des Falls unvermeidbar (s. u. a. EGMR, Entsch. v. 4. 4. 2000 – 28883/95 – McKerr/Vereinigtes Königreich). Wenn es staatliche Verfahren gegeben hat, ist es grundsätzlich nicht seine Aufgabe, seine eigene Beurteilung der Tatsachen an die Stelle der von staatlichen Gerichten zu setzen, deren Aufgabe es ist, die Tatsachen auf Grund erhobener Beweise festzustellen (s. u. a. EGMR, 1992, Serie A, Bd. 247 Nr. 34 = ÖJZ 1993, 391 – Edwards/Vereinigtes Königreich; EGMR, 1993, Serie A, Bd. 269 Nr. 29 = NJW 1994, 1463 – Klaas/Deutschland). Deren Beurteilung bindet zwar den Gerichtshof nicht, denn es steht ihm frei, die Tatsachen unter Berücksichtigung allen ihm vorliegenden Materials selbst zu beurteilen. Er wird aber normalerweise nicht von den Tatsachenfeststellungen des staatlichen Richters abweichen, wenn es dafür keine zwingenden Gründe gibt (s. EGMR, Slg. 2001-VII Nr. 283 – Avsar/Türkei; EGMR, Urt. v. 5. 10. 2004 – 46430/99 Nr. 52 – Barbu Anghelescu/Rumänien). [181] Bei der Beweiswürdigung wendet der Gerichtshof den Grundsatz an, „dass kein vernünftiger Zweifel verbleiben darf“, wobei ein solcher Beweis das Ergebnis mehrerer Indizien oder nicht widerlegter Vermutungen sein kann, die ausreichend gewichtig, genau und überzeugend sind. Auch das Verhalten der Parteien kann bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden (s. EGMR, 1978, Serie A, Bd. 336 Nr. 161 = EGMR-E 1, 232 – Irland/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 18. 6. 2002 – 25656/94 Nr. 264 – Orhan/Türkei). Der Grad notwendiger Überzeugung für ein bestimmtes Ergebnis und die Verteilung der Beweislast hängen im Übrigen wesentlich von den Besonderheiten der Umstände ab, der Art der erhobenen Rügen und dem Konventionsrecht, um das es geht. Dem Gerichtshof ist dabei bewusst, dass die Feststellung einer Menschenrechtsverletzung für den Staat schwerwiegend ist (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 336 Nr. 32 = ÖJZ 1996, 148 – Ribitsch/Österreich; EGMR, Slg. 2004-VII Nr. 26 = NJW 2005, 1849 – Ilascu u. a./Moldau u. Russland; EGMR, Slg. 2005-VII Nr. 147 – Natchova u. a./Bulgarien; EGMR, Urt. v. 24. 6. 2008 – 36832/97 Nr. 66 – Solomou u. a./Türkei). [182] Eine besonders sorgfältige Prüfung ist erforderlich, wenn Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK gerügt wird (s. mutatis mutandis EGMR, 1995, Serie A, Bd. 336 Nr. 32 = ÖJZ 1996, 148 – Ribitsch/Österreich). Wenn staatliche Instanzen deswegen Ermittlungsverfahren geführt haben, ist zu bedenken, dass sich die strafrechtliche Verantwortung von der Verantwortung des Staats nach der Konvention unterscheidet – über sie allein befindet der Gerichtshof. Sie beruht auf den Vorschriften der Konvention, die unter Berücksichtigung von 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 5 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... ihrem Ziel und Zweck und den Regeln und Grundsätzen des Völkerrechts ausgelegt werden müssen. Die Verantwortlichkeit eines Staats für Handlungen seiner Organe, Repräsentanten oder Bediensteten darf nicht mit staatlichen Rechtsfragen über die individuelle strafrechtliche Haftung verwechselt werden, über die staatliche Gerichte entscheiden. Der Gerichtshof entscheidet nicht über die strafrechtliche Schuld oder Unschuld nach staatlichem Recht (s. EGMR, Slg. 2001-III Nr. 111 – Tanli/Türkei; EGMR, Slg. 2001-VII Nr. 284 – Avsar/Türkei). b) Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall [183] [–] [188] (Der Gerichtshof fasst die unstreitigen Tatsachen zusammen.) [189] … Unter Berücksichtigung des extrem heftigen Angriffs auf den Jeep, wie er sich aus den Aufnahmen ergibt, die der Gerichtshof einsehen konnte, hat P in der ehrlichen Ansicht gehandelt, dass sein und seiner Kollegen Leben und ihre körperliche Unversehrtheit durch den rechtswidrigen Angriff in Gefahr waren. Das berechtigte ihn, angemessene Mittel zu ergreifen, um sich und die übrigen Insassen des Jeeps zu verteidigen. [190] Die Fotos zeigen, und das wird durch die Aussagen von P und einiger Demonstranten bestätigt …, dass P vor dem Schuss seine Pistole gezeigt, in dem er seine Hand in Richtung auf die Heckscheibe ausgestreckt hat, und dass er zu den Demonstranten geschrien hat, wegzugehen, wenn sie nicht getötet werden wollten. Verhalten und Worte von P waren eine eindeutige Warnung, dass er schießen werde. Man sieht überdies auf den Fotos mindestens einen Demonstranten, der sich in diesem Moment schnell entfernt hat. [191] In diesem Augenblick äußerster Anspannung hob Carlo Giuliani einen Feuerlöscher vom Boden bis zur Brusthöhe auf, in der offenbaren Absicht, ihn auf die Insassen des Autos zu werfen. P konnte sein Verhalten vernünftigerweise als Anzeichen dafür verstehen, dass der Angriff auf den Jeep trotz der Warnung und der gezeigten Pistole weder aufhören noch an Intensität verlieren würde. Auch die große Mehrheit der Demonstranten schien im Übrigen den Angriff fortzusetzen. Das konnte die ehrliche Überzeugung von P, er sei in Lebensgefahr, nur verstärken und rechtfertigte den Einsatz eines möglicherweise tödlichen Verteidigungsmittels, wie einen Schuss … [193] Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die „Theorie des Querschlägers“ begründet ist, worüber die Sachverständigen, die den dritten ballistischen Versuch durchgeführt haben, die Sachverständigen der Bf. und die Autopsie zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind. … Es genügt festzustellen …, dass das Gesichtsfeld von P durch das Reserverad des Jeeps begrenzt war, weil er halb auf dem Boden des Jeeps lag oder kauerte. Da die Demonstranten trotz der Warnung ihre Angriffe fortsetzten und die Gefahr, der er ausgesetzt war, insbesondere durch den wahrscheinlich zweiten Wurf eines Feuerlöschers auf ihn, unmittelbar war, konnte P bei seiner Verteidigung nur in den schmalen Raum zwischen dem Reserverad und dem Dach des Jeeps schießen. Dass ein solcher Schuss einen Angreifer verletzen und tödlich treffen konnte, wie das unglücklicherweise geschehen ist, bedeutet nicht, dass die Verteidigungshandlung übermäßig oder unverhältnismäßig war. [194] Aus diesen Gründen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Anwendung tödlicher Gewalt unbedingt erforderlich war, um „jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen“ i. S. von Art. 2II lit. a EMRK … [195] Folglich ist Art. 2 EMRK in materieller Hinsicht nicht verletzt. EGMR: Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua (NVwZ 2011, 1441) 1444 [196] Nach dieser Entscheidung ist nicht mehr erforderlich zu prüfen, ob die Gewaltanwendung auch unvermeidlich war, um „einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“ i. S. von Art. 2II lit. c EMRK. B. Ob Italien die notwendigen rechtlichen und administrativen Maßnahmen getroffen hat, um die nachteiligen Folgen der Gewaltanwendung soweit wie möglich zu reduzieren [197] Wie vor der Kammer rügen die Bf. außerdem Lücken in der Rechtsordnung Italiens. Die Regierung widerspricht. Die Kammer hat diese Frage nicht geprüft … 3. Beurteilung durch den Gerichtshof 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 6 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... a) Grundsätze [208] Art. 2I EMRK verpflichtet die Staaten nicht nur dazu, eine absichtliche und ungerechtfertigte Tötung zu unterlassen, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Personen unter ihrer Hoheitsgewalt zu treffen (s. EGMR, Slg. 1998-III Nr. 36 = ÖJZ 1999, 353 – L. C. B./Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 1998-VIII Nr. 115 – Osman/Vereinigtes Königreich). [209] Die grundlegende Pflicht, das Leben zu schützen, schließt eine Verpflichtung des Staats ein, einen geeigneten rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen zu schaffen, der unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Regeln die begrenzten Voraussetzungen festlegt, unter denen Vollzugsbedienstete Gewalt anwenden und von Schusswaffen Gebrauch machen dürfen (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nrn. 57–59 = NJW 2005, 3405 – Makaratzis/Griechenland; EGMR, Urt. v. 12. 6. 2007 – 50939/99 Nr. 49 – Bakan/Türkei; s. auch die oben unter Nr. 177 erwähnten Grundprinzipien der VN). Im Einklang mit dem Art. 2 EMRK zu Grunde liegenden strikten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit … muss der rechtliche Rahmen den Gebrauch von Schusswaffen von einer sorgfältigen Analyse der Umstände abhängig machen (s. mutatis mutandis EGMR, Slg. 2005-VII Nr. 96 – Natchova u. a./Bulgarien). Außerdem muss das staatliche Recht bei Regelungen über Polizeioperationen angemessene und wirksame Garantien gegen Willkür und Missbrauch von Gewalt und sogar gegen vermeidbare Unfälle vorsehen (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 58 = NJW 2005, 3405 – Makaratzis/Griechenland). [210] In Anwendung dieser Grundsätze hat der Gerichtshof z. B. den bulgarischen rechtlichen Rahmen für unzureichend gehalten, nach dem der Polizei erlaubt war, auf jeden flüchtigen Angehörigen der Streitkräfte zu schießen, der sich nicht unmittelbar nach erstem Anruf und einem Warnschuss ergibt, ohne klare Garantien zur Verhinderung willkürlicher Tötungen zu geben (s. EGMR, Slg. 2005-VII Nrn. 99–102 – Natchova u. a./Bulgarien). Bei dem rechtlichen Rahmen in der Türkei, 1934 geschaffen, hat der Gerichtshof Unzulänglichkeiten festgestellt, weil das türkische Recht zahlreiche Umstände, u. a. Situationen aufzählte, in denen Polizisten von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen konnten, ohne sich verantworten zu müssen (s. EGMR, Urt. v. 25. 4. 2006 – 19807/92 Nrn. 77–78 – Erdogan u. a./Türkei). Demgegenüber hat er Regelungen für konventionskonform gehalten, die eine abschließende Aufzählung von Situationen enthalten, in denen Polizisten von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen dürfen, und klargestellt, dass dies nur als letzte Möglichkeit angesehen werden könne und dass Warnschüsse abgegeben werden müssten, bevor in Höhe der Füße oder ohne Begrenzung geschossen wird (s. EGMR, Urt. v. 12. 6. 2007 – 50939/99 Nr. 51 – Barkan/Türkei). b) Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall [211] Der Untersuchungsrichter in Genua hat angenommen, die Rechtmäßigkeit des Waffengebrauchs durch P müsse nach §§ 52, 53 italienisches StGB geprüft werden. Diese Vorschriften bilden den rechtlichen Rahmen, der die Umstände bestimmt, in denen der Waffengebrauch erlaubt ist. [212] [–] [215] (Der Gerichtshof stellt fest, dass § 52 italienisches StGB eine berechtigte Verteidigung wegen rechtswidriger Angriffe vorsieht, der notwendig und verhältnismäßig ist. § 53 italienisches StGB sei zwar allgemein gefasst, verlange aber auch, dass es notwendig sei, Gewalt anzuwenden. Die Unterschiede zu Art. 2II EMRK seien nicht so schwerwiegend, dass schon deshalb von einem angemessenen rechtlichen Rahmen nicht mehr gesprochen werden könnte.) [216] Die Bf. beklagen weiter, dass die Sicherheitskräfte nur tödliche Waffen gehabt hätten, insbesondere keine Pistolen mit Gummigeschossen. Die anwesenden Polizisten verfügten aber über Mittel zur Auflösung und Kontrolle der Menge, die nicht das Leben bedrohten, nämlich Tränengas (s. a contrario EGMR, Slg. 1998-IV Nr. 71 – Gülec/Türkei; EGMR, Urt. v. 26. 7. 2005 – 35072/97 Nrn. 108, 111 – Simsek u. a./Türkei). … Die Konvention, so wie sie der Gerichtshof auslegt, berechtigt nicht zu dem Schluss, dass Polizisten keine tödlichen Waffen zur Abwehr von Angriffen tragen dürfen … [218] Aus diesen Gründen ist Art. 2 EMRK in materieller Hinsicht nicht durch die italienischen rechtlichen Regelungen über die Anwendung tödlicher Gewalt oder wegen der Waffen, mit denen die Polizisten beim Gipfeltreffen G-8 in Genua ausgerüstet waren, verletzt. C. Organisation und Planung der Polizeioperation [219] Die Bf. machen geltend, Italien sei auch wegen Mängel der Planung, Organisation und Durchführung der Polizeioperation verantwortlich. Die Regierung widerspricht. … 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 7 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... 3. Beurteilung durch den Gerichtshof a) Grundsätze [244] Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann Art. 2 EMRK unter besonderen, genau umschriebenen Umständen den Behörden die positive Verpflichtung auferlegen, vorbeugend praktische Maßnahmen zu treffen, um eine Person zu schützen, deren Leben durch Straftaten anderer bedroht ist (s. EGMR, Slg. 2002-VIII Nr. 67 = NJW 2003, 3259 – Mastromatteo/Italien; EGMR, Urt. v. 15. 1. 2009 – 46598/06 Nr. 50 – Branko Tomasic u. a./Kroatien; EGMR, Urt. v. 9. 6. 2009 – 33401/02 Nr. 128 – Opuz/Türkei). [245] Das bedeutet aber nicht, dass aus dieser Vorschrift eine positive Verpflichtung der Staaten abgeleitet werden kann, jede mögliche Gewalttat zu verhindern. Diese Pflicht muss vielmehr so verstanden werden, dass sie den Behörden keine unmögliche oder übermäßige Last aufbürdet, wobei die Schwierigkeiten der Polizei berücksichtigt werden müssen, ihre Aufgaben in der heutigen Zeit zu erfüllen, sowie die Unberechenbarkeit menschlichen Verhaltens und die Notwendigkeit, Mittel nach Prioritäten und Möglichkeiten einzusetzen (s. EGMR, Slg. 1998-VIII Nr. 116 – Osman/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 15. 12. 2009 – 28634/06 Nr. 105 – Maiorano u. a./Italien). [246] Daraus folgt, dass die Behörden nicht bei jeder angeblichen Gefahr für das Leben nach der Konvention verpflichtet sind, konkrete Gegenmaßnahmen zu treffen, um sie abzuwenden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs be EGMR: Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua (NVwZ 2011, 1441) 1445 steht eine solche positive Verpflichtung nur, wenn bewiesen ist, dass die Behörden das Bestehen einer wirklichen und unmittelbaren Gefahr für das Leben einer oder mehrerer Personen kannten oder kennen mussten und dennoch nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten Maßnahmen getroffen haben, die nach vernünftiger Beurteilung die Gefahr hätte vermeiden können (s. EGMR, Entsch. v. 23. 11. 1999 – 33747/96 – Bromiley/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2002-III Nr. 55 – Paul u. Audrey Edwards/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 15. 1. 2009 – 46598/06 Nrn. 50–51 – Branko Tomasic u. a./Kroatien). [247] In dem Urteil Mastromatteo (s. EGMR, Slg. 2002-VIII Nr. 69 = NJW 2003, 3259 – Mastromatteo/Italien) hat der Gerichtshof zwischen den Fällen unterschieden, in denen es um die Notwendigkeit des Schutzes für eine oder mehrere Personen geht, von denen man vorher wusste, dass sie möglicherweise Ziel eines tödlichen Angriffs waren (s. EGMR, Slg. 1998-VIII – Osman/Türkei; EGMR, Slg. 2002-III – Paul u. Audrey Edwards/Vereinigtes Königreich; s. auch die nach dem Urteil Mastromatteo ergangenen Urteile EGMR, Urt. v. 15. 1. 2009 – 46598/06 – Branko Tomasic u. a./Kroatien und EGMR, Urt. v. 9. 6. 2009 – 33401/02 – Opuz/Türkei), und Fällen, welche die Verpflichtung betreffen, allgemein die Gesellschaft zu schützen (s. EGMR, Urt. v. 15. 12. 2009 – 28634/06 Nr. 107– Maiorano u. a./Italien). [248] Im Übrigen kann die Verantwortlichkeit des Staats nur begründet werden, wenn dargetan ist, dass der Tod eine Folge des Unterlassens der Behörden ist, alles zu tun, was von ihnen vernünftigerweise erwartet werden kann, um eine gewisse und unmittelbare Lebensgefahr zu vermeiden, von der sie Kenntnis hatten oder hätten haben müssen (s. EGMR, Slg. 1998-VIII Nr. 16 – Osman/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2002-VIII Nr. 74 = NJW 2003, 3259 – Mastromatteo/Italien; EGMR, Urt. v. 15. 12. 2009 – 28634/06 Nr. 109 – Maiorano u. a./Italien). [249] Nach seiner Rechtsprechung muss der Gerichtshof auch die Planung und Kontrolle der Polizeioperation prüfen, bei der eine oder mehrere Personen zu Tode gekommen sind. Um festzustellen, ob die Behörden unter den besonderen Umständen des Falls angemessene Sorgfalt darauf verwendet haben sicherzustellen, dass jede Lebensgefahr soweit wie möglich verringert wird, und ob sie bei der Wahl der Mittel nachlässig waren (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 324 Nrn. 194, 201 = ÖJZ 1996, 233 – McCann u. a./Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 1997-VI Nr. 181 – Andronicou u. Constantinou/Zypern). Die Anwendung tödlicher Gewalt durch die Polizei kann unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein. Art. 2 EMRK gibt aber keine freie Hand. Mit einem wirksamen Schutz der Menschenrechte ist es nicht vereinbar, keine Regeln für das Verhalten von Polizisten zu geben, mit denen Willkür vermieden werden kann. Das bedeutet, dass Polizeioperationen vom staatlichen Recht ausreichend geregelt und mit angemessenen und wirksamen Garantien gegen Willkür und Missbrauch von Gewalt versehen sein müssen. Der Gerichtshof muss also nicht nur das Vorgehen der Polizisten, welche 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 8 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... Gewalt angewendet haben, sondern auch die Begleitumstände prüfen, insbesondere die Planung und Kontrolle der Operation. Polizisten dürfen bei Erfüllung ihrer Pflichten nicht im Ungewissen gelassen werden. Ein rechtlicher und verwaltungsmäßiger Rahmen muss die begrenzten Voraussetzungen festlegen, unter denen die Polizisten Gewalt anwenden und Waffen gebrauchen dürfen, wobei die insoweit entwickelten völkerrechtlichen Grundsätze zu berücksichtigen sind (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nrn. 58–59 = NJW 2005, 3405 – Makaratzis/Griechenland). [250] Polizisten müssen insbesondere geschult werden abzuwägen, ob es unbedingt erforderlich ist, Schusswaffen zu gebrauchen, und das nicht nur auf der Grundlage des Wortlauts von Regelungen, sondern auch unter Berücksichtigung des Vorrangs der Achtung des menschlichen Lebens als grundlegender Wert (s. EGMR, Slg. 2005-VII Nr. 97 – Natchova u. a./Bulgarien; s. auch die Kritik des Gerichtshofs an der Ausbildung von Soldaten, die den Befehl erhalten hatten, „zu schießen, um zu töten“, EGMR, 1995, Serie A, Bd. 324 Nrn. 211–214 = ÖJZ 1996, 233 – McCann u. a./Vereinigtes Königreich). [251] Es darf schließlich nicht übersehen werden, dass der Tod von Carlo Giuliani bei einer Massendemonstration eingetreten ist. Die Konventionsstaaten müssen zwar vernünftige und angemessene Maßnahmen treffen, um den friedlichen Ablauf rechtmäßiger Demonstrationen und die Sicherheit aller Bürger zu gewährleisten. Das können sie aber nicht absolut garantieren, und sie haben einen weiten Ermessensspielraum bei der Wahl der zu diesem Zweck anzuwendenden Mittel. Die Verpflichtung, die sie nach Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) haben, bezieht sich insoweit auf die Mittel, nicht auf das Ergebnis (s. EGMR, 1988, Serie A, Bd. 139 Nr. 34 = EGMR-E 4, 117 – Plattform „Ärzte für das Leben“/Österreich; EGMR, Urt. v. 5. 12. 2006 – 74552/01 Nr. 35 – Oya Ataman/Türkei; EGMR, Urt. v. 24. 2. 2009 – 16084/90 Nr. 108 – Protopapa/Türkei). Wichtig ist aber, dass vorsorgliche Sicherungsmaßnahmen, wie Einrichtungen zur Ersten Hilfe an Versammlungs- oder Demonstrationsorten getroffen werden, um einen guten Ablauf eines solchen Ereignisses zu gewährleisten, sei es politischer, kultureller oder sonstiger Art (s. EGMR, Urt. v. 5. 12. 2006 – 74552/01 Nr. 39 – Oya Ataman/Türkei). Solange die Demonstranten keine Gewalttaten begehen, müssen die Behörden bei friedlichen Versammlungen eine gewisse Toleranz bewahren, damit die in Art. 11 EMRK garantierte Versammlungsfreiheit nicht bedeutungslos wird (s. EGMR, Urt. v. 7. 10. 2008 – 5529/05 Nr. 43 – Patyi/Ungarn). Andererseits ist ein Eingriff in dieses Recht grundsätzlich zur Aufrechterhaltung der Ordnung, der Verhütung von Straftaten und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gerechtfertigt, wenn Demonstranten Gewalttaten begehen (s. EGMR, Urt. v. 24. 2. 2009 – 16084/90 Nr. 109 − Protopapa/Türkei). b) Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall … [255] Die Regierung hat eine große Zahl von Polizisten eingesetzt (18 000 Polizisten …), die alle spezialisierten Einheiten angehörten oder eine ad-hoc-Ausbildung über die Massendemonstrationen erhalten hatten. Insbesondere P hatte Aufrechterhaltung der an Ausbildungskursen Ordnung bei in Vellitri … teilgenommen (… s. a contrario EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 70 = NJW 2005, 3405 – Makaratzis/Griechenland). Bei dieser sehr großen Zahl eingesetzter Polizisten kann man nicht verlangen, dass jeder einzelne über eine lange Erfahrung verfügt oder mehrere Monate oder Jahre an Ausbildungskursen teilgenommen hat. Anderenfalls würde man dem Staat eine unverhältnismäßige und unrealistische Verpflichtung auferlegen. Außerdem muss, wie die Regierung zutreffend vorträgt …, zwischen Angelegenheiten unterschieden werden, in denen die Sicherheitskräfte mit einem genauen und identifizierbaren Ziel zu tun haben (s. z. B. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 324 = ÖJZ 1996, 233 – McCann u. a./Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 1997-VI – Andronicou u. Constantinou/Zypern), und solchen, wo es darum geht, die Ordnung bei möglichen Unruhen, die auf einem so großen Gebiet wie einer ganzen Stadt entstehen können, wie das hier der EGMR: Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua (NVwZ 2011, 1441) 1446 Fall war. Nur bei der zuerst genannten Fallgruppe kann erwartet werden, dass alle beteiligten Polizisten für die ihnen zugewiesene Aufgabe hoch spezialisiert sind. [256] Eine Verletzung von Art. 2 EMRK kann also nicht allein darin gesehen werden, dass ein Polizist wie P ausgewählt worden ist, der damals erst 20 Jahre und elf Monate alt war und nur zehn Monate im Dienst. … Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Verhalten von P während des Angriffs auf den Jeep Art. 2 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 9 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... EMRK in materieller Hinsicht nicht verletzt hat (oben Nrn. 194, 195). Es ist nicht bewiesen, dass er unüberlegt oder ohne klare Befehle gehandelt hätte (s. a contrario EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 70 = NJW 2005, 3405 – Makaratzis/Griechenland). [257] Zu prüfen bleibt, ob die auf der Piazza Alimonda unmittelbar vor dem Angriff der Demonstranten auf den Jeep getroffenen Entscheidungen die Verpflichtung zum Schutz des Lebens verletzt haben. Insoweit muss der Gerichtshof die Informationen zu Grunde legen, über welche die Behörden im Zeitpunkt der Entscheidung verfügt haben. Zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Hinweis darauf, dass Carlo Giuliani mehr als andere Demonstranten oder anwesende Personen mögliches Ziel eines tödlichen Angriffs war. Die Behörden hatten deswegen nicht die Pflicht, ihn persönlich oder besonders zu schützen, sondern mussten nur ein Verhalten vermeiden, das allgemein das Leben oder die körperliche Unversehrtheit jeder betroffenen Person offensichtlich gefährden würde. [258] Dass die Sicherheitskräfte in einer Notsituation, wie sie nach den Vorfällen vom 20. 7. 2001 bestand, ungepanzerte Fahrzeuge benutzten, um verletzten Polizisten Schutz zu bieten, ist nachvollziehbar. Ebenso war nicht unvernünftig, die Fahrer der Fahrzeuge nicht anzuweisen, sofort in ein Krankenhaus zu fahren. Das hätte sie der Gefahr ausgesetzt, ohne Schutz einen Teil der Stadt zu durchfahren, in dem weitere Unruhen entstehen konnten. Vor dem Angriff in der Via Caffa, der, wie der Gerichtshof festgestellt hat, plötzlich und gänzlich unvorhersehbar war …, schien alles darauf hinzuweisen, dass die Jeeps auf der Piazza Alimonda besser geschützt waren, wenn sie nahe einer Polizeieinheit hielten. Außerdem gibt es in den Akten keinen Hinweis darauf, dass der körperliche Zustand der Polizisten in dem Jeep so ernst war, dass sie sofort und unmittelbar in das Krankenhaus gebracht werden müssten. Es handelte sich überwiegend um Polizisten, die an den Folgen einer langen Einwirkung von Tränengas litten. [259] Die Jeeps sind dann der Abteilung von Polizisten gefolgt, die sich zur Via Caffa begab. Aus welchen Gründen das geschehen ist, ergibt sich nicht eindeutig aus den Akten. Möglicherweise war dies ein Manöver, mit dem vermieden werden sollte, abgeschnitten zu werden, was, wie die weiteren Ereignisse zeigen, außerordentlich gefährlich sein konnte. Außerdem ist das Manöver in einem Moment gemacht worden, in dem nichts darauf hingewiesen hat, dass die Demonstranten die Polizisten zwingen könnten, wie es dann geschehen ist, sich schnell und ungeordnet zurückzuziehen, was die Jeeps dazu veranlasst hat, rückwärts zu fahren, und das hatte zur Folge, dass einer von ihnen blockiert wurde. Die unmittelbare Ursache dafür war der gewalttätige und illegale Angriff der Demonstranten. Diesen unvorhersehbaren Ereignissen konnte offenbar keine operative Entscheidung der Sicherheitskräfte im Vorfeld Rechnung tragen. Dass das gewählte Kommunikationssystem einen Austausch nur zwischen den Kommandozentralen der Polizei und der Carabinieri ermöglichte und keinen direkten Funkkontakt zwischen deren Angehörigen … genügt allein nicht, auf das Fehlen einer klaren Kommandostruktur zu schließen, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Gefahr erhöhen kann, dass Polizisten unüberlegt handeln. P unterstand den Befehlen und Instruktionen seiner anwesenden Vorgesetzten. [260] Im Übrigen ist nicht erkennbar, warum der Umstand, dass P verletzt war und als dienstunfähig angesehen wurde, die Vorgesetzten dazu hätten veranlassen sollen, ihm die Waffe wegzunehmen. Sie war ein angemessenes Mittel der Selbstverteidigung, um möglichen gewalttätigen und plötzlichen Angriffen mit unmittelbarer und ernster Lebensgefahr zu begegnen. Dazu ist die Waffe dann ja auch tatsächlich benutzt worden. [261] Was schließlich die Ereignisse nach dem tödlichen Schuss angeht … beweist nichts, dass die Carlo Giuliani geleistete Hilfe unzulänglich oder verspätet war oder dass er absichtlich mit dem Jeep überfahren worden wäre. Der Autopsie-Bericht … ergibt jedenfalls, dass die durch den von P abgegebenen Schuss verursachte Hirnverletzung so schwer war, dass sie den Tod binnen weniger Minuten herbeigeführt hat. [262] Aus diesen Gründen haben die italienischen Behörden ihre Verpflichtung nicht verletzt, alles zu tun, was man vernünftigerweise von ihnen erwarten konnte, um den bei einer Polizeioperation mit der Gefahr tödlicher Gewaltanwendung erforderlichen Schutz zu gewährleisten. Deswegen ist Art. 2 EMRK wegen der Organisation und Planung der Polizeioperation während des G-8-Gipfels in Genua und der tragischen Ereignisse auf der Piazza Alimonda nicht verletzt. II. Behauptete Verletzung von Art. 2 EMRK in verfahrensrechtlicher Hinsicht [263] Die Bf. tragen vor, der italienische Staat habe in vielfacher Hinsicht versäumt, die Verfahrenspflichten 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 10 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... aus Art. 2 EMRK zu erfüllen. Die Regierung widerspricht. … B. Beurteilung durch den Gerichtshof I. Grundsätze [298] Aus Art. 2 und 3 EMRK ergibt sich wegen ihres grundlegenden Charakters eine Verfahrenspflicht, wirksame Ermittlungen über behauptete materielle Verletzungen dieser Vorschrift anzustellen (s. EGMR, Slg. 1998-IV Nr. 82 – Ergi/Türkei; EGMR, Slg. 1998-VIII Nrn. 101–106 – Assenov u. a./Bulgarien; EGMR, Slg. 2002-VIII Nr. 89 = NJW 2003, 3259 – Masttromateo/Italien). Ein Gesetz, das Repräsentanten des Staates allgemein verbietet, willkürlich zu töten, wäre in der Tat praktisch wirkungslos, wenn es kein Verfahren gäbe, in dem die Rechtmäßigkeit der Anwendung tödlicher Gewalt durch staatliche Behörden und Gerichte geprüft werden kann. Aus der Verpflichtung der Staaten nach Art. 2 EMRK, das Recht auf Leben zu schützen, in Verbindung mit der allgemeinen Pflicht der Staaten nach Art. 1 EMRK, „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I (der Konvention) bestimmten Rechte und Freiheiten“ zuzusichern ergibt sich auch ohne ausdrückliche Regelung die weitere Pflicht, wirksame amtliche Ermittlungen anzustellen, wenn Personen durch Gewaltanwendung insbesondere durch staatliche Bedienstete ums Leben gekommen sind (s. EGMR, 1995, Serie A, Bd. 324 Nr. 161 = ÖJZ 1996, 233 – McCann u. a./Vereinigtes Königreich). Der Staat muss also mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine angemessene Reaktion sicherstellen, gerichtlich oder sonst, damit der rechtliche und verwaltungsmäßige Rahmen zum Schutz des EGMR: Tötung eines Demonstranten auf dem G-8-Gipfel 2001 in Genua (NVwZ 2011, 1441) 1447 Lebens wirksam ins Werk gesetzt wird und Verletzungen des Rechts verhindert und bestraft werden (s. EGMR, Urt. v. 7. 7. 2009 – 58447/00 Nr. 34 – Zavoloka/Lettland). [299] Der Gerichtshof sieht die Verpflichtung des Staats, wirksame Ermittlungen durchzuführen, in seiner Rechtsprechung als eine Pflicht an, die sich auch aus Art. 2 EMRK ergibt, der insgesamt verlangt, dass das Recht auf Leben „gesetzlich geschützt“ wird. Wenn auch ein Verstoß dagegen für das in Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) garantierte Recht Bedeutung haben kann, ist die Verfahrenspflicht aus Art. 2 EMRK eine davon zu unterscheidende Verpflichtung (s. EGMR, Slg. 2000-VII Nrn. 91–92 – Ilhan/Türkei; EGMR, Slg. 2004-XII Nr. 148 – Öneryildiz/Türkei; EGMR, Urt. v. 9. 4. 2009 – 71463/01 Nrn. 153–154 – Silih/Slowenien). Bei einem Verstoß dagegen kann das eine gesonderte und selbstständige Feststellung eines „Eingriffs“ zur Folge haben. Denn der Gerichtshof hat die Verfahrenspflicht stets getrennt von der Achtung der materiellen Verpflichtung geprüft und gegebenenfalls eine gesonderte Verletzung von Art. 2 EMRK in verfahrensrechtlicher Hinsicht festgestellt. Häufig wird eine Verletzung der Verfahrenspflicht auch ohne Verletzung der Vorschrift in materieller Hinsicht gerügt (s. EGMR, Urt. v. 9. 4. 2009 – 71463/01 Nrn. 158–159 – Silih/Slowenien). [300] Allgemein gilt, dass Ermittlungen über eine behauptete ungerechtfertigte Tötung durch Bedienstete des Staats nur wirksam sind, wenn die dafür zuständigen Personen von denen unabhängig sind, die an dem Vorfall beteiligt waren (s. u. a. EGMR, Slg. 1998-IV Nrn. 81–82 – Gülec/Türkei; EGMR, Slg. 1999-III Nrn. 91–92 = NJW 2001, 1991 – Ogur/Türkei). Das bedeutet nicht nur, dass es eine hierarchische oder institutionelle Abhängigkeit nicht geben darf, sondern auch, dass die ermittelnden Personen in der Praxis unabhängig sein müssen. Dabei geht es letztlich um das Vertrauen der Öffentlichkeit in das staatliche Gewaltmonopol (s. EGMR, Urt. v. 4. 5. 2001 – 24746/94 Nr. 106 – Hugh Jordan/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2007-VI Nr. 325 – Ramsahai u. a./Niederlande; EGMR, Urt. v. 5. 11. 2009 – 1108/02 Nr. 193 – Kolevi/Bulgarien). [301] Die Ermittlungen müssen außerdem wirksam in dem Sinne sein, dass sie zu einer Entscheidung darüber führen können, ob die Gewaltanwendung unter den Umständen des Falls gerechtfertigt war (s. EGMR, Slg. 1998-I Nr. 87 – Kaya/Türkei), und sie müssen zur Identifizierung und gegebenenfalls Bestrafung der Verantwortlichen führen können (s. EGMR, Slg. 1999-III Nr. 88 = NJW 2001, 1990 – Ogur/Türkei). Die Verpflichtung bezieht sich nicht auf das Ergebnis, sondern auf die Mittel. Die Behörden müssen die ihnen zur Verfügung stehenden angemessenen Maßnahmen getroffen haben, um Beweise über das Ereignis zu sichern, einschließlich z. B. die Aussage von Augenzeugen, Sachverständigengutachten und gegebenenfalls eine Autopsie mit einem vollständigen und genauen Bericht über Verletzungen und eine objektive Analyse der klinischen Befunde, insbesondere über die Todesursache (s. EGMR, Slg. 2000-VII Nr. 106 = NJW 2001, 2001 – 08.12.2015 15:58 NVwZ 2011, 1441 - beck-online 11 von 11 https://beck-online.beck.de/default.aspx?printmanager=print&VPATH... Salman/Türkei; wegen Zeugen s. u. a. EGMR, Slg. 1999-IV Nr. 109 – Tanrikulu/Türkei; für Gutachten s. u. a. EGMR, Urt. v. 14. 12. 2000 – 22676/93 Nr. 89 – Gül/Türkei). Jeder Mangel der Ermittlungen, der ihre Eignung zur Feststellung der Todesursache oder der Verantwortlichen mindert, kann eine Verletzung dieser Anforderungen bedeuten (s. EGMR, Slg. 2001-VII Nrn. 393–395 – Avsar/Türkei). [302] Die Ermittlungsergebnisse müssen sich auf eine genaue, objektive und unparteiische Analyse aller wesentlichen Umstände stützen. (Wird ausgeführt.) [303] Das Ermittlungsverfahren muss außerdem für die Familie des Opfers in einem Maß zugänglich sein, wie das notwendig ist, um ihre berechtigten Interessen zu schützen. (Wird ausgeführt.) [304] Die Zugänglichkeit oder Veröffentlichung von Polizeiberichten kann aber zur Folge haben, dass sensible Tatsachen mit schädigenden Folgen für Personen oder andere Ermittlungen veröffentlicht werden. Sie kann deswegen nicht als Verpflichtung angesehen werden, die sich automatisch aus Art. 2 EMRK ergibt. Der erforderliche Zugang der Öffentlichkeit oder der Verwandten des Opfers kann deswegen in anderen Verfahrensstadien gewährt werden. (Wird ausgeführt.) [305] Für die Verpflichtung gilt weiter das Erfordernis der Schnelligkeit und angemessenen Beschleunigung. (Wird ausgeführt.) [306] Aus Art. 2 EMRK folgt aber kein Recht darauf, dass Dritte strafrechtlich verfolgt oder verurteilt werden (s. EGMR, Urt. v. 9. 4. 2009 – 71463/01 Nr. 194 – Silih/Slowenien; mutatis mutandis EGMR, Slg. 2004-I Nr. 70 – Perez/Frankreich), und keine absolute Verpflichtung, dass Ermittlungen mit einer Verurteilung enden oder gar mit einer bestimmten Strafe (s. EGMR, Urt. v. 7. 7. 2009 – 58447/00 Nr. 34 c – Zavoloka/Lettland). Andererseits dürfen die staatlichen Gerichte keinesfalls Straftaten gegen das Leben unbestraft lassen. Der Gerichtshof muss also prüfen, ob und inwieweit die Gerichte bei ihrer Entscheidung den Fall so sorgfältig geprüft haben, wie das Art. 2 EMRK verlangt, so dass die abschreckende Wirkung der Strafjustiz und die Bedeutung der Aufgaben, die sie bei der Verhinderung von Verletzungen des Rechts auf Leben erfüllen muss, nicht gemindert werden (s. EGMR, Slg. 2004-XII Nr. 96 – Öneryildiz/Türkei; EGMR, Urt. v. 24. 3. 2009 – 11818/02 Nr. 53 – Mojsiejew/Polen). II. Anwendung im vorliegenden Fall (zusammengefasst) [307] [–] [325] Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die italienischen Behörden und Gerichte ihre Ermittlungspflicht nicht verletzt haben, so dass Art. 2 EMRK auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht verletzt ist. (Übersetzt und bearbeitet von Dr. Jens Meyer-Ladewig, Wachtberg, und Professor Dr. Herbert Petzold, Straßburg) Anm. d. Schriftltg.: Dem Urteil ist eine gemeinsame teilweise abweichende Meinung der Richter Rozakis, Tulkens, Zupancic, Gyulumyan, Ziemele, Kalaydijeva und Karakas, eine gemeinsame teilweise abweichende Meinung der Richter Tulkens, Zupancic, Gyulumyan und Karakas sowie eine gemeinsame teilweise abweichende Meinung der Richter Tulkens, Zupancic, Ziemele und Kalaydijeva beigefügt (Art. 45II EMRK, Art. 74II VerfO). 08.12.2015 15:58 CPT/Inf/E (2002) 1 - Rev. 2015 English European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) CPT standards “Substantive” sections of the CPT’s General Reports 43 ii) confidentiality 50. Medical secrecy should be observed in prisons in the same way as in the community. Keeping patients' files should be the doctor's responsibility. 51. All medical examinations of prisoners (whether on arrival or at a later stage) should be conducted out of the hearing and - unless the doctor concerned requests otherwise - out of the sight of prison officers. Further, prisoners should be examined on an individual basis, not in groups. d. Preventive health care 52. The task of prison health care services should not be limited to treating sick patients. They should also be entrusted with responsibility for social and preventive medicine. i) hygiene 53. It lies with prison health care services - as appropriate acting in conjunction with other authorities - to supervise catering arrangements (quantity, quality, preparation and distribution of food) and conditions of hygiene (cleanliness of clothing and bedding; access to running water; sanitary installations) as well as the heating, lighting and ventilation of cells. Work and outdoor exercise arrangements should also be taken into consideration. Insalubrity, overcrowding, prolonged isolation and inactivity may necessitate either medical assistance for an individual prisoner or general medical action vis-à-vis the responsible authority. ii) transmittable diseases 1 54. A prison health care service should ensure that information about transmittable diseases (in particular hepatitis, AIDS, tuberculosis, dermatological infections) is regularly circulated, both to prisoners and to prison staff. Where appropriate, medical control of those with whom a particular prisoner has regular contact (fellow prisoners, prison staff, frequent visitors) should be carried out. 55. As regards more particularly AIDS, appropriate counselling should be provided both before and, if necessary, after any screening test. Prison staff should be provided with ongoing training in the preventive measures to be taken and the attitudes to be adopted regarding HIVpositivity and given appropriate instructions concerning non-discrimination and confidentiality. 56. The CPT wishes to emphasise that there is no medical justification for the segregation of an HIV+ prisoner who is well.2 1 See also “Imprisonment”, section “transmissible diseases”. Subsequently reformulated as follows: there is no medical justification for the segregation of a prisoner solely on the grounds that he is HIV positive. 2 44 iii) suicide prevention 57. Suicide prevention is another matter falling within the purview of a prison's health care service. It should ensure that there is an adequate awareness of this subject throughout the establishment, and that appropriate procedures are in place. 58. Medical screening on arrival, and the reception process as a whole, has an important role to play in this context; performed properly, it could identify at least certain of those at risk and relieve some of the anxiety experienced by all newly-arrived prisoners. Further, prison staff, whatever their particular job, should be made aware of (which implies being trained in recognising) indications of suicidal risk. In this connection it should be noted that the periods immediately before and after trial and, in some cases, the pre-release period, involve an increased risk of suicide. 59. A person identified as a suicide risk should, for as long as necessary, be kept under a special observation scheme. Further, such persons should not have easy access to means of killing themselves (cell window bars, broken glass, belts or ties, etc). Steps should also be taken to ensure a proper flow of information - both within a given establishment and, as appropriate, between establishments (and more specifically between their respective health care services) - about persons who have been identified as potentially at risk. iv) prevention of violence 60. Prison health care services can contribute to the prevention of violence against detained persons, through the systematic recording of injuries and, if appropriate, the provision of general information to the relevant authorities. Information could also be forwarded on specific cases, though as a rule such action should only be undertaken with the consent of the prisoners concerned. 61. Any signs of violence observed when a prisoner is medically screened on his admission to the establishment should be fully recorded, together with any relevant statements by the prisoner and the doctor's conclusions. Further, this information should be made available to the prisoner. The same approach should be followed whenever a prisoner is medically examined following a violent episode within the prison (see also paragraph 53 of the CPT's 2nd General report: CPT/Inf (92) 3) or on his readmission to prison after having been temporarily returned to police custody for the purposes of an investigation. 62. The health care service could compile periodic statistics concerning injuries observed, for the attention of prison management, the Ministry of Justice, etc. 45 v) social and family ties 63. The health care service may also help to limit the disruption of social and family ties which usually goes hand in hand with imprisonment. It should support - in association with the relevant social services - measures that foster prisoners' contacts with the outside world, such as properly-equipped visiting areas, family or spouse/partner visits under appropriate conditions, and leaves in family, occupational, educational and socio-cultural contexts. According to the circumstances, a prison doctor may take action in order to obtain the grant or continued payment of social insurance benefits to prisoners and their families. e. Humanitarian assistance 64. Certain specific categories of particularly vulnerable prisoners can be identified. Prison health care services should pay especial attention to their needs. i) mother and child 65. It is a generally accepted principle that children should not be born in prison, and the CPT's experience is that this principle is respected. 66. A mother and child should be allowed to stay together for at least a certain period of time. If the mother and child are together in prison, they should be placed in conditions providing them with the equivalent of a creche and the support of staff specialised in post-natal care and nursery nursing. Long-term arrangements, in particular the transfer of the child to the community, involving its separation from its mother, should be decided on in each individual case in the light of pedo-psychiatric and medico-social opinions. ii) adolescents 67. Adolescence is a period marked by a certain reorganisation of the personality, requiring a special effort to reduce the risks of long-term social maladjustment. While in custody, adolescents should be allowed to stay in a fixed place, surrounded by personal objects and in socially favourable groups. The regime applied to them should be based on intensive activity, including socio-educational meetings, sport, education, vocational training, escorted outings and the availability of appropriate optional activities.
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