Anita Schneider, Landrätin des Landkreises Gießen Zunächst vielen

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Anita Schneider, Landrätin des Landkreises Gießen
Zunächst vielen Dank für die Einladung zur heutigen Fachtagung „Schluss mit der Tabuisierung –
Alphabetisierung in Hessen stärken“.
Ein Thema, dessen Brisanz für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit der
Vorstellung einer Studie der Universität Hamburg zum „Analphabetismus in Deutschland“ deutlich
wurde. Die im Jahre 2011 vorgestellte Studie benennt die schockierend hohe Zahl von 7,5
Millionen sogenannten funktionalen Analphabeten in Deutschland.
Dieser hohen Zahl gegenüber stehen neue Herausforderungen, die eine sich kontinuierlich
verändernde Arbeitswelt mit sich bringt. Wir wissen, dass die Arbeitswelt mehr Anforderungen an
die Bildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stellt, dass viele Tätigkeiten einem ständigen
Wandel unterliegen und eine kontinuierliche Weiterbildung verlangen. Wir sprechen in diesem
Zusammenhang von einem „lebenslangen Lernen“.
Doch wie sollen jene, mit gravierenden Grundbildungsdefiziten, diesen Veränderungen in der
Arbeitswelt trotzen? Wie sich weiterbilden, wenn ihnen hierfür die Grundvoraussetzungen fehlen?
Diese wichtigen Fragen, werden von Politik und Wirtschaft noch zu wenig wahrgenommen und
bearbeitet.
Warum ist das so? Liegt es daran, dass die Betroffenen ihre Situation selbst nicht thematisieren,
sondern viel mehr versuchen ihre Schriftschwäche, wie Bernhardt Rosenbladt den
Analphabetismus nennt, zu verheimlichen und mit viel Fantasie und Kreativität der Stigmatisierung
„Mensch, der kann nicht lesen und schreiben“ zu entgehen?
„Mein Leben lang hab ich Verstecken gespielt“, berichtet eine 66 Jahre alte Teilnehmerin an einem
Alphabetisierungskurs. Als sie in der Großküche arbeitete, kreuzte sie Bestellzettel an - kein
Kollege bemerkte, dass sie nicht Lesen und Schreiben konnte. Mit Hilfe ihres Mannes prägte sie
sich zu Hause Fahrpläne ein und bestieg stets den richtigen Bus. Der Fernseher informierte sie
und die „Bild“ mit ihren Fotos. Sie nahm ihre Tochter mit, als sie im Personalbüro ihren Lebenslauf
schreiben musste. Legte eine Gipsschiene an, als sie den Personalausweis beantragte. Hatte die
Brille vergessen, als sie das nächste Mal am Schalter stand. „Man kommt überall durch“, sagt sie.
Nur sich selbst täuschen kann man nicht.
Dieser kleine Bericht unterstreicht, wie schwierig es für die Betroffenen ist, ihren Alltag zu
meistern, aber auch wir sehr das Selbstwertgefühl der betroffenen Menschen darunter leidet. Eine
uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe bleibt vielen verwehrt. So zum Beispiel rund 550.000
Menschen in Hessen, rund 153.000 in Mittelhessen und rund 19.000 Menschen im Landkreis
Gießen.
Doch diese Gruppe von Betroffenen ist keineswegs homogen, dies zeigt Bernhard Rosenbladts
Analyse. Er spricht deshalb auch von einer Schriftschwäche, die es erlaubt, den Grad der
individuellen Schriftschwäche zu identifizieren. Nach Rosenbladts Analyse sprechen
Ó knapp 60 Prozent der Personen, die eine Schriftschwäche aufweisen, Deutsch als
Muttersprache.
Ó Das Vorliegen von Schriftschwäche ist ebenso nicht gleichbedeutend mit einem fehlenden
Schulabschluss. Vielmehr zeigt sich, dass selbst bei Personen mit hochgradiger
Schriftschwäche zwei Drittel einen Schulabschluss besitzen.
Ó Darüber hinaus konnte immerhin die Hälfte der Betroffenen eine berufliche Ausbildung
abschließen, wobei es sich meist um „schriftarme“ Tätigkeiten handelt bzw. um un- und
angelernte Tätigkeiten.
Ó Schriftschwäche, so stellt Rosenbladt fest, ist zudem ein weitgehend altersunabhängiges
Phänomen.
Wir haben es also mit einem sehr heterogenen und komplexen Thema zu tun. Zum einen ist die
Personengruppe nicht über einen „Kamm zu scheren“, zum anderen ergeben sich vielfältige
Herausforderungen, gerade mit Blick auf den Arbeitsmarkt.
Der demografische Wandel wird den Arbeitsmarkt schneller und grundlegender verändern, als
vielfach angenommen. Bereits heute reden wir über einen Wettbewerb unter Unternehmen um
Auszubildende und über das Thema Fachkräftesicherung. Wird es in einzelnen Regionen
Deutschlands in Zukunft noch genügend Fachkräfte geben? Wird die Verfügbarkeit von
Fachkräften in den Regionen über deren wirtschaftliche Entwicklungen entscheiden? Zumindest
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sind die verantwortlichen Kommunal- und Kreispolitiker gut beraten, sich hierüber Gedanken zu
machen.
Zu den Potenzialen zur Sicherung von Fachkräften zählt
Ó die Ausbildung,
Ó gehört die Aktivierung von Frauen für den Arbeitsmarkt,
Ó sowie die Anerkennung von ausländischen Berufs- und Studienabschlüssen,
Ó die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt,
Ó aber auch das Thema Nachqualifizierung.
Wir haben nach wie vor einen hohen Anteil an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ohne
Berufsabschlüsse. Diese im Beruf fortzubilden und zu Berufsabschlüssen zu führen, ist ein
Bundesprojekt, an dem der Landkreis Gießen derzeit teilnimmt. Hierbei wurden schon Erfolge im
Bereich der Metallindustrie erzielt, aber auch im Bereich der Altenpflege werden wir demnächst mit
einem Projekt starten.
Um nun allen Interessierten eine Chance auf Nachqualifizierung zu geben, müssen wir uns auch
jenen Menschen zu wenden, die aufgrund einer Schriftschwäche Probleme hätten, sich an einer
solchen Nachqualifizierung zu beteiligen. Deshalb werden der Landkreis und die Stadt Gießen nun
in einem neuen Projekt Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltungen und Gesellschaften
mit kommunaler Beteiligung eine nachholende Alphabetisierung und eine arbeitsplatzorientierte
Grundbildung anbieten. Gezielt angesprochen werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
insbesondere in Bereichen tätig sind, in denen vor allen Dingen angelernte Tätigkeiten verrichtet
werden. Dieses Bildungsangebot wird zusammen mit den VHS Landkreis Gießen und VHS der
Stadt Gießen sowie der landkreiseigenen Beschäftigungsgesellschaft ZAUG gGmbH durchgeführt.
Dies sind erste Schritte, die dazu beitragen können
Ó den betroffenen Menschen neue Chancen zu eröffnen
Ó als Arbeitgeber beispielgebend zu agieren und damit andere dazu aufzufordern, sich mit
diesem Thema auseinander zu setzen
Ó und dem Thema hierdurch eine positive Öffentlichkeit zu geben.
Ausgehend von diesem Projekt sind bei mir auch weitere Ideen gereift. So könnte auch eine
intensivere Zusammenarbeit mit dem JobCenter Gießen dazu führen, dass wir langzeitarbeitslosen
Menschen mit Schriftschwäche gezielte Kurse anbieten. Eine Zusammenarbeit mit den
Volkshochschulen und der ZAUG wäre auch hier denkbar.
Bei allen Ansätze wird ein Aspekt entscheidend für den Erfolg sein: die Zusammenarbeit. Eine
Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung kann nur erfolgreich sein, wenn Bund, Länder und
Kommunen sowie weitere wirtschaftliche Akteure wie Unternehmensverbände, Unternehmen,
Arbeitsagenturen und Bildungseinrichtungen eng zusammenarbeiten. Es bedarf zudem einer
intensiven Öffentlichkeit für dieses Thema. Das Thema muss positiv und sensibel in der
Öffentlichkeit erörtert werden.
Wir dürfen zudem nicht die Kinder und Jugendlichen vergessen.
Wir müssen die Zahl der Schulabgänger ohne Schulabschluss weiterhin verringern und müssen
uns noch intensiver um die Risikogruppen bereits in den Schulen kümmern. Die Zahlen der
neusten OECD-Studie sind hier alarmierend. 20 Prozent der 15-Jährigen haben eine ungenügende
Textkompetenz.
Nur mit umfassenden Maßnahmen, einer ausreichenden Finanzierung, einer engen
Zusammenarbeit der verschiedensten Akteure und einer offenen Diskussion kann es uns gelingen,
das zu erzeugen, was Frau Anette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung, sich
wünscht: „Ein Klima, in dem die Betroffenen die Hilfe, die ihnen angeboten wird, gerne und ohne
Scham annehme.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine anregende, Ideen gebende und letztlich aktivierende
Veranstaltung.