Mauro Dell`Ambrogio verwaltet als Staatssekretär - Migros

26 | MM37, 7.9.2015 | MENSCHEN
Interview
«Die Stärke
unseres
Berufssystems
besteht darin,
dass es sich selber
reguliert»
Mauro Dell’Ambrogio verwaltet als Staatssekretär für Bildung, Forschung und
Innovation ein Budget von rund 7 Milliarden Franken. Er ist überzeugt,
dass der Bund nicht zu zentralistisch steuern darf und der Lehrplan 21 Sache
der Kantone ist. Besonders stolz ist der siebenfache Vater auf seine
Tochter, die sich als selbständige Coiffeuse nicht vom Staat bezahlen lasse.
Text: Andrea Freiermuth, Reto E. Wild
Bilder: Michael Sieber
MENSCHEN | MM37, 7.9.2015 | 27
170 Millionen Franken
zahlen wir pro Jahr für die
europäische Raumfahrt.
Dell’Ambrogio: «Für die
Schweiz ein guter Deal.»
28 | MM37, 7.9.2015 | MENSCHEN
Mauro Dell’Ambrogio, wie war Ihr
Studentenleben?
Erfolgreich. Ich hatte immer beste Noten
und habe alles in Rekordzeit absolviert.
Mauro Dell’Ambrogio:
«Ich finde die Idee gut, nur
Studierende, die arbeiten,
zum Master zuzulassen.»
Haben Sie gearbeitet neben dem Studium?
Ja, als Aushilfslehrer an Tessiner Gymna­
sien. Ich habe von Sport über Mathematik
bis Griechisch praktisch alles unterrichtet.
Sie sind ein Verfechter eines TeilzeitMasters: Geht das auch auf Ihre eigenen
Erfahrungen zurück?
Arbeit ist die beste Art zu lernen. Deshalb
finde ich die Idee gut, nur Studierende, die
gleichzeitig arbeiten, zum Master zuzulas­
sen. Berufsbegleitende Studiengänge sind an
den Fachhochschulen die besten. Das würde
dem Fachkräftemangel vorbeugen.
Hier wäre das Bildungssystem gefordert,
den richtigen Nachwuchs zu stellen.
Unser System stützt sich erstens auf die
freie Wahl des Individuums. Zweitens ist es
unmöglich vorauszusagen, was die Wirt­
schaft übermorgen braucht. Vor acht Jahren
schrie noch alles nach Finanzspezialisten,
und die ETH­Absolventen fehlten der
Industrie. Sie wurden von den Banken abge­
worben.
4000 Maturanden melden sich jährlich
für ein Medizinstudium an. Es gibt aber
nur 1200 Studienplätze. Nicht einmal
jeder Dritte, der Arzt werden möchte,
kann studieren.
Der Ärztemangel ist ein Beispiel dafür, was
passiert, wenn der Staat plant. Man war vor
20 Jahren überzeugt: Wenn wir die Gesund­
heitskosten in den Griff bekommen wollen,
müssen wir die Anzahl Ärzte einschränken.
Heute importieren wir viel mehr Ärzte aus
dem Ausland, als wir selber ausbilden.
Wie wollen Sie das Problem lösen?
In den letzten Jahren haben die Kantone die
Studienplätze um 30 Prozent erhöht, und
wir fördern eine weitere Erhöhung. Aber das
Studium dauert halt auch sechs Jahre.
Sie haben sieben inzwischen erwachsene
Kinder: Haben diese auch studiert?
Die Mehrheit hat eine Berufslehre absol­
viert. In der Familie galt: Entweder man
gehört zu den 20 Prozent Besten in der
Schule und studiert, oder man lernt einen
Beruf und entwickelt sich später weiter.
Eine meiner Töchter hat Coiffeuse gelernt.
Sie führt nun einen Salon und ist die Einzi­
ge, die selbständig ist. Sie lässt sich nicht
vom Staat bezahlen und ist ihre eigene
Chefin – auf sie bin ich besonders stolz.
Und dennoch haben viele Berufslehren ein
schlechtes Image.
Es gibt Berufe, die fast nur von Ausländern
ausgeübt werden – auch im europäischen
Ausland, wo die Arbeitslosenquote hoch ist.
Die grosse Herausforderung besteht darin,
diese Berufe attraktiv zu machen.
Wie wollen Sie vorgehen?
Die Stärke unseres Berufssystems besteht
darin, dass es sich selber reguliert. Die
Fleischbranche klagt nicht, der Staat liefere
zu wenig Nachwuchs. Sie schaut selber,
dass ihre Berufe attraktiver werden – mit
Technologie und besseren Arbeits­
bedingungen. Dies ist die effektivste Art und
Weise, um es zu versuchen.
Der Staat kann hier nicht viel machen?
Wir fahren die grosse Berufsbildungs­
kampagne und unterstützen Projekte. Vor­
wiegend sind die Berufsverbände gefordert.
Demgegenüber sollte der Staat sicher nicht
den Fehler machen, die Ansprüche ans
Gymnasium zu senken.
Ein Argument fürs Studium ist die Flexibilität. Mit einer breiten Allgemeinbildung
ist es meist einfacher, sich weiterzubilden.
Meist, ja. Aber Fachidioten gibt es auch
unter den Studenten. Wenn man sein ganzes
Leben in einem theoretischen System war,
heisst das nicht unbedingt, dass man flexibel
wird. Zudem gibt es Berufslehren, die
generalistische Fähigkeiten schulen. Ein
Verkäufer zum Beispiel versteht sehr viel
von Psychologie und Kommunikation.
Es wurde Ihnen vorgeworfen, dass sie sich
zu wenig um die Berufsverbände kümmerten und lieber ins Ausland reisten.
Die Mehrheit meiner Kinder hat eine
Berufslehre absolviert, und ich habe eine
Fachhochschule geleitet, also bitte! Ich lasse
mich nicht von Leuten unter Druck
setzen, die, oft mit Blick auf mehr Einfluss
und Geld, sagen, Dell’Ambrogio sei Akademiker und lebe im Elfenbeinturm. Letztes
Jahr war ich 30 Tage dienstlich im Ausland.
Das ist nicht überdurchschnittlich oft für
einen Staatssekretär.
Im ersten Halbjahr 2015 haben Sie
an zehn internationalen Konferenzen
teilgenommen.
Das Bildungswesen in der Schweiz ist föde­
ralistisch organisiert: Die Schule ist Sache
der Kantone. Die Hochschulen und die For­
schung sind autonom. Operative Aufgaben
hat mein Amt dagegen in der Berufsbildung
und ganz besonders in der internationalen
Zusammenarbeit. Bei allen internationalen
Organisationen und Programmen, bei denen
die Schweiz mitmacht, müssen wir die
Interessen der Schweiz vertreten.
Was heisst das konkret?
Wir zahlen zum Beispiel Beiträge für Teles­
kope der Europäischen Organisation für
Astronomie (ESO) oder arbeiten an den
Raketen der europäischen Weltraumagentur
(ESA) mit. Bei Letzterer hat die Schweiz das
Co­Präsidium der Minister. Wir müssen uns
regelmässig treffen, um namentlich stra­
tegische und finanzielle Fragen zu klären.
Mit welchem Betrag beteiligt sich die
Schweiz derzeit an der Raumfahrt?
170 Millionen Franken jährlich. Aber für die
Schweiz ist das ein guter Deal. Die ESA be­
MENSCHEN | MM37, 7.9.2015 | 29
Zur Person
zieht für rund 150 Millionen
Technologie von der Schweizer
Industrie, die für ein Mehrfaches
dieses Betrags ähnliche Produkte
an weitere Abnehmer liefert. Die
Hülle der «Ariane» wird in der
Schweiz hergestellt und dasselbe
Produkt unter anderem auch in die
USA exportiert. In diesem Bereich
machen wir gewissermassen
Industriepolitik.
Warum ist es so wichtig, dass die
Schweiz da mitmacht?
So bleiben wir an der Spitze, nicht
nur in Technologie und Know-how,
sondern auch wissenschaftlich.
Wir sind ein kleines Land, aber in
der Spitzenforschung ganz vorn
mit dabei. Der erste Exoplanet
wurde von Michel Mayor, einem
Genfer Forscher, entdeckt – mit
einem ESO-Teleskop in Chile. Die
Infrastruktur ist international,
aber der Ruhm fällt auf die Schweiz
zurück. Es geht letztlich um die
Attraktivität der Schweiz als
Standort für Talente und Unternehmen und um Arbeitsplätze.
Das Bildungssystem steht im
Zusammenhang mit der Digitali­
sierung vor einem gewaltigen
Umbruch: Wie treiben Sie die
nötigen Veränderungen voran?
Jeder kantonale Bildungsdirektor,
jeder Schulleiter und bald jeder
Lehrer stellt sich diese Frage. Die
Wahrheit dazu gibt es nicht. Was
wir auf Bundesstufe tun können,
ist, das System so innovationsfähig
wie möglich zu halten.
Wie konkret?
Wir dürfen nicht zu zentralistisch
steuern. Da ist die Berufsbildung
ein gutes Beispiel: Neue Berufe
entstehen in der Schweiz nicht,
weil das Ministerium glaubt,
es wäre gut, den Beruf x oder y zu
kreieren. Das macht die Arbeitswelt selber. Wir spielen den
Schiedsrichter – wenn es zum
Beispiel um die Diskussion geht,
ob ein Landschaftsgärtner anders
ausgebildet werden soll als ein
normaler Gärtner, mit allen
Konsequenzen bei den Inhalten
und Benennungen von Lehrgängen
und Diplomen.
In 13 von 21 Kantonen sind
Initiativen gegen den Lehrplan
21, also das Schulsystem inter­
kantonal zu harmonisieren, ge­
plant: Wie nehmen Sie da Ihre
Schiedsrichterrolle wahr?
Das ist eine interne Angelegenheit
der Deutschschweizer Kantone.
Die Verfassung gibt vor, was
im Bildungswesen in der ganzen
Schweiz harmonisiert sein soll:
das Schuleintrittsalter und die
Schulpflicht, die Dauer und Ziele
der Bildungsstufen und deren
Übergänge sowie die Anerkennung
von Abschlüssen. Wie die Kantone
unter sich harmonisieren, steht
ihnen frei. Da mischt sich der Bund
nicht ein. Es ist wie in der Natur:
Selektion in der Evolution kann
nur stattfinden, wenn es Mutationen und damit Unterschiede gibt.
Wenn wir von Beginn weg den
Unterschied töten, sterben wir aus.
Wäre es nicht Ihre Aufgabe,
beim Disput um den Lehrplan 21
einzugreifen?
Ich bin kein Pädagoge: Ich bin ein
Bürokrat, mein Staatssekretariat
verteilt Geld. Ich bin der Letzte,
der sagen könnte, was in Lehr­
plänen zu stehen hat. Ein Beispiel
dazu: Die ETH Zürich und die
ETH Lausanne gehören beide dem
Bund. Sie haben ganz unterschiedliche Haltungen, etwa zum Fernstudium. Und das ist gut. Nur so
sehen wir in 10 oder 20 Jahren, wer
recht hatte. Würde man sie gleichschalten, würde man vielleicht gar
nicht merken, dass man nicht auf
die beste Idee gesetzt hat – auch
weil sich die Politik schwertut,
Fehler einzugestehen.
Das hört sich so an, als ob in der
Schweiz alles gut sei und wir vom
Ausland nichts lernen könnten.
Ich will nicht so überheblich sein
und sagen, es gäbe nichts zu lernen. Aber die Innovationspolitik
der Schweiz besteht darin, dass wir
keine explizite haben.
Aber Ihr Departement für Bil­
dung, Forschung und Innovation
trägt diesen Begriff im Namen.
Die öffentliche Hand investiert
insgesamt um die 5 Milliarden in
die Forschung in der Schweiz, die
Firmen gut 11 Milliarden, wobei sie
weitere 25 Milliarden in die
Forschung ihrer Zweigniederlassungen im Ausland stecken. Das
heisst, wenn etwa unsere Gesundheits- oder Umweltpolitik ungünstige Rahmenbedingungen für die
Pharmaindustrie bestimmt, hat
dies einen viel grösseren Einfluss
auf die Schweiz als Forschungsstandort als die Entscheidungen in
meinem Kompetenzbereich.
Was ist Ihr nächstes Ziel?
Ich könnte Ihnen von einer Reihe
laufender Projekte erzählen. Aber
ich werde in drei Jahren pensioniert. Diese Projekte dauern
länger, und ich muss an meine
Nachfolge denken.
Wer Ihr Nachfolger wird, können
Sie nicht bestimmen.
Nein, natürlich nicht. Aber ich muss
schauen, dass das Amt unabhängig
von meiner Person gut funktionieren wird. Der neue Chef kann
im ersten Jahr vielleicht 10 Prozent
der Tätigkeiten beeinflussen.
Die Verwaltung ist wie ein Tanker.
Umso wichtiger wäre es, dass
jemand am Steuer sitzt, der
weiss, wo er hinfahren möchte.
Kein Schiff ist gleich zu führen.
Ich war Oberst im Militär und Chef
bei der Polizei im Tessin. Da galt
es, über Nacht Entscheide zu
fällen. In der Bildungspolitik
geht das nicht. Auch Forschungsprogramme dauern oft Jahrzehnte.
Was raten Sie Eltern, die sich
um die berufliche Zukunft ihrer
Kinder sorgen?
Uns geht es immer noch besser als
den meisten Ländern. Würden
sie in Syrien leben, hätten sie noch
ganz andere Probleme. Zweitens:
Die Planung einer Karriere
gelingt nicht besser, wenn die
Eltern drängen. Eltern können
Werte vermitteln, Leidenschaft für
etwas erzeugen und viel anderes
Positives mehr.
In einem Interview mit
Swissinfo.ch sagten Sie: «Wir
sollten nicht überbewerten, was
aus den Kindern wird.»
Heute setzen viele Eltern all ihre
Hoffnung in ein Einzelkind oder
vielleicht zwei. Was soll man tun:
Mehr Kinder zeugen? Ich habe
keine Antwort. Ich verstehe, dass
sich die Eltern sorgen. Aber zu viel
Sorge hilft den Kindern nicht.
Hatten Sie überhaupt Zeit für die
Erziehung Ihrer sieben Kinder?
Nur wenig, vielleicht sind sie
deswegen so schnell selbständig
geworden. MM
Richter,
Polizeichef,
Beamter
Mauro Dell’Ambrogio
(61) ist seit bald drei
Jahren Staatssekretär
für Bildung, Forschung
und Innovation (SBFI).
In dieser Funktion ist er
Chef von rund 300
Mitarbeitenden und
verwaltet circa 7 Milliar­
den Franken. Dem SBFI
obliegt die Führung
und die Finanzierung
des Bereichs der
Eidgenössischen Tech­
nischen Hochschulen,
die Regelung und die
Mitfinanzierung der
Fachhochschulen, der
Berufsbildung und der
Weiterbildung sowie
die Förderung der kan­
tonalen Universitäten.
Der Tessiner Dell’
Ambrogio erwarb nach
dem Doktorat das
Anwaltspatent. Er war
als Gemeinderat von
Giubiasco TI tätig und
Bezirksrichter von Bel­
linzona, Polizeikomman­
dant des Kantons Tessin
und Generalsekretär
im Tessiner Bildungs­
departement, wo er die
Gründung der Univer­
sität im Tessin umsetzte.
Nach diversen
weiteren Jobs in der
Privatwirtschaft und
der Tessiner Verwaltung,
unter anderem als
Direktor der Fachhoch­
schule der Italienischen
Schweiz, wählte ihn der
Bundesrat per 2008 zum
Direktor des damaligen
Staatssekretariats für
Bildung und Forschung,
das heute zum
Eidgenössischen Depar­
tement für Wirtschaft,
Bildung und Forschung
gehört.
Dell’Ambrogio wohnt
in Gümligen BE, ist
verheiratet und hat
sieben Kinder.