Name: Matrikelnummer Vorname: Klausur: 5 5 1 1 2 R h e t o r i k , V e r h a n d e l n u n d Vertragsgestaltung Termin: 14. September 2015 15:30 bis 17:30 Uhr Prüfender Lehrstuhl: Lehrstuhl für Öffentliches Recht, juristische Rhetorik und Rechtsphilosophie Maximale Punktzahl 100 Aufgabe 1 Aufgabe 2 Aufgabe 3 Gesamt Note: Datum: Unterschrift(en) der /des Prüfer(s) /in/innen Bachelor of Laws 55112 Rhetorik, Verhandeln und Vertragsgestaltung Hinweise für die Bearbeitung: Füllen Sie zunächst den Kopf des Deckblattes und der Lösungsbögen aus! Überprüfen Sie sodann die Vollständigkeit der Klausurunterlagen. Der Sachverhalt umfasst 3 Seiten. Es darf nur das gestellte Papier benutzt werden (20 Blatt und 5 Blatt Konzeptpapier). Beginnen Sie Ihre eigentliche Bearbeitung bitte nicht auf dem Konzeptpapier! Verwenden Sie für die Vorarbeiten bitte nur die beigehefteten Konzeptbögen. Die Bearbeitungsdauer beträgt 120 Minuten. Bearbeiten Sie die Aufgaben in ganzen Sätzen. Unterschreiben Sie die Klausur nach Fertigstellung auf der letzten beschriebenen Seite. Am Ende der Klausur müssen bis auf die Konzeptbögen sämtliche ausgeteilten Blätter zurückgegeben werden. Insgesamt können Sie 100 Punkte erreichen. Diese gliedern sich auf die im Anschluss gestellten drei Aufgaben wie folgt auf (bitte zur eigenen Zeiteinteilung beachten): Aufgaben Punkte 1 30 2 40 3 30 Mit 50 Punkten haben Sie die Klausur bestanden. Über das Klausurergebnis erhalten Sie eine Mitteilung. Die Klausur bleibt an der FernUniversität. Rede von Burkhard Lischka (SPD) am 24.04.2015 im Deutschen Bundestag zur ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist kein normaler Gesetzentwurf, den wir heute beraten, und alltäglich ist der Gesetzentwurf erst recht nicht. Er ist eine Reaktion auf einen Skandal, der niemals in Vergessenheit geraten darf, einen Skandal, der übrigens nicht nur darin bestand, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe dreizehn Jahre lang unerkannt mindestens zehn Morde, zwei Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle verüben konnte, sondern auch darin, dass dieser Terrorzug einherging mit einer Chronik des Versagens unserer Sicherheitsbehörden – aller Sicherheitsbehörden, aber eben auch des Verfassungsschutzes. Von Dummheit bis Sabotage: Alle Formen von Staatsversagen sind in den verschiedensten Abschlussberichten der NSU-Untersuchungsausschüsse festgehalten. Wir wissen heute: Möglicherweise könnten Menschen noch leben, wenn unsere Sicherheitsbehörden verantwortungsbewusst und untadelig gearbeitet hätten. Mit dieser Schuld müssen viele, müssen wir alle leben. Dieser Fall hat unserer Gesellschaft einen Spiegel ihrer schlechtesten Seiten vorgehalten. Dieser Fall ist zugleich Verpflichtung, alles dafür zu tun, dass es einen zweiten NSU-Fall nie wieder gibt. Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein kleiner, aber eben auch kein unwesentlicher Baustein, die richtigen Lehren aus dem NSU-Desaster zu ziehen. Die verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüsse sind vor allen Dingen auch mit einer regelrechten Krankheit unserer Verfassungsschutzbehörden konfrontiert worden: dass man sich nicht austauscht, dass man Informationen für sich behält, dass man sie nicht weiterleitet. Wir wissen heute: Nur etwa 20 Prozent der Informationen, die seit 1998 zu dem NSU-Mördertrio in den Landesämtern für Verfassungsschutz vorlagen, wurden auch tatsächlich weitergeleitet. Das war fatal; denn so konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen, noch konnte das Bundesamt für Verfassungsschutz seiner Koordinierungsfunktion nachkommen. Das NSU-Mördertrio musste nur von einem Bundesland in das nächste ziehen, und schon verlor sich die Spur. Dieses Neben- und Gegeneinander der Verfassungsschützer, das wir da erlebt haben, gefährdet unsere innere Sicherheit. Sechzehn Schlapphutprovinzen, die alle vor sich hin werkeln, können wir uns nicht leisten; damit muss Schluss sein, meine Damen und Herren! Deshalb ist für uns Sozialdemokraten von entscheidender Bedeutung, dass künftig die Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlich gestärkt wird durch einen verpflichtenden Informationsaustausch und, ja – da, wo notwendig –, auch mit eigenen Durchgriffsrechten. Gerade föderale Strukturen verlangen beim Antiterrorkampf klare Führung und Verantwortung sowie einen schnellen Daten- und Informationsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ich weiß, dass sich einige Bundesländer mit der Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwertun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf es nach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr geben. Der NSU konnte auch nur deshalb jahrelang mordend und raubend durch Deutschland ziehen, weil unsere Sicherheitsbehörden zu wenig miteinander geredet haben. Solche blinden Flecken darf es nicht mehr geben und Verfassungsschutzämter, die im eigenen 50 Saft schmoren, erst recht nicht, meine Damen und Herren. Zweiter wichtiger Aspekt: Der NSU-Skandal ist auch ein V-Mann-Skandal. Frau Pau hat es angesprochen: Da wurde ein V-Mann angeworben, der wegen versuchten Mordes an einem Asylbewerber im Gefängnis einsaß. Da gab es Zahlungen an dubiose Informanten, die das Jahresgehalt eines Polizisten bei Weitem übersteigen. All das ist eines Rechtsstaates unwürdig, und zwar ohne Wenn und Aber, meine Damen und Herren. 55 60 65 Nun gibt es einige, die daraus folgern, man solle auf V-Leute künftig am besten ganz verzichten. Bei allem verständlichen Ärger, der da mitschwingt: Was diese Sicht vollkommen außer Acht lässt, ist der Umstand, dass gerade kriminelle und militante Gruppen ihre Aktivitäten und Planungen seit jeher nicht offen, sondern konspirativ und abgeschottet betreiben. Wer da komplett auf V-Leute verzichten will, nimmt zumindest billigend in Kauf, dass sie ungestört Anschläge und schwerste Verbrechen planen können, ohne dass der Staat auch nur den Hauch einer Chance hat, sie dabei zu stören. Nein, meine Damen und Herren, ein Staat, der eben auch die Verantwortung für die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger trägt, darf sich nicht vollkommen taub und blind machen, wenn es um feige Morde und Anschläge geht. Das kann nun wirklich nicht die Lehre aus dem NSU-Desaster sein. Nur: Wir dürfen dabei auch nicht den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen. Der Zweck heiligt in einem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel. 70 75 Eine Zusammenarbeit mit vorbestraften Schwerstkriminellen darf es niemals geben und auch kein Hintertürchen im Gesetz, das das zulässt. Darauf werden wir Sozialdemokraten in den weiteren Beratungen achten, meine Damen und Herren. Insofern sind das wichtige Beratungen, die vor uns liegen, nämlich darüber, den Verfassungsschutz besser aufzustellen und klare rechtsstaatliche Grenzen ohne Hintertürchen zu markieren. Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, denen wir uns jetzt akribisch widmen müssen. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern des NSU-Terrors schuldig. Aufgaben: 1. (insgesamt 30 Pkt.) a) Erstellen Sie eine Auditoriumsanalyse zur vorliegenden Rede. (5 Pkt.) b) Definieren Sie „Ethos“ im rhetorischen Kontext. (10 Pkt.) c) Arbeiten Sie unter Angabe der Fundstellen drei Ethoselemente aus der vorliegenden Rede heraus und erläutern Sie die konkrete Wirkweise dieser Elemente. (15 Pkt.) 2. (insgesamt 40 Pkt.) a) Definieren Sie „Pathos“ allgemein. (10 Pkt.) b) Wie unterscheidet sich das Pathos der Leidenschaft vom Pathos der Sachlichkeit? (6 Pkt.) c) Arbeiten Sie unter Angabe der Fundstellen aus der vorliegenden Rede drei unterschiedliche rhetorische Figuren heraus, beschreiben Sie ihre allgemeine Wirkweise sowie die konkrete Wirkung in ihrer spezifischen Verwendung im Text. (24 Pkt.) 3. (insgesamt 30 Pkt.) a) Was wird unter „Logos“ verstanden und wie kann er erzielt werden? (10 Pkt.) b) Arbeiten Sie aus der vorliegenden Rede zwei unterschiedliche Enthymeme heraus, identifizieren Sie deren Behauptung und Begründung(en) sowie mindestens je einen impliziten oder expliziten Übergang und erstellen Sie zu beiden Enthymemen ein entsprechendes Schaubild. (20 Pkt.) Bearbeitungshinweise: Antworten Sie bitte in ganzen Sätzen! Vergessen Sie die Fundstellen nicht! Achten Sie bei Ihrer Auswahl der verschiedenen Elemente auf Analyseergiebigkeit (zu einer Metapher gibt es oft viel mehr zu sagen als zu einer Verbalemphase)! Alle rhetorischen Figuren „betonen“ irgendeinen Aspekt – für das Erwähnen nur dieses Phänomens gibt es KEINE PUNKTE! LÖSUNGSSKIZZE: ZU AUFGABE 1 1a Primärebene: Bundestagsvizepräsidentin (Z. 5) Abgeordnete (Z.5) speziell SPD (Z. 35; 70/71) Bevölkerung (Z. 64) Medien (passim, ohne Fundstelle) Behörden (z. B. Z. 12; 15; 42; 45) Opfer (Z. 75) Untersuchungsausschüsse (Z. 22) Verfassungsschutz (z. B. Z. 23; 26; 36) [Für die volle Punktzahl ausreichend waren fünf richtige Nennungen mit Fundstellen.] 1b1 [Ethos] bezeichnet ganz allgemein den Charakter und die innere Haltung eines Menschen, in der Rhetorik des Aristoteles aber auch den – hiervon jedenfalls teilweise zu differenzierenden – Einsatz des Charakters des Redners als überzeugungsstiftendes Moment, als „entechnisches Überzeugungsmittel“2 durch „Selbstpräsentation“ des Rhetors. Immer wieder mit dem so verstandenen Ethos in Verbindung gebracht werden die Begriffe Sitte, Moral, Anstand, Tradition und Werte. Dies ist wohl Ausfluss der Forderung des Aristoteles, der besonnene und gute Redner möge einsichtig, tugendhaft und wohlwollend sein.3 Richtig und besonnen eingesetzt, kann Ethos dazu beitragen, den geneigten Leser von der „Richtigkeit“ des Verkündeten zu überzeugen. Zu den Standardmitteln des Ethos gehören etwa die Einbindung des Auditoriums durch die Erreichung eines Gemeinsamkeitsgefühls oder durch Beteiligung des Auditoriums in Form von direkter Ansprache und Fragen. Bestimmte Argumentformen, nämlich der Rückgriff auf Autoritäten, und auch die Abgrenzung einer Gruppe von der anderen („die da oben“ – „wir hier unten“ etc.) können ebenfalls 1 Die gesamte Passage stammt aus Johnston, Die rhetorische Architektur erstinstanzlicher Strafentscheidungen, in: Katharina Gräfin von Schlieffen (Hg.), Reihe Recht und Rhetorik, Bd. 5, Frankfurt am Main 2015. 2 Franz-Hubert Robling, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, hrsg. v. Gert Ueding, Tübingen 1994, Sp. 1516 f. (1517). 3 Dazu Aristoteles, Rhet. II.5, 1378a. Ethoselemente sein. Auch die Gewährung eines Einblicks in das private/persönliche Leben des Rhetors ruft Sympathien und Identifikation im Auditorium hervor. 1c „Unserer Gesellschaft“/„unsere Sicherheitsbehörden“/„wir“ (passim) Die überschwängliche Verwendung der Personalpronomen „wir“, „uns“, „unser“ u. dergl. deutet darauf hin, dass es Lischka darauf ankam, verschiedene Teile des Auditoriums besonders über das Mittel des Ethos anzusprechen. Dadurch, dass diese Pronomina den Rhetor in die jeweils definierte Gruppe einbeziehen, stellt er sich als diesen Gruppen zugehörig dar. Die größte Gruppe dürften dabei die Deutschen sein, dann die Abgeordneten, hernach die Sozialdemokraten. Das Personalpronomen „wir“ und sein Flexionsformen erzeugen dabei auch eine gewisse Nähe zum Gegenstand der Rede. Es geht nicht um „Sicherheitsbehörden“, sondern um „unsere“ Sicherheitsbehörden. Durch den Possessivaspekt löst der Rhetor ein Gefühl der Verantwortung aus: „Was ich besitze, darum kümmere ich mich“, „Ich bin verantwortlich für das Meine“, „Eigentum verpflichtet“. „Schuldanerkenntnis“ (Z. 16/17) Einen ganz ähnlichen Mechanismus nutzt Lischka mit dem Ausspruch „Mit dieser Schuld […] müssen wir alle leben“. Auch hier werden alle einer Gruppe zugeordnet. Es gibt für den Rhetor nicht „den“ Schuldigen, sondern alle tragen die Schuld an dem Geschehen. Damit nimmt er dem Auditorium die Chance, sich durch Distanzierungsmechanismen (etwa den Gedanken „Viele, aber nicht alle, also ich auch nicht“) aus der Verantwortung zu stehlen. Dadurch, dass Lischka ihnen Schuld vorwirft, entfesselt er das schlechte Gewissen, das ein hervorragender Motivator (z. B. zum Beschluss eines Gesetzes) sein kann. Freilich spricht er hier zuvörderst alle Abgeordneten und die in Rede stehenden staatlichen Stellen an, doch auch der Bürger als Zuhörer kann sich durch das „wir alle“ ohne Weiteres angesprochen fühlen. Der kann indes kein Gesetz durchwinken, wohl aber wachsam(er) sein. „Für uns Sozialdemokraten“/ „wir Sozialdemokraten“ Lischka beschwört hier den Parteigeist: Zum einen identifiziert er sich gegenüber seinen eigenen Kollegen als überzeugter Sozialdemokrat, zum anderen zeigt er dem Rest des Bundestages „klare Kante“, wie es modern-neogermanistisch heißt. Aus dem sicheren Hafen der zweitstärksten Fraktion im Bundestag gibt er auch den Bürgern eine Garantie, dass es die Sozialdemokraten sein werden, die erstens eine Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz gestärkt wird (Z. 36) und die zweitens dafür Sorge tragen werden, dass es keine Zusammenarbeit mit Schwerstkriminellen geben wird (Z.69). Damit ist dieses Ethoselement – Identifizierung mit einer Gruppe/positives Versprechen an die Betroffenen – gleichzeitig ein Wahlkampfinstrument. „Rechtsstaat“/„Rechtsstaatlichkeit“ (Z. 52; 67/68) Der mehrmalige Bezug auf den Rechtsstaat identifiziert Lischka als jemanden, der an die Prinzipien des Rechtsstaats glaubt, sie achtet und verteidigt. Damit positioniert er sich als „guter Mensch“, als Ritter ohne Furcht und Tadel; der Zuhörer, der im Zweifel selbst an die mit dem Rechtsstaat konnotierten freiheitlich-demokratischen Grundwerte glaubt, fühlt sich durch den Redner bestätigt, ist eher geneigt, dem sich so positionierenden Rhetor zuzustimmen. „Fachwissen/Zahlen“ (Z. 9/10; 25 ff.; 55) Wiewohl gerade diese beiden Aspekte zumeist dem Logos zugeschlagen werden, wäre es nicht verkehrt, darin auch Ethos am Werk zu sehen: Wer sein Publikum durch Fachwissen (und dazu gehören nun einmal Zahlen, weil sie für viele der Inbegriff des Beweises schlechthin sind) zu überzeugen sucht, transportiert unweigerlich die Botschaft, dass er über Expertise im Gegenstand der Rede verfügt; ob das über Jahre angesammeltes Expertenwissen des Rhetors selbst oder anlässlich des Vortrags angeeignetes fremdes Wissen, macht für diese Spielart des Ethos kaum einen Unterschied: Der Zuhörer neigt dazu, einen „Experten“ bzw. jemanden, der den Anschein hat, etwas von dem Vorgetragenen zu verstehen, eher sympathisch zu finden, ihm eher zu glauben und damit auch eher zuzustimmen. ZU AUFGABE 2 2a Pathos4 ist der Sammelbegriff für alles Emotive im Gesamtauftritt des Redners. Pathos zielt auf das Herz des Auditoriums, will aufrühren, entfachen, antreiben oder aber beschwichtigen, besinnen, bestärken; der tatsächliche Bezug zum Gegenstand der Argumentation ist allenfalls zweitrangig:5 Pathos ist die Summe aller nichtargumentativen Stilmittel und „macht [damit] die emotionale Dimension des Argumentierens aus“6. Aristoteles formuliert die Zielrichtung des Pathos so: Sein Einsatz erfolge „[…] in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen […]7. Auch bei Cicero finden sich Hinweise auf das Wesen des Pathos: „[…] weil alle Kraft und Methode der Rede sich in der Besänftigung oder Erregung der Zuhörer entfalten muss“8. Daraus folgt in erster Linie, dass unter Pathos das berühmte „blutige Hemd“, das der Ankläger dem Richter vor Augen hält, gemeint sein muss, aber auch die Szenerie der Rede (Örtlichkeit und Aufmachung), dazu Mimik, Gestik, Stimme, Aussprache, Körpersprache und Erscheinungsbild des Rhetors9 und schließlich all solche Wendungen, die nicht zuvörderst begründend sind. Das Arsenal des Pathos umfasst damit sowohl stark emotive Ausdrucksweisen, wie sie in Metaphern, Vergleichen, Antithesen und Hyperbeln zu finden sind, aber genauso die subtilen Formulierungen der betonungserheischenden Wortstellungsveränderung (z. B. Inversion, Anapher, Epipher, Epanodos, Ellipse, Epanalepse usw.). Allgemein unterschieden werden Tropen10 und Figuren11, wobei ein „Tropus […] die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdrucks mit einer anderen [ist]12, „eine Figur […]eine Gestaltung der Rede, die abweicht von der 4 πάθος – Leiden, Erfahrung. Vgl. Katharina Sobota (von Schlieffen), Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 15, Juristische Rhetorik, Tübingen 1996, S. 115 [121]. 6 Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik, 4., neub. u. erw. Aufl., Heidelberg 2006, Rn. 1143 [Hervorh. v. Verf.]. 7 Aristoteles, Rhet. I.2, 1356a: „ἐν τῷ τὸν ἀκροατὴν διαθεῖναί πως“ (en to ton akroatän diatheinai pos). 8 Marcus Tullius Cicero, De Oratore (Über den Redner), Ausgewählte Werke Bd. IV, hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2008, I. 17: „… ; quod omnis vis ratioque dicendi in eorum, qui audiunt, mentibus aut sedandis aut excitandis expromenda est; …“ 9 Vgl. Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik, Rn 1144. 10 τρόπος – Art und Weise, Weg, Kurs. 11 Altgr. σχήματα (schämata) – Haltungen. 12 Marcus Fabius Quintilianus, Institutio Oratoria (Ausbildung des Redners). Zwölf Bücher, lat. u. dt., hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn, 5., unver. Aufl. Darmstadt 2011, VIII. 1. 5 allgemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Weise“13. Gemeint ist hiermit die Stellung mehrerer Wörter im Satz. [Die Unterscheidung von Tropen und Figuren war nicht gefordert, sondern ist hier nur der Vollständigkeit halber in aller Kürze eingefügt]. 2b Das Pathos der Leidenschaft bewegt, rüttelt auf, erschreckt, erschüttert, romantisiert. Eine bildhafte, schmuckvolle Ausdrucksweise ist das Markenzeichen dieses Mittels, das vor allem tiefgreifende Gefühle wie Angst, Liebe, Hass, Trauer, Freude, Stolz, Jubel, Missgunst hervorrufen soll. Typisch für das Pathos der Leidenschaft sind daher Metapher, Vergleich, Synekdoche, Allegorie, Symbol, Emphase etc. Das Pathos der Sachlichkeit ist subtiler: Es verlässt sich auf Satz(stellungs-)figuren wie Inversion, Ellipse, Brachylogie, Asyndeton, Anapher, Epipher, Epanodos, Anadiplose, Repetitio etc. Es wird vor allem im professionellen Textumfeld eingesetzt (z.B. von Juristen), um die Argumentation zu unterstützen, bestimmte Aspekte zu unterstreichen und Betonungswirkung zu erzielen (aber auch speziellere Effekte), wo das „lautere“ leidenschaftliche Pathos (vermeintlich) fehl am Platze wäre oder als unangebracht empfunden werden könnte. 2c „Kein unwesentlicher Baustein“= Litotes, Metapher (Z. 21) Allgemeine Funktionen der Metapher: • • • Vereinfachung komplexer Zusammenhänge Erhöhung der Einprägsamkeit Verbildlichung: Ansprache eines erinnerungsstarken Reizes (Sehen) Konkrete Funktionen (kontextbezogen) Der Baustein ist ein kleiner Teil eines Ganzen, aber eben ein essenzieller. Ohne die Bausteine gibt es kein Bauwerk. Ist er noch wesentlich, dann weckt dies Assoziationen mit dem Begriff des Grundsteins, eines tragenden Teils eines Konstruktes: Kann es ohne einige seiner Bestandteile stehen, so denn aber nicht ohne seine „wesentlichen“ Bestandteile (weitere Assoziation „Bausteine des Lebens“). Lischka verdeutlicht damit, dass das geplante Gesetz das Problem nicht in Gänze löst, aber immerhin wichtig ist, um mittel- bis langfristig zu richtigen Lösungen zu gelangen (klein, aber eben nicht unwesentlich). Hinzu kommt: Allgemeine Funktionen der Litotes: • 13 Drastische Hervorhebung einer Eigenschaft/Sache durch ihre doppelte Verneinung: Die Konnotation „nicht X“ kann in manchen Fällen stärker wirken als „X“. Bsp. „Er ist kein Feind.“ Diese definitio ex negativo ist auch in der Rechtswissenschaft ein beliebtes Mittel (vgl. etwa § 212 StGB). Dies mag darin begründet liegen, dass etwas von einem strenglogischen Standpunkt aus einfacher über seine abwesenden als über seine gegebenen Merkmale zu definieren sein kann. Ein Begriff X kann viele (auch unerkannte oder unklare) Merkmale haben, was zumeist irrelevant wird, wenn man den Begriff schlicht verneint. Jedenfalls: Das Wesentliche tritt sofort und klar hervor. Marcus Fabius Quintilianus, a.a.O., IX. 4.; zur Unterscheidung zwischen Figuren und Tropen erhellend und sehr ausführlich Josef Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode, München 1974, S. 259 ff. • Transportiert, dass etwas gerade keine Floskel sein soll. Konkrete Funktionen (kontextbezogen) „Ein wesentlicher Baustein“ – das hätte dem Redner keiner abgenommen, das klingt nach einer klassischen Floskel, weil die Politik und die Rechtswissenschaft das Wort „wesentlich“ durch übermäßigen Gebrauch faktisch seiner Bedeutung beraubt haben; unter lauter wesentlichen Aspekten finden sich kaum noch weniger wichtige (Wer will denn auch eine solche Priorisierung vornehmen?). Um aber nun den ungewöhnlichen, zwar kleine, aber tatsächlich einschneidende Bedeutung des Gesetzes klarzustellen, hat sich Lischka hier für die Litotes entschieden. Die doppelte Verneinung „kein unwesentlicher“ sorgt dabei für eine weitere Herausstellung der Wesentlichkeit. „Schlapphutprovinzen“= Metapher, Kavillation, Neologismus, Personifikation (Z. 32) Allgemeine Funktionen der Kavillation: • • • • Herabsetzung des Ziels (Lächerlichkeit) Erhöhung der Einprägsamkeit Belustigung des Publikums Ggf. Reaktionshervorrufung Allgemeine Funktionen des Neologismus • • • • Einprägsamkeit Wortwitz (und damit Sympathieerheischung) Überraschung Ausdruckseffizienz Allgemeine Funktionen der Personifikation • • • De-Objektifizierung (Annäherung) Steigerung der Nachvollziehbarkeit Darstellung von Komplexität mit einfacheren Mitteln Konkrete Funktionen (kontextbezogen) Lischka greift die Regierungen der Bundesländer an, weil sie nicht (ausreichend) zusammenarbeiten, um so etwas wie den NSU-Skandal zu verhindern. Er tut dies natürlich gezielt, um eine künftige Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden – und darum geht es ja im Kern im Gesetzesentwurf – zu befördern. Der „Schlapphut“ weckt Assoziationen mit Faulheit, Schläfrigkeit, Mangel an Eifer, während die „Provinzen“ Bilder des sprichwörtlichen verschlafenen Nestes wecken, des hinterwäldlerischen Rückzugsortes, den keine Nachrichten erreichen und wo man untätig herumsitzt, statt zu handeln. Wenn diese Provinzen noch „vor sich hinwerkeln“, wird das Bild des phlegmatischen Dilettantismus komplett: Diese Ausdrucksweise impliziert planlose, vielleicht sogar schädliche Amateurhaftigkeit. All diese Gedanken Transportiert der Rhetor in nur ein paar Worten: „Schlapphutprovinz“ ist daher ein Beispiel nicht nur von Ausdruckseleganz, sondern auch von Ausdruckseffizienz (was im Übrigen für rhet. Fig. der Kategorie „Tropus/Bild“ nicht untypisch ist). Der Schlapphut kann auch eine Anspielung auf die Geheimdienste des Mittelalters sein und damit gleichzeitig wieder eine Ohrfeige für die Sicherheitsbehörden: Methoden (und Zusammenarbeit) wie im Mittelalter Assoziation ist „primitiv, alt, langsam, unmodern“. „Dass…dass…dass“ =Anapher, Parallelismus, Trikolon, Enumeration (Z. 24/25) Allgemeine Funktionen der Anapher • • • Einprägsamkeit Gewöhnungs-/Trainingseffekt Kumulation/Sammlung Allgemeine Funktionen des Parallelismus • • • visuelle und audiale Darstellung von Gleichförmigkeit Etablierung eines Musters Einprägsamkeit Konkrete Funktionen (kontextbezogen) Ganz bewusst setzt Lischka hier die Verschränkung der Anapher und des Parallelismus ein, um das gleichförmige Versagen der Sicherheitsbehörden (das im Übrigen auch in den Sätzen selbst zum Ausdruck kommt) in den Blick des Auditoriums zu rücken. Immer und immer wieder setzt er an, um quasi denselben Inhalt (Informationen wurden nicht korrekt behandelt) in das Gedächtnis des Publikums einzuhämmern: Das bleibt hängen, und zwar auch über die Rede hinaus. Der Parallelismus unterstreicht dabei, dass die fehlerhaften Vorgänge wie Automatismen ohne Sinn und Verstand vonstatten gegangen sind, wie programmierte Maschinen ohne den Blick fürs Wesentliche. Ein Versagensmuster tritt hervor. Die Assoziation: Muster laufen immer gleich ab, wenn man sie nicht durchbricht – zum Beispiel mittels eines Gesetzes. Das Trikolon trägt den sich unseren Ohren und unserem Verstand anbiedernden Dreiklang (Assoziation: Vollständigkeit) bei. [Diese drei Analysen verstehen sich pars pro toto für alle anderen möglichen Analysen rhetorischer Figuren im Text. Sie sind aus hiesiger Sicht nahezu vollständig und bilden in etwa einen Grad der Bearbeitung ab, der die volle Punktzahl für die jeweilige Analyse gezeitigt hätte. Indes sind dies nur Beispiels: Es ging weniger um richtig/falsch, sondern um kreatives Überlegen und Einordnen der Figuren in den konkreten Kontext.] ZU AUFGABE 3 3a Logos spricht den Verstand an und ist der Schlüssel zur Überzeugung eines Auditoriums. Logos ist das mit Fakten, Zahlen, Daten und Strukturen ordnende und beweisende, plausibilisierende Element der Rhetorik. Aristoteles sagt, wir seien dann überzeugt (glauben etwas), wenn wir zugleich glaubten, dass es bewiesen sei. Diesen Effekt soll Logos erzeugen. Es besteht daher aus Argumenten, deren häufigste Form das Enthymem ist, das aus einer Behauptung und einer Begründung (oder aus mehreren Begründungen) besteht, deren Verbindung durch meist topische Übergänge explizit oder implizit plausibilisiert wird. 3b Auf den ersten Blick mag diese Aufgabe unfair erscheinen, aber: Das Enthymem war in der Folge erklärt, jedenfalls die Hauptaufgabe: Suchen Sie zwei Behauptungen und deren zugehörige Begründung(en). Das hätte so aussehen können: Z. 45: Behauptung: NSU hatte die Möglichkeit, jahrelang mordend und raubend durch Deutschland zu ziehen. Begründung: Sicherheitsbehörden haben zu wenig miteinander geredet. Übergang (Plausibilisierung der Begründungsbeziehung): Informationen über Verbrechen müssen (vollständig und rasch) weitergegeben werden, damit schnelle grenzübergreifende Maßnahmen möglich sind. (explizit etwa Zeile 27/28: „So konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen“) Schaubild: NSU hatte die Möglichkeit, jahrelang mordend und raubend durch Deutschland zu ziehen. (BEH) Zeile 27/28:„So konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen.“ (ÜBERG) Sicherheitsbehörden haben zu wenig miteinander geredet. (BEGR) Z. 55 ff. Behauptung (implizit, arg. ex negativo): Man kann gerade nicht auf V-Männer verzichten. Begründung: Dann können kriminelle und militante Gruppen ungestört Anschläge und schwerste Verbrechen planen. Übergang (Plausibilisierung der Begründungsbeziehung): Diese Gruppen betreiben ihre Aktivitäten seit jeher nicht offen, sondern konspirativ und abgeschottet. Schaubild: Man kann gerade nicht auf VMänner verzichten. (IMPL. BEH) Zeile 57-59: „Diese Gruppen betreiben ihre Aktivitäten seit jeher nicht offen, sondern konspirativ und abgeschottet.“ (EXPL. ÜBERG.) Dann können kriminelle und militante Gruppen ungestört Anschläge und schwerste Verbrechen planen. (BEGR.) Auch hier galt: Es musste nur das Grundgerüst der Aufgabe begriffen werden. Im Übrigen kann in einem universitären Studium, auch und gerade einem Fernstudium, verlangt werden, dass zur Vorbereitung einer Klausur die Schriften und Forschungsbereiche der Lehrstuhlinhaberin zumindest im Ansatz studiert worden sind. Mit 50 Punkten war die Klausur bestanden. Schwierigkeitsfaktor: Zeit, Zeiteinteilung Durchfallquote: ~ 40 % Höchste Punktzahl: 93/100 Niedrigste Punktzahl: 16/100 Teilnehmer: 149 Konzeptbogen 1 Konzeptbogen 2 Konzeptbogen 3 Konzeptbogen 4 Konzeptbogen 5 Lösungsbögen 1 Lösungsbögen 2 Lösungsbögen 3 Lösungsbögen 4 Lösungsbögen 5 Lösungsbögen 6 Lösungsbögen 7 Lösungsbögen 8 Lösungsbögen 9 Lösungsbögen 10 Lösungsbögen 11 Lösungsbögen 12 Lösungsbögen 13 Lösungsbögen 14 Lösungsbögen 15 Lösungsbögen 16 Lösungsbögen 17 Lösungsbögen 18 Lösungsbögen 19 Lösungsbögen 20
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