Sachverhalt mit Lösungsskizze

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Matrikelnummer
Vorname:
Klausur: 5 5 1 1 2 R h e t o r i k , V e r h a n d e l n u n d
Vertragsgestaltung
Termin: 14. September 2015
15:30 bis 17:30 Uhr
Prüfender Lehrstuhl: Lehrstuhl für Öffentliches Recht, juristische Rhetorik und
Rechtsphilosophie
Maximale Punktzahl
100
Aufgabe 1
Aufgabe 2
Aufgabe 3
Gesamt
Note:
Datum:
Unterschrift(en)
der /des Prüfer(s) /in/innen
Bachelor of Laws
55112 Rhetorik, Verhandeln und Vertragsgestaltung
Hinweise für die Bearbeitung:

Füllen Sie zunächst den Kopf des Deckblattes und der Lösungsbögen aus!

Überprüfen Sie sodann die Vollständigkeit der Klausurunterlagen.
Der Sachverhalt umfasst 3 Seiten.

Es darf nur das gestellte Papier benutzt werden (20 Blatt und 5 Blatt Konzeptpapier).

Beginnen Sie Ihre eigentliche Bearbeitung bitte nicht auf dem Konzeptpapier!

Verwenden Sie für die Vorarbeiten bitte nur die beigehefteten Konzeptbögen.

Die Bearbeitungsdauer beträgt 120 Minuten.

Bearbeiten Sie die Aufgaben in ganzen Sätzen.

Unterschreiben Sie die Klausur nach Fertigstellung auf der letzten beschriebenen Seite.

Am Ende der Klausur müssen bis auf die Konzeptbögen sämtliche ausgeteilten Blätter
zurückgegeben werden.
Insgesamt können Sie 100 Punkte erreichen. Diese gliedern sich auf die im Anschluss gestellten
drei Aufgaben wie folgt auf (bitte zur eigenen Zeiteinteilung beachten):
Aufgaben
Punkte
1
30
2
40
3
30
Mit 50 Punkten haben Sie die Klausur bestanden.
Über das Klausurergebnis erhalten Sie eine Mitteilung.
Die Klausur bleibt an der FernUniversität.
Rede von Burkhard Lischka (SPD) am 24.04.2015 im Deutschen Bundestag zur
ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist kein normaler Gesetzentwurf, den
wir heute beraten, und alltäglich ist der Gesetzentwurf erst recht nicht. Er ist eine
Reaktion auf einen Skandal, der niemals in Vergessenheit geraten darf, einen Skandal,
der übrigens nicht nur darin bestand, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe
dreizehn Jahre lang unerkannt mindestens zehn Morde, zwei Bombenanschläge und
zahlreiche Banküberfälle verüben konnte, sondern auch darin, dass dieser Terrorzug
einherging mit einer Chronik des Versagens unserer Sicherheitsbehörden – aller
Sicherheitsbehörden, aber eben auch des Verfassungsschutzes. Von Dummheit bis
Sabotage: Alle Formen von Staatsversagen sind in den verschiedensten Abschlussberichten der NSU-Untersuchungsausschüsse festgehalten. Wir wissen heute:
Möglicherweise könnten Menschen noch leben, wenn unsere Sicherheitsbehörden
verantwortungsbewusst und untadelig gearbeitet hätten. Mit dieser Schuld müssen
viele, müssen wir alle leben. Dieser Fall hat unserer Gesellschaft einen Spiegel ihrer
schlechtesten Seiten vorgehalten. Dieser Fall ist zugleich Verpflichtung, alles dafür zu
tun, dass es einen zweiten NSU-Fall nie wieder gibt.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein kleiner, aber eben
auch kein unwesentlicher Baustein, die richtigen Lehren aus dem NSU-Desaster zu
ziehen. Die verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüsse sind vor allen Dingen auch
mit einer regelrechten Krankheit unserer Verfassungsschutzbehörden konfrontiert
worden: dass man sich nicht austauscht, dass man Informationen für sich behält, dass
man sie nicht weiterleitet. Wir wissen heute: Nur etwa 20 Prozent der Informationen,
die seit 1998 zu dem NSU-Mördertrio in den Landesämtern für Verfassungsschutz
vorlagen, wurden auch tatsächlich weitergeleitet. Das war fatal; denn so konnte
nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen, noch konnte das Bundesamt für
Verfassungsschutz seiner Koordinierungsfunktion nachkommen. Das NSU-Mördertrio
musste nur von einem Bundesland in das nächste ziehen, und schon verlor sich die
Spur. Dieses Neben- und Gegeneinander der Verfassungsschützer, das wir da erlebt
haben, gefährdet unsere innere Sicherheit. Sechzehn Schlapphutprovinzen, die alle vor
sich hin werkeln, können wir uns nicht leisten; damit muss Schluss sein, meine Damen
und Herren!
Deshalb ist für uns Sozialdemokraten von entscheidender Bedeutung, dass künftig die
Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz deutlich gestärkt wird
durch einen verpflichtenden Informationsaustausch und, ja – da, wo notwendig –,
auch mit eigenen Durchgriffsrechten. Gerade föderale Strukturen verlangen beim
Antiterrorkampf klare Führung und Verantwortung sowie einen schnellen Daten- und
Informationsaustausch auch über Ländergrenzen hinweg. Ich weiß, dass sich einige
Bundesländer mit der Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes sehr
schwertun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen darf es nach dem NSU-Skandal
keinen Platz mehr geben.
Der NSU konnte auch nur deshalb jahrelang mordend und raubend durch Deutschland
ziehen, weil unsere Sicherheitsbehörden zu wenig miteinander geredet haben. Solche
blinden Flecken darf es nicht mehr geben und Verfassungsschutzämter, die im eigenen
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Saft schmoren, erst recht nicht, meine Damen und Herren. Zweiter wichtiger Aspekt:
Der NSU-Skandal ist auch ein V-Mann-Skandal. Frau Pau hat es angesprochen: Da
wurde ein V-Mann angeworben, der wegen versuchten Mordes an einem
Asylbewerber im Gefängnis einsaß. Da gab es Zahlungen an dubiose Informanten, die
das Jahresgehalt eines Polizisten bei Weitem übersteigen.
All das ist eines Rechtsstaates unwürdig, und zwar ohne Wenn und Aber, meine
Damen und Herren.
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Nun gibt es einige, die daraus folgern, man solle auf V-Leute künftig am besten ganz
verzichten. Bei allem verständlichen Ärger, der da mitschwingt: Was diese Sicht
vollkommen außer Acht lässt, ist der Umstand, dass gerade kriminelle und militante
Gruppen ihre Aktivitäten und Planungen seit jeher nicht offen, sondern konspirativ und
abgeschottet betreiben. Wer da komplett auf V-Leute verzichten will, nimmt zumindest
billigend in Kauf, dass sie ungestört Anschläge und schwerste Verbrechen planen
können, ohne dass der Staat auch nur den Hauch einer Chance hat, sie dabei zu
stören.
Nein, meine Damen und Herren, ein Staat, der eben auch die Verantwortung für die
Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger trägt, darf sich nicht vollkommen taub und
blind machen, wenn es um feige Morde und Anschläge geht. Das kann nun wirklich
nicht die Lehre aus dem NSU-Desaster sein.
Nur: Wir dürfen dabei auch nicht den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen. Der
Zweck heiligt in einem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel.
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75
Eine Zusammenarbeit mit vorbestraften Schwerstkriminellen darf es niemals geben und
auch kein Hintertürchen im Gesetz, das das zulässt. Darauf werden wir Sozialdemokraten in den weiteren Beratungen achten, meine Damen und Herren.
Insofern sind das wichtige Beratungen, die vor uns liegen, nämlich darüber, den
Verfassungsschutz besser aufzustellen und klare rechtsstaatliche Grenzen ohne Hintertürchen zu markieren. Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, denen wir uns
jetzt akribisch widmen müssen. Das sind wir nicht zuletzt den Opfern des NSU-Terrors
schuldig.
Aufgaben:
1. (insgesamt 30 Pkt.)
a) Erstellen Sie eine Auditoriumsanalyse zur vorliegenden Rede.
(5 Pkt.)
b) Definieren Sie „Ethos“ im rhetorischen Kontext.
(10 Pkt.)
c) Arbeiten Sie unter Angabe der Fundstellen drei Ethoselemente aus
der vorliegenden Rede heraus und erläutern Sie die konkrete Wirkweise
dieser Elemente.
(15 Pkt.)
2. (insgesamt 40 Pkt.)
a) Definieren Sie „Pathos“ allgemein.
(10 Pkt.)
b) Wie unterscheidet sich das Pathos der Leidenschaft vom
Pathos der Sachlichkeit?
(6 Pkt.)
c) Arbeiten Sie unter Angabe der Fundstellen aus der vorliegenden Rede
drei unterschiedliche rhetorische Figuren heraus, beschreiben Sie ihre
allgemeine Wirkweise sowie die konkrete Wirkung in ihrer spezifischen
Verwendung im Text.
(24 Pkt.)
3. (insgesamt 30 Pkt.)
a) Was wird unter „Logos“ verstanden und wie kann er erzielt werden?
(10 Pkt.)
b) Arbeiten Sie aus der vorliegenden Rede zwei unterschiedliche
Enthymeme heraus, identifizieren Sie deren Behauptung und
Begründung(en) sowie mindestens je einen impliziten oder expliziten
Übergang und erstellen Sie zu beiden Enthymemen ein entsprechendes
Schaubild.
(20 Pkt.)
Bearbeitungshinweise:
Antworten Sie bitte in ganzen Sätzen!
Vergessen Sie die Fundstellen nicht!
Achten Sie bei Ihrer Auswahl der verschiedenen Elemente auf Analyseergiebigkeit
(zu einer Metapher gibt es oft viel mehr zu sagen als zu einer Verbalemphase)!
Alle rhetorischen Figuren „betonen“ irgendeinen Aspekt – für das Erwähnen nur dieses
Phänomens gibt es KEINE PUNKTE!
LÖSUNGSSKIZZE:
ZU AUFGABE 1
1a
Primärebene:
Bundestagsvizepräsidentin (Z. 5)
Abgeordnete (Z.5)
speziell SPD (Z. 35; 70/71)
Bevölkerung (Z. 64)
Medien (passim, ohne Fundstelle)
Behörden (z. B. Z. 12; 15; 42; 45)
Opfer (Z. 75)
Untersuchungsausschüsse (Z. 22)
Verfassungsschutz (z. B. Z. 23; 26; 36)
[Für die volle Punktzahl ausreichend waren fünf richtige Nennungen mit Fundstellen.]
1b1
[Ethos] bezeichnet ganz allgemein den Charakter und die innere Haltung eines Menschen, in der
Rhetorik des Aristoteles aber auch den – hiervon jedenfalls teilweise zu differenzierenden – Einsatz
des Charakters des Redners als überzeugungsstiftendes Moment, als „entechnisches Überzeugungsmittel“2 durch „Selbstpräsentation“ des Rhetors. Immer wieder mit dem so verstandenen Ethos in
Verbindung gebracht werden die Begriffe Sitte, Moral, Anstand, Tradition und Werte. Dies ist wohl
Ausfluss der Forderung des Aristoteles, der besonnene und gute Redner möge einsichtig,
tugendhaft und wohlwollend sein.3 Richtig und besonnen eingesetzt, kann Ethos dazu beitragen,
den geneigten Leser von der „Richtigkeit“ des Verkündeten zu überzeugen. Zu den Standardmitteln
des Ethos gehören etwa die Einbindung des Auditoriums durch die Erreichung eines
Gemeinsamkeitsgefühls oder durch Beteiligung des Auditoriums in Form von direkter Ansprache
und Fragen. Bestimmte Argumentformen, nämlich der Rückgriff auf Autoritäten, und auch die
Abgrenzung einer Gruppe von der anderen („die da oben“ – „wir hier unten“ etc.) können ebenfalls
1
Die gesamte Passage stammt aus Johnston, Die rhetorische Architektur erstinstanzlicher
Strafentscheidungen, in: Katharina Gräfin von Schlieffen (Hg.), Reihe Recht und Rhetorik, Bd. 5, Frankfurt am
Main 2015.
2
Franz-Hubert Robling, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, hrsg. v. Gert Ueding, Tübingen 1994,
Sp. 1516 f. (1517).
3
Dazu Aristoteles, Rhet. II.5, 1378a.
Ethoselemente sein. Auch die Gewährung eines Einblicks in das private/persönliche Leben des
Rhetors ruft Sympathien und Identifikation im Auditorium hervor.
1c
„Unserer Gesellschaft“/„unsere Sicherheitsbehörden“/„wir“ (passim)
Die überschwängliche Verwendung der Personalpronomen „wir“, „uns“, „unser“ u. dergl. deutet
darauf hin, dass es Lischka darauf ankam, verschiedene Teile des Auditoriums besonders über das
Mittel des Ethos anzusprechen. Dadurch, dass diese Pronomina den Rhetor in die jeweils definierte
Gruppe einbeziehen, stellt er sich als diesen Gruppen zugehörig dar. Die größte Gruppe dürften
dabei die Deutschen sein, dann die Abgeordneten, hernach die Sozialdemokraten. Das
Personalpronomen „wir“ und sein Flexionsformen erzeugen dabei auch eine gewisse Nähe zum
Gegenstand der Rede. Es geht nicht um „Sicherheitsbehörden“, sondern um „unsere“
Sicherheitsbehörden. Durch den Possessivaspekt löst der Rhetor ein Gefühl der Verantwortung aus:
„Was ich besitze, darum kümmere ich mich“, „Ich bin verantwortlich für das Meine“, „Eigentum
verpflichtet“.
„Schuldanerkenntnis“ (Z. 16/17)
Einen ganz ähnlichen Mechanismus nutzt Lischka mit dem Ausspruch „Mit dieser Schuld […] müssen
wir alle leben“. Auch hier werden alle einer Gruppe zugeordnet. Es gibt für den Rhetor nicht „den“
Schuldigen, sondern alle tragen die Schuld an dem Geschehen. Damit nimmt er dem Auditorium die
Chance, sich durch Distanzierungsmechanismen (etwa den Gedanken „Viele, aber nicht alle, also ich
auch nicht“) aus der Verantwortung zu stehlen. Dadurch, dass Lischka ihnen Schuld vorwirft,
entfesselt er das schlechte Gewissen, das ein hervorragender Motivator (z. B. zum Beschluss eines
Gesetzes) sein kann. Freilich spricht er hier zuvörderst alle Abgeordneten und die in Rede
stehenden staatlichen Stellen an, doch auch der Bürger als Zuhörer kann sich durch das „wir alle“
ohne Weiteres angesprochen fühlen. Der kann indes kein Gesetz durchwinken, wohl aber
wachsam(er) sein.
„Für uns Sozialdemokraten“/ „wir Sozialdemokraten“
Lischka beschwört hier den Parteigeist: Zum einen identifiziert er sich gegenüber seinen eigenen
Kollegen als überzeugter Sozialdemokrat, zum anderen zeigt er dem Rest des Bundestages „klare
Kante“, wie es modern-neogermanistisch heißt. Aus dem sicheren Hafen der zweitstärksten
Fraktion im Bundestag gibt er auch den Bürgern eine Garantie, dass es die Sozialdemokraten sein
werden, die erstens eine Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz gestärkt
wird (Z. 36) und die zweitens dafür Sorge tragen werden, dass es keine Zusammenarbeit mit
Schwerstkriminellen geben wird (Z.69). Damit ist dieses Ethoselement – Identifizierung mit einer
Gruppe/positives Versprechen an die Betroffenen – gleichzeitig ein Wahlkampfinstrument.
„Rechtsstaat“/„Rechtsstaatlichkeit“
(Z. 52; 67/68)
Der mehrmalige Bezug auf den Rechtsstaat identifiziert Lischka als jemanden, der an die Prinzipien
des Rechtsstaats glaubt, sie achtet und verteidigt. Damit positioniert er sich als „guter Mensch“, als
Ritter ohne Furcht und Tadel; der Zuhörer, der im Zweifel selbst an die mit dem Rechtsstaat
konnotierten freiheitlich-demokratischen Grundwerte glaubt, fühlt sich durch den Redner bestätigt,
ist eher geneigt, dem sich so positionierenden Rhetor zuzustimmen.
„Fachwissen/Zahlen“ (Z. 9/10; 25 ff.; 55)
Wiewohl gerade diese beiden Aspekte zumeist dem Logos zugeschlagen werden, wäre es nicht
verkehrt, darin auch Ethos am Werk zu sehen: Wer sein Publikum durch Fachwissen (und dazu
gehören nun einmal Zahlen, weil sie für viele der Inbegriff des Beweises schlechthin sind) zu
überzeugen sucht, transportiert unweigerlich die Botschaft, dass er über Expertise im Gegenstand
der Rede verfügt; ob das über Jahre angesammeltes Expertenwissen des Rhetors selbst oder
anlässlich des Vortrags angeeignetes fremdes Wissen, macht für diese Spielart des Ethos kaum
einen Unterschied: Der Zuhörer neigt dazu, einen „Experten“ bzw. jemanden, der den Anschein hat,
etwas von dem Vorgetragenen zu verstehen, eher sympathisch zu finden, ihm eher zu glauben und
damit auch eher zuzustimmen.
ZU AUFGABE 2
2a
Pathos4 ist der Sammelbegriff für alles Emotive im Gesamtauftritt des Redners. Pathos zielt auf das
Herz des Auditoriums, will aufrühren, entfachen, antreiben oder aber beschwichtigen, besinnen,
bestärken; der tatsächliche Bezug zum Gegenstand der Argumentation ist allenfalls zweitrangig:5
Pathos ist die Summe aller nichtargumentativen Stilmittel und „macht [damit] die emotionale
Dimension des Argumentierens aus“6. Aristoteles formuliert die Zielrichtung des Pathos so: Sein
Einsatz erfolge „[…] in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen […]7.
Auch bei Cicero finden sich Hinweise auf das Wesen des Pathos: „[…] weil alle Kraft und Methode
der Rede sich in der Besänftigung oder Erregung der Zuhörer entfalten muss“8. Daraus folgt in
erster Linie, dass unter Pathos das berühmte „blutige Hemd“, das der Ankläger dem Richter vor
Augen hält, gemeint sein muss, aber auch die Szenerie der Rede (Örtlichkeit und Aufmachung),
dazu Mimik, Gestik, Stimme, Aussprache, Körpersprache und Erscheinungsbild des Rhetors9 und
schließlich all solche Wendungen, die nicht zuvörderst begründend sind. Das Arsenal des Pathos
umfasst damit sowohl stark emotive Ausdrucksweisen, wie sie in Metaphern, Vergleichen,
Antithesen und Hyperbeln zu finden sind, aber genauso die subtilen Formulierungen der
betonungserheischenden Wortstellungsveränderung (z. B. Inversion, Anapher, Epipher, Epanodos,
Ellipse, Epanalepse usw.). Allgemein unterschieden werden Tropen10 und Figuren11, wobei ein
„Tropus […] die kunstvolle Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder Ausdrucks
mit einer anderen [ist]12, „eine Figur […]eine Gestaltung der Rede, die abweicht von der
4
πάθος – Leiden, Erfahrung.
Vgl. Katharina Sobota (von Schlieffen), Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts, in: Joachim Dyck/Walter Jens/Gert Ueding (Hrsg.), Rhetorik. Ein
internationales Jahrbuch, Bd. 15, Juristische Rhetorik, Tübingen 1996, S. 115 [121].
6
Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik, 4., neub. u. erw. Aufl., Heidelberg 2006, Rn. 1143 [Hervorh. v. Verf.].
7
Aristoteles, Rhet. I.2, 1356a: „ἐν τῷ τὸν ἀκροατὴν διαθεῖναί πως“ (en to ton akroatän diatheinai pos).
8
Marcus Tullius Cicero, De Oratore (Über den Redner), Ausgewählte Werke Bd. IV, hrsg. u. übers. v. Theodor
Nüßlein, Düsseldorf 2008, I. 17: „… ; quod omnis vis ratioque dicendi in eorum, qui audiunt, mentibus aut
sedandis aut excitandis expromenda est; …“
9
Vgl. Wolfgang Gast, Juristische Rhetorik, Rn 1144.
10
τρόπος – Art und Weise, Weg, Kurs.
11
Altgr. σχήματα (schämata) – Haltungen.
12
Marcus Fabius Quintilianus, Institutio Oratoria (Ausbildung des Redners). Zwölf Bücher, lat. u. dt., hrsg. u.
übers. v. Helmut Rahn, 5., unver. Aufl. Darmstadt 2011, VIII. 1.
5
allgemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Weise“13. Gemeint ist hiermit die Stellung
mehrerer Wörter im Satz. [Die Unterscheidung von Tropen und Figuren war nicht gefordert,
sondern ist hier nur der Vollständigkeit halber in aller Kürze eingefügt].
2b
Das Pathos der Leidenschaft bewegt, rüttelt auf, erschreckt, erschüttert, romantisiert. Eine
bildhafte, schmuckvolle Ausdrucksweise ist das Markenzeichen dieses Mittels, das vor allem
tiefgreifende Gefühle wie Angst, Liebe, Hass, Trauer, Freude, Stolz, Jubel, Missgunst hervorrufen
soll. Typisch für das Pathos der Leidenschaft sind daher Metapher, Vergleich, Synekdoche,
Allegorie, Symbol, Emphase etc. Das Pathos der Sachlichkeit ist subtiler: Es verlässt sich auf Satz(stellungs-)figuren wie Inversion, Ellipse, Brachylogie, Asyndeton, Anapher, Epipher, Epanodos,
Anadiplose, Repetitio etc. Es wird vor allem im professionellen Textumfeld eingesetzt (z.B. von
Juristen), um die Argumentation zu unterstützen, bestimmte Aspekte zu unterstreichen und
Betonungswirkung zu erzielen (aber auch speziellere Effekte), wo das „lautere“ leidenschaftliche
Pathos (vermeintlich) fehl am Platze wäre oder als unangebracht empfunden werden könnte.
2c
„Kein unwesentlicher Baustein“= Litotes, Metapher (Z. 21)
Allgemeine Funktionen der Metapher:
•
•
•
Vereinfachung komplexer Zusammenhänge
Erhöhung der Einprägsamkeit
Verbildlichung: Ansprache eines erinnerungsstarken Reizes (Sehen)
Konkrete Funktionen (kontextbezogen)
Der Baustein ist ein kleiner Teil eines Ganzen, aber eben ein essenzieller. Ohne die Bausteine
gibt es kein Bauwerk. Ist er noch wesentlich, dann weckt dies Assoziationen mit dem Begriff des
Grundsteins, eines tragenden Teils eines Konstruktes: Kann es ohne einige seiner Bestandteile
stehen, so denn aber nicht ohne seine „wesentlichen“ Bestandteile (weitere Assoziation
„Bausteine des Lebens“). Lischka verdeutlicht damit, dass das geplante Gesetz das Problem
nicht in Gänze löst, aber immerhin wichtig ist, um mittel- bis langfristig zu richtigen Lösungen zu
gelangen (klein, aber eben nicht unwesentlich). Hinzu kommt:
Allgemeine Funktionen der Litotes:
•
13
Drastische Hervorhebung einer Eigenschaft/Sache durch ihre doppelte Verneinung: Die
Konnotation „nicht X“ kann in manchen Fällen stärker wirken als „X“. Bsp. „Er ist kein
Feind.“ Diese definitio ex negativo ist auch in der Rechtswissenschaft ein beliebtes
Mittel (vgl. etwa § 212 StGB). Dies mag darin begründet liegen, dass etwas von einem
strenglogischen Standpunkt aus einfacher über seine abwesenden als über seine
gegebenen Merkmale zu definieren sein kann. Ein Begriff X kann viele (auch unerkannte
oder unklare) Merkmale haben, was zumeist irrelevant wird, wenn man den Begriff
schlicht verneint. Jedenfalls: Das Wesentliche tritt sofort und klar hervor.
Marcus Fabius Quintilianus, a.a.O., IX. 4.; zur Unterscheidung zwischen Figuren und Tropen erhellend und
sehr ausführlich Josef Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode, München 1974, S. 259 ff.
•
Transportiert, dass etwas gerade keine Floskel sein soll.
Konkrete Funktionen (kontextbezogen)
„Ein wesentlicher Baustein“ – das hätte dem Redner keiner abgenommen, das klingt nach einer
klassischen Floskel, weil die Politik und die Rechtswissenschaft das Wort „wesentlich“ durch
übermäßigen Gebrauch faktisch seiner Bedeutung beraubt haben; unter lauter wesentlichen
Aspekten finden sich kaum noch weniger wichtige (Wer will denn auch eine solche Priorisierung
vornehmen?). Um aber nun den ungewöhnlichen, zwar kleine, aber tatsächlich einschneidende
Bedeutung des Gesetzes klarzustellen, hat sich Lischka hier für die Litotes entschieden. Die
doppelte Verneinung „kein unwesentlicher“ sorgt dabei für eine weitere Herausstellung der
Wesentlichkeit.
„Schlapphutprovinzen“= Metapher, Kavillation, Neologismus, Personifikation (Z. 32)
Allgemeine Funktionen der Kavillation:
•
•
•
•
Herabsetzung des Ziels (Lächerlichkeit)
Erhöhung der Einprägsamkeit
Belustigung des Publikums
Ggf. Reaktionshervorrufung
Allgemeine Funktionen des Neologismus
•
•
•
•
Einprägsamkeit
Wortwitz (und damit Sympathieerheischung)
Überraschung
Ausdruckseffizienz
Allgemeine Funktionen der Personifikation
•
•
•
De-Objektifizierung (Annäherung)
Steigerung der Nachvollziehbarkeit
Darstellung von Komplexität mit einfacheren Mitteln
Konkrete Funktionen (kontextbezogen)
Lischka greift die Regierungen der Bundesländer an, weil sie nicht (ausreichend)
zusammenarbeiten, um so etwas wie den NSU-Skandal zu verhindern. Er tut dies natürlich
gezielt, um eine künftige Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden – und darum geht es ja im
Kern im Gesetzesentwurf – zu befördern. Der „Schlapphut“ weckt Assoziationen mit Faulheit,
Schläfrigkeit, Mangel an Eifer, während die „Provinzen“ Bilder des sprichwörtlichen
verschlafenen Nestes wecken, des hinterwäldlerischen Rückzugsortes, den keine Nachrichten
erreichen und wo man untätig herumsitzt, statt zu handeln. Wenn diese Provinzen noch „vor
sich hinwerkeln“, wird das Bild des phlegmatischen Dilettantismus komplett: Diese
Ausdrucksweise impliziert planlose, vielleicht sogar schädliche Amateurhaftigkeit. All diese
Gedanken Transportiert der Rhetor in nur ein paar Worten: „Schlapphutprovinz“ ist daher ein
Beispiel nicht nur von Ausdruckseleganz, sondern auch von Ausdruckseffizienz (was im Übrigen
für rhet. Fig. der Kategorie „Tropus/Bild“ nicht untypisch ist). Der Schlapphut kann auch eine
Anspielung auf die Geheimdienste des Mittelalters sein und damit gleichzeitig wieder eine
Ohrfeige für die Sicherheitsbehörden: Methoden (und Zusammenarbeit) wie im Mittelalter 
Assoziation ist „primitiv, alt, langsam, unmodern“.
„Dass…dass…dass“ =Anapher, Parallelismus, Trikolon, Enumeration (Z. 24/25)
Allgemeine Funktionen der Anapher
•
•
•
Einprägsamkeit
Gewöhnungs-/Trainingseffekt
Kumulation/Sammlung
Allgemeine Funktionen des Parallelismus
•
•
•
visuelle und audiale Darstellung von Gleichförmigkeit
Etablierung eines Musters
Einprägsamkeit
Konkrete Funktionen (kontextbezogen)
Ganz bewusst setzt Lischka hier die Verschränkung der Anapher und des Parallelismus ein, um das
gleichförmige Versagen der Sicherheitsbehörden (das im Übrigen auch in den Sätzen selbst zum
Ausdruck kommt) in den Blick des Auditoriums zu rücken. Immer und immer wieder setzt er an, um
quasi denselben Inhalt (Informationen wurden nicht korrekt behandelt) in das Gedächtnis des
Publikums einzuhämmern: Das bleibt hängen, und zwar auch über die Rede hinaus. Der
Parallelismus unterstreicht dabei, dass die fehlerhaften Vorgänge wie Automatismen ohne Sinn und
Verstand vonstatten gegangen sind, wie programmierte Maschinen ohne den Blick fürs
Wesentliche. Ein Versagensmuster tritt hervor. Die Assoziation: Muster laufen immer gleich ab,
wenn man sie nicht durchbricht – zum Beispiel mittels eines Gesetzes. Das Trikolon trägt den sich
unseren Ohren und unserem Verstand anbiedernden Dreiklang (Assoziation: Vollständigkeit) bei.
[Diese drei Analysen verstehen sich pars pro toto für alle anderen möglichen Analysen rhetorischer
Figuren im Text. Sie sind aus hiesiger Sicht nahezu vollständig und bilden in etwa einen Grad der
Bearbeitung ab, der die volle Punktzahl für die jeweilige Analyse gezeitigt hätte. Indes sind dies nur
Beispiels: Es ging weniger um richtig/falsch, sondern um kreatives Überlegen und Einordnen der
Figuren in den konkreten Kontext.]
ZU AUFGABE 3
3a
Logos spricht den Verstand an und ist der Schlüssel zur Überzeugung eines Auditoriums. Logos ist
das mit Fakten, Zahlen, Daten und Strukturen ordnende und beweisende, plausibilisierende
Element der Rhetorik. Aristoteles sagt, wir seien dann überzeugt (glauben etwas), wenn wir
zugleich glaubten, dass es bewiesen sei. Diesen Effekt soll Logos erzeugen. Es besteht daher aus
Argumenten, deren häufigste Form das Enthymem ist, das aus einer Behauptung und einer
Begründung (oder aus mehreren Begründungen) besteht, deren Verbindung durch meist topische
Übergänge explizit oder implizit plausibilisiert wird.
3b
Auf den ersten Blick mag diese Aufgabe unfair erscheinen, aber:
Das Enthymem war in der Folge erklärt, jedenfalls die Hauptaufgabe: Suchen Sie zwei
Behauptungen und deren zugehörige Begründung(en). Das hätte so aussehen können:
Z. 45:
Behauptung: NSU hatte die Möglichkeit, jahrelang mordend und raubend durch Deutschland zu
ziehen.
Begründung: Sicherheitsbehörden haben zu wenig miteinander geredet.
Übergang (Plausibilisierung der Begründungsbeziehung): Informationen über Verbrechen müssen
(vollständig und rasch) weitergegeben werden, damit schnelle grenzübergreifende Maßnahmen
möglich sind. (explizit etwa Zeile 27/28: „So konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen“)
Schaubild:
NSU hatte die Möglichkeit,
jahrelang mordend und raubend
durch Deutschland zu ziehen. (BEH)
Zeile 27/28:„So konnte nirgendwo ein Gesamtbild der Lage entstehen.“
(ÜBERG)
Sicherheitsbehörden haben zu wenig
miteinander geredet. (BEGR)
Z. 55 ff.
Behauptung (implizit, arg. ex negativo): Man kann gerade nicht auf V-Männer verzichten.
Begründung: Dann können kriminelle und militante Gruppen ungestört Anschläge und schwerste
Verbrechen planen.
Übergang (Plausibilisierung der Begründungsbeziehung): Diese Gruppen betreiben ihre Aktivitäten
seit jeher nicht offen, sondern konspirativ und abgeschottet.
Schaubild:
Man kann gerade nicht auf VMänner verzichten. (IMPL. BEH)
Zeile 57-59: „Diese Gruppen betreiben ihre Aktivitäten seit jeher nicht
offen, sondern konspirativ und abgeschottet.“ (EXPL. ÜBERG.)
Dann können kriminelle und
militante Gruppen ungestört
Anschläge und schwerste
Verbrechen planen. (BEGR.)
Auch hier galt: Es musste nur das Grundgerüst der Aufgabe begriffen werden. Im Übrigen kann in
einem universitären Studium, auch und gerade einem Fernstudium, verlangt werden, dass zur
Vorbereitung einer Klausur die Schriften und Forschungsbereiche der Lehrstuhlinhaberin zumindest
im Ansatz studiert worden sind.
Mit 50 Punkten war die Klausur bestanden.
Schwierigkeitsfaktor:
Zeit, Zeiteinteilung
Durchfallquote:
~ 40 %
Höchste Punktzahl:
93/100
Niedrigste Punktzahl:
16/100
Teilnehmer:
149
Konzeptbogen 1
Konzeptbogen 2
Konzeptbogen 3
Konzeptbogen 4
Konzeptbogen 5
Lösungsbögen
1
Lösungsbögen
2
Lösungsbögen
3
Lösungsbögen
4
Lösungsbögen
5
Lösungsbögen
6
Lösungsbögen
7
Lösungsbögen
8
Lösungsbögen
9
Lösungsbögen
10
Lösungsbögen
11
Lösungsbögen
12
Lösungsbögen
13
Lösungsbögen
14
Lösungsbögen
15
Lösungsbögen
16
Lösungsbögen
17
Lösungsbögen
18
Lösungsbögen
19
Lösungsbögen
20