Basel.Stadt. | Dienstag, 29. Dezember 2015 | Seite 12 Eine kleine Pille, um das Hirn zu dopen Auch Basler Studenten nehmen die leistungssteigernde Substanz Methylphenidat Von Franziska Laur Basel. Matthias E. Liechti, Leiter der Forschungsgruppe Psychopharmakologie am Universitätsspital Basel, will dem Trend Richtung Hirndoping besser auf den Grund gehen. So haben er und sein Uni-Team gemeinsam mit der Uni Zürich eine Umfrage unter Schweizer Studenten gemacht. Sie schrieben 29 262 Personen an und befragten sie nach ihrer Einstellung zu Substanzen wie Ritalin, Antidepressiva, Modasomil und Betablockern. 3056 Studenten sandten den beantworteten Fragebogen zurück. 22 Prozent gaben an, schon einmal leistungssteigernde Mittel genommen zu haben. 6,2 Prozent davon haben ihrer Konzentration schon einmal mit einer Ritalin-Pille auf die Sprünge geholfen. Breit angelegte Studien gibt es erst in den USA. Dort gaben 16 bis 25 Prozent aller befragten Studenten an, vor wichtigen Prüfungen leistungssteigernde Medikamente einzunehmen. Man darf daher davon ausgehen, dass die Resultate der neusten Studie von Liechti und seinem Team trotz dem eher geringen Rücklauf der Fragebogen repräsentativ sind. Trockenes Hirnfutter. Viele Studenten helfen mit leistungssteigernden Substanzen nach, um vor Prüfungen lange und konzentriert arbeiten zu können. Foto Keystone Aufputschmittel mit Nebenwirkungen Nicht erst, seit Lynette in der amerikanischen Fernsehserie «Desperate Housewives» ihrem Söhnchen das Ritalin klaut und darauf aus ihrer chronischen Müdigkeit findet, weiss man auch hierzulande, dass das Mittel wirkt. Ritalin wird aus dem Wirkstoff Methylphenidat hergestellt – ein Mittel aus der Gruppe der Amphetamine mit stimulierender Wirkung auf das zentrale Nervensystem. Es wird zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS und bei einer Narkolepsie eingesetzt. Schon seit Jahren wird es auch als Aufputschmittel missbraucht, etwa zur Förderung der Leistungsfähigkeit oder als Partydroge. Das Präparat fällt unter das Betäubungsmittelgesetz. Der Besitz des Mittels ist legal, wer es jedoch verschrieben bekommt und verkauft, macht sich strafbar. Zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen gehören Nervosität, Schlaflosigkeit, Bauchschmerzen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit. ffl Verbrauch ist explodiert Der Verbrauch von Methylphenidat ist in den vergangenen 15 Jahren in westlichen Ländern nahezu explodiert. Schweizweit hat er sich seit dem Jahr 1999 verneunfacht. Gemäss der Statistik von Swissmedic ist er seit dem Jahr 2005 von 140 Kilogramm auf 346 Kilogramm jährlich gestiegen. Auch der Verkauf des Parkinson-Medikaments Sinemet und des Arzneimittels Modafinil gegen die sehr seltene Schlafkrankheit Narkolepsie hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Viele Mediziner lehnen allerdings den Gebrauch dieser Medikamente zur Leistungssteigerung ab. Alain di Gallo, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel, deklariert es klar als Missbrauch einer medizinischen Substanz. Ein solches Verhalten sei nicht zuletzt respektlos gegenüber Personen, die ernsthaft krank sind. Der deutsche Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky hingegen vertritt die These, dass Menschen auch mit natürlichen Stimulanzien ihr Hirn und Bewusstsein manipulieren: beim Schokoladeessen, beim Kaffeetrinken oder Zigarettenrauchen. Wenn einem die Einnahme von leistungssteigernden Medikamenten helfe, von den Mitmenschen wahrgenommen und respektiert zu werden, sei es auch für sogenannt gesunde Menschen absolut vertretbar, sie zu konsumieren. Matthias E. Liechti geht nicht so weit. Doch auch für ihn sind die Grenzen fliessend. «Wer am Abend vor einer Prüfung ein Schlafmittel oder Alkohol konsumiert, um besser schlafen zu können, nimmt auch Einfluss auf seinen Energiehaushalt», sagt er. Er will das Thema weiterverfolgen: «Es bräuchte einen Diskurs darüber, welche Effekte Hirndoping auf Studenten und Forscher und deren akademische Leistung haben könnten», sagt er. Eine Überwachung an den Universitäten erachtet er jedoch als schwierig. Keine Kontrolle möglich Das ist auch der Standpunkt der Universität: «In jeder Studienordnung gibt es einen Passus, der sich gegen unlauteres Verhalten und unlautere Beeinflussung von Ergebnissen oder Abschlussarbeiten richtet», sagt UniMediensprecher Matthias Geering. Allerdings dachte man beim Erstellen dieser Studienordnung eher an Plagiate, also an die Situation, dass ein Student die Arbeiten Dritter verwerten und sich als Autor ausgeben könnte. Dann kann man von der Uni ausgeschlossen werden. Doch die Einnahme von Substanzen vor Prüfungen nachzuweisen, sei kaum möglich. Die Uni setzt auf den gesunden Menschenverstand der Studierenden. Denn klar ist, dass Hirndoping nicht klüger macht: «Mit Ritalin kann man vielleicht länger arbeiten. Doch intelligenter macht es nicht», sagt Liechti. Für ihn ist durchaus denkbar, dass durch die Verwendung von solchen Substanzen ein Student reizbarer und aggressiver wird und dadurch eine unangenehme Lern- und Arbeitsatmosphäre entsteht. Er und sein Team untersuchen aktuell daher, wie Ritalin oder Modasomil akut die soziale Wahrnehmung verändern, die Gefühle und das soziale Verhalten beeinflussen. Nicht high, sondern nüchtern Studenten, welche leistungssteigernde Substanzen auf Amphetaminbasis eingenommen haben, berichten von guten Konzentrations- und Arbeitsfähigkeiten. Das Medikament mache nüchtern, es stärke zwar nicht unbedingt die Arbeitsmoral, doch man lasse sich nicht mehr so leicht ablenken. Die verschreibungspflichtigen, leistungssteigernden Medikamente sind mittlerweile problemlos erhältlich. So ist auf dem Uni-Schwarzmarkt eine Pille Ritalin für zwei Franken zu haben. Medizinstudenten haben eh gute Quellen und kommen an die Medikamente. Andere können zu einem Arzt gehen und über anhaltende Konzentrationsbeschwerden klagen. Immer häufiger bekommen auch Erwachsene den Stempel ADHS und damit ein Ritalin-Rezept. «Wer unbedingt will, bekommt eine Diagnose», sagen mehrere Fachleute, die mit dem Thema vertraut sind. Bei der Studie von Matthias E. Liechti und seinem Team war der grösste Kritikpunkt aber die Fairness. Zwei Drittel der Befragten verglichen die pharmazeutische Leistungssteigerung mit Doping im Sport und 80 Prozent waren der Meinung, Leistungen unter Hirndoping verdienten geringere Anerkennung und seien in einem kompetitiven Umfeld nicht akzeptabel. Liechti könnte sich in diesem Zusammenhang vorstellen, ein Seminar durchzuführen, wo Hirndoping im Kontext anderer Strategien diskutiert wird. METHYLPHENIDAT IN DER SCHWEIZ Liefermenge in Kilogramm an Detailhandel 343 350 326 338 346 2013 2014 294 300 256 250 227 195 200 170 150 140 100 50 0 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Grafik einer Leistungsdroge. Seit vielen Jahren nimmt der Verbrauch von Methylphenidat auch in der Schweiz kontinuierlich zu. Grafik BaZ/mm, Quelle Swissmedic Die Droge einer Leistungsgesellschaft Die BaZ traf einen Studenten und langjährigen Ritalinkonsumenten Von Serkan Abrecht Basel. Ich sitze mit Viktor* an einem vergilbten Laminattischchen und versuche im kalten Wind eine Zigarette zu drehen, während er kurz in seiner Tasche kramt und mir ein kleines, orange gestreiftes Päckchen rüberschiebt. Methylphenidathydrochlorid: 20 Tabletten à 10 Milligramm. Ritalin, vertrieben und produziert von der Novartis. Das Wundermittel der verzweifelten Kleinkinderpädagogen und Herkules-Arznei für Studenten im Lernstress. Umstritten, bewundert, rezeptpflichtig. Die winzigen weissen Tabletten sind verpönt und doch die Modedroge des 21. Jahrhunderts. Grob nach der Populärkultur beschrieben, ist ihre Wirkung simpel: Zieh es durch die Nase, mach Party. Schluck es runter, mach Karriere. Obwohl sich die kleine Pille den Rufmord von renommierten Neurobiologen und Massenmedien gefallen lassen musste, blieb sie populär. Beliebt bei verzweifelten Müttern, die ihre Söhne ruhigstellen möchten, beliebt bei Psychiatern, die etwas an die überforderten Eltern verschreiben können und sehr beliebt bei Studenten und Profes- soren, da es sie fokussiert. «An den Hochschulen ist es total in», meint Viktor. «War es immer, bleibt es auch.» Wieso ist es ein solcher Renner? «Es stellt dich ruhig, fokussiert dich, schraubt die Hintergrundgeräusche herunter. Ein Medikament, eine Droge wenn du so willst, zum Arbeiten, zum Leisten. Geeignet für Erwachsene unter Leistungsstress, schlecht für Kinder.» Im eigenen Kopf gefangen Viktor hat zehn Jahre lang Ritalin eingenommen, wegen vermeintlicher ADHS-Erkrankung. «Die Wirkung von Ritalin auf ein Kind oder einen Teenager ist schon ziemlich krass. Ein Gefühl der Singularität legt sich über einen, die Affektivität wird stark eingeschränkt», meint Viktor ernst und gestikuliert mit seinen Händen. «Du kannst dich besser konzentrieren, das ist klar. Aber ist es richtig, ein Kind mit einem auf Amphetamin basierenden Medikament ruhigzustellen? Ich war wild, ich war anstrengend, doch Ritalin hat mich in meinem eigenen Kopf gefangen. Das führte dazu, dass ich manchmal in meinem Zimmer sass und weinte, weil ich nicht wusste, was mit mir geschieht.» Für angehende Schweizer Akademiker stehen jetzt Abschlussprüfungen bevor: Stundenlanges Lernen und konzentriertes Examinieren wird ihnen abverlangt. Da ist manchem Studenten jedes Hilfsmittel recht, den Lernprozess zu beschleunigen oder zu intensivieren. Sei es mit einer erhöhten Tagesdosis an Koffein, oder eben verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. «Nicht so die Schweizer Studenten», meint die Universität Basel und beruft sich dabei auf eine Studie des Universitätsspitals Basel und des Schweizer Instituts für Suchtund Gesundheitsforschung der Uni Zürich. «In der Schweiz wird ehrlich studiert», schreibt die Uni Basel in einer Medienmitteilung. «Kognitive Leistungssteigerung durch Arzneimittel ist unfair – diese Meinung vertreten 70 Prozent der Studierenden.» Folglich heisst dies, dass knapp ein Drittel der Studierenden nichts gegen die Einnahme von Hirndoping-Medikamenten wie Ritalin oder Modasomil einzuwenden hat. 22 Prozent geben sogar an, dass sie es schon einmal zum Lernen oder Schreiben von Prüfungen genutzt haben, oder dies immer noch tun. Demnach greift fast ein Viertel der 3000 befragten Studis auf rezeptpflichtige Medikamente zurück, um sich das Lernen zu erleichtern. «Hirndoping ist unfair.» Zurück auf dem Dach einer Basler Kneipe lacht Viktor über die kleine Phrase der Uni. «Ritalin macht nicht intelligenter. Deine Werkzeuge, dein Potenzial, hast du schon. Ritalin hilft dir nur, diese besser zu nutzen. Wer zu blöd ist, die abverlangte Materie zu verstehen, dem bringt auch Ritalin nichts.» Die «Augenwischerei» der Universitäten hält Viktor für verständlich. «Sie wollen eben ein bereits existierendes Phänomen nicht wahrhaben. Du kannst dir sicher sein, pro Studiengang oder Klasse auf mindestens jemanden zu treffen, der mit Medikamenten handelt.» In den USA ist der Konsum von Amphetaminen in der Arbeitswelt schon lange gang und gäbe. In Europa hat sich der Trend in den vergangenen Jahren verstärkt, das Thema ist längst in Universitäten und Büros eingezogen. Nebst der Tatsache, dass es sich bei der Einnahme von Ritalin zur Leistungssteigerung um Medikamentenmissbrauch handelt, hat das Phänomen einen gesellschaftlichen Ursprung. So konstatieren mehrere Psychologen und Zukunftsforscher, dass es sich bei der verbreiteten Einnahme von Amphetaminen und Aufputschmitteln um ein Zeugnis unserer Leistungsgesellschaft handelt. Es wird im Berufsleben und an Hochschulen mehr Leistung und mehr Produktivität gefordert, also würde der Mensch auf Mittel zurückgreifen, um dies zu ermöglichen. Kein Phänomen, sondern Realität Trotz der schlechten Erfahrungen als Kind, vertritt auch Viktor klar die Meinung, dass Ritalin eine Hilfe im Berufs- und Studentenleben ist. «Von dir werden ständig Ergebnisse und Resultate unter Zeitdruck erwartet. Wie du diese erreichst, bleibt dir selber überlassen.» Es sei kein schleichendes Phänomen mehr, sondern Realität. «Auch wenn die Uni Basel das nicht wahrhaben möchte», meint er. Armutszeugnis oder Bereicherung? Darüber wird europaweit an Podiumsdiskussionen debattiert. Auch Genussmittel wie Kaffee können Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit haben, meint der deutsche Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky. Dies könne man auch nicht unterbinden, also wieso sollte man den Konsum von Pillen verbieten, die konzentrierter machen? * Name von der Redaktion geändert
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