Schalom, mit diesem hebräischen Friedensgruß möchte ich Sie alle heute hier im Haus des Gastes willkommen heißen. Mit Schalom begrüßte mich Herbert Präger am Telefon, und mit Schalom beendeten wir unsere zahlreichen Gespräche, die wir in den vergangenen drei Jahrzehnten miteinander führten, bevor er Ende 2010 im Alter von 87 Jahren in Israel verstarb. Bevor ich wieder auf Herbert Präger zurückkomme, möchte ich mich zunächst für die musikalische Begrüßung durch die Sängerinnen von PopCHORn bedanken. Der Chor unter der Leitung von Mechthild Lorenz gestaltet erstmalig den musikalischen Rahmen unserer Gedenkveranstaltung und wird von Harald Schmidt am Klavier begleitet, den wir schon mehrfach anlässlich des 9. November gehört haben. Ich danke allen Beteiligten auf der Bühne ganz herzlich. Zurück zu Herbert Präger. Sein Name wird vielen von Ihnen bekannt sein. Sie werden sich an den Laaspher Juden erinnern, der in der Schloßstraße aufgewachsen war, im Alter von 20 Jahren nach Auschwitz deportiert wurde, als Häftling mit der Nummer 105010 die Zwangsarbeit in verschiedenen Lagern überlebte und schließlich Anfang Mai 1945 im Nebenlager Gusen des Konzentrationslagers Mauthausen in Österreich von der US-Armee befreit wurde. Er hat uns bei seinen Besuchen in Bad Laasphe mehrfach eindrücklich von seinen Erlebnissen berichtet. Am 9. November 1938 war Herbert Präger fünfzehn Jahre alt. Da hatte er die Mittelschule schon verlassen, nachdem der Rektor durch einen Schulleiter in SA-Uniform abgelöst worden war und er die Schikanen der Nazis nicht mehr ertragen konnte. Irgendwie hatte er von Gerüchten erfahren, dass an diesem Tag die Juden Zielscheibe von Angriffen der Nazis werden sollten. Er hatte seinen Vater darauf angesprochen und war auch zu Heli Gunzenhäuser in die Wasserstraße gegangen. Herbert Präger wollte sich den Schlüssel zur Synagoge geben lassen, um sich im jüdischen Gotteshaus in der Mauerstraße einzuschließen und sich den Angreifern entgegenzustellen, sollten sie einzudringen versuchen. Sein Vater Max Präger und auch Heli Gunzenhäuser hatten ihn beschwichtigt, so etwas werde in Laasphe nicht geschehen. Die beiden Männer sollten bald erkennen, wie sehr sie sich geirrt hatten. Reinhard Schmidt beschreibt in seinem Buch „Aus der Geschichte von Juden und Christen in Laasphe“ die Geschehnisse dieses Abends und der Nacht nach präzisen Angaben von Zeitzeugen. Danach trafen sich am Abend des 9. November 1938 die SA-Männer im Hotel „Westfälischer Hof“ gegenüber vom Bahnhof. Schon auf dem Weg dorthin hatten zwei Randalierer bereits im Haus des Juden Meier Scheuer Fenster eingeworfen und die Tür mit einer Axt eingeschlagen. Ich zitiere aus dem Buch von Reinhard Schmidt: „Nach ausführlicher Beratung setzte sich die SA Richtung Stadtmitte in Bewegung, wo sie gegen 22.30 Uhr eintraf. Jeder SA-Mann trug entweder eine Axt oder eine Hacke in der Hand. Einige Stunden herrschte furchtbare Stille. Eine große Spannung lag in der Luft, weil jeder etwas Schlimmes befürchtete. Bis in die Nacht hinein geschah jedoch nichts. So schliefen die meisten Laaspher, als gegen drei Uhr morgens das Klirren einiger Fensterscheiben sie aus dem Schlaf riss. Innerhalb relativ kurzer Zeit wurden alle Fensterscheiben der Judenhäuser zerstört und sämtliche Haustüren eingeschlagen. Auch Scheunen blieben nicht verschont. Besonders schlimm traf es die Synagoge. Den unmittelbaren Nachbarn des jüdischen Gotteshauses drehten die Randalierer die Sicherungen heraus, damit möglichst kein Zeuge sehen konnte, wer in dem Gebäude wütete und wie die Zerstörungen abliefen. Rücksichtslos wurde die Inneneinrichtung der Synagoge mit Äxten zerstört und auf die Straße geworfen. Möbel, Bücher und auch Thorarollen landeten auf einem Scheiterhaufen vor dem Gebäude und wurden, begleitet von dem Gejohle einiger der zahlreich erschienenen Schaulustigen, angezündet. Die Synagoge selbst wurde allein deshalb kein Raub der Flammen, weil die Randalierer die berechtigte Befürchtung hatten, dass das Feuer sich auf benachbarte Häuser ausbreiten könnte.“ So weit das Zitat. Zwölf der Beteiligten mussten sich nach dem Ende der Nazizeit im Juli 1949 vor dem Schwurgericht in Siegen verantworten. Den übereinstimmenden Presseberichten über die Vernehmung der Angeklagten ist zu entnehmen, dass ein Teil derer, die sich im „Westfälischen Hof“ getroffen hatten, später ins „Deutsche Haus“ zogen, um dort weitere Befehle zu erhalten. Ich zitiere: „Als sie durchgegeben wurden, setzte sich der Alarmapparat der Partei in Bewegung. Melder weckten die Parteigenossen und SA-Mitglieder und übermittelten ihnen den ausdrücklichen Auftrag, auf dem Wilhelmsplatz anzutreten, aber nicht in Uniform.“ Zitat Ende. Ich möchte an dieser Stelle bewusst auf Namensnennungen der Täter verzichten, sondern vielmehr beispielhaft diejenigen hervorheben, die in dieser Nacht Zivilcourage zeigten. Hier ist der in der Mauerstraße wohnende Landwirt Wilhelm Bode zu nennen, der gegen das Anzünden des Synagogenmobiliars protestierte und dafür von zwei wütenden Rabauken zusammengeschlagen wurde, wie Reinhard Schmidt berichtet. Bode war nach meiner Kenntnis auch der Hauptbelastungszeuge im Prozess in Siegen, der gegen den Rädelsführer der Nazis in der Pogromnacht aussagte. Er wurde nur von einem einzigen weiteren Zeugen unterstützt, während alle anderen, die im Vorverfahren den Hauptangeklagten belastet hatten, ihre Aussagen vor dem Schwurgericht zurückzogen. Ich möchte auch die drei mutigen Laaspher (wie sie Reinhard Schmidt bezeichnet) nennen, die sich an die Seite von Paul Buschhaus stellten, der im Haus der jüdischen Familie Gunzenhäuser in der Wasserstraße wohnte und in der Pogromnacht gegen das Vorgehen der Nazis protestierte. Es waren die Nachbarn Christian Roth, Friedrich Wehn und Gregor Bandleon, die für Paul Buschhaus und somit auch indirekt für die jüdische Familie Gunzenhäuser Partei ergriffen. Einer der drei sagte: „Wenn ihr dem Paul was antut, dann gibt es heute Nacht noch Tote.“ Nennen möchte ich auch die Familie Hagedorn, die am Eichelkamp wohnte, und Katharina Duchardt aus der Wasserstraße, die verängstigte jüdische Mitbürger in dieser Nacht bei sich aufnahmen. Wir wissen, dass nach dieser Pogromnacht die Schikanen gegenüber der jüdischen Bevölkerung zunahmen und dass es schließlich zu den Deportationen kam, die mit der fabrikmäßigen Ermordung nicht nur der Juden endeten. Nach meinem heutigen Kenntnisstand wurden am 28. April 1942 mit der zahlenmäßig größten Deportation 47 Juden von Laasphe und fünf weitere aus Banfe nach Zamosc in Ostpolen gebracht, von denen niemand überlebte. Am 27. Juli 1942 erfolgte die Deportation weiterer 18 Juden nach Theresienstadt – auch hier keine Überlebenden. Am 27. Februar 1943 wurden mit Herbert Präger und Rolf Goldschmidt zwei weitere Juden deportiert: das Ziel war Auschwitz; während Rolf Goldschmidt von einem Wachmann erschossen wurde, konnte Herbert Präger überleben, wie eingangs berichtet. Am 9. März 1943 wurden acht als „Zigeuner“ verfolgte Laaspher nach Auschwitz deportiert: es waren Angehörige der Familien Freiwald und Janson; auch sie wurden ermordet. Die letzten Deportationsopfer waren am 17. Mai 1943 der Synagogenvorsteher Max Präger, seine Frau und die beiden Töchter. Ihr Weg führte zunächst ins Ghetto Theresienstadt in der Nähe von Prag und von dort ins Vernichtungslager Auschwitz. Nur die Tochter Hannelore konnte überleben. Neben den beiden überlebenden Deportationsopfern Herbert und Hannelore Präger überlebten nur die jüdischen Mitbürger, denen es gelungen war, Deutschland zu verlassen. Über 50 Laaspher Juden konnten sich zwischen 1935 und 1941 ins Ausland in Sicherheit bringen. Es war der damalige Bürgermeister Otto Düsberg, der anlässlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht im Namen des Rates der Stadt die Laaspher Überlebenden des Holocausts in ihre Heimatstadt einlud. 15 Mitglieder der jüdischen Gemeinde folgten in 1988 zum Teil mit Angehörigen der Einladung und reisten aus den USA, Kanada, Israel und Süddeutschland an. Wie für andere war es auch für die vier Brüder Beifus das erste Wiedersehen seit den 30er Jahren. Nicht nur für die heimgekehrten jüdischen Bürger wurden die zahlreichen Veranstaltungen und Begegnungen zu einer Woche mit unvergesslichen Momenten. „Wir bitten Euch, die Überlebenden, in unserer und unserer Väter Namen um Vergebung,“ hatte Otto Düsberg 1988 in diesem Saal vor 400 Besuchern gesagt und hinzugefügt: „An die Toten, deren Namen im Gedenkbuch aufgeschrieben sind und die wir jetzt nennen wollen, können wir diese Bitte nicht mehr richten.“ An dem Gedenkbuch, das normalerweise in einer Vitrine im Rathaus ausliegt, sind Sie heute im Eingangsbereich des Saales vorbeigegangen und haben vielleicht auf die aufgeschlagene Seite geschaut. Jedem Opfer aus Laasphe ist eine Seite gewidmet. Das Buch hat über 70 Seiten. Damals verlasen die stellv. Bürgermeisterin Änni Schmidt und die Stadtverordnete Ruth Bayer die Namen der Ermordeten. Ich bin Otto Düsberg ausgesprochen dankbar dafür, dass er auch heute wieder hier in unserer Mitte ist und sich später am Verlesen der Namen beteiligen wird. Ebenso danke ich Marie Luise Nier, Werner Dürr und KlausPeter Wolff. Bevor wir von ihnen die Namen und Schicksale hören werden, wird Dr. Konrad Beyerle das Kaddisch beten. Er hat das bereits einige Male anlässlich unserer Gedenkveranstaltung getan und ich danke ihm sehr dafür, dass er auch heute wieder zu uns gekommen ist, um das Totengebet zu sprechen. Herzlich willkommen Dr. Beyerle. Gestatten Sie mir, dass ich heute noch einmal die selbstkritischen Fragen zitiere, die Otto Düsberg 1988 stellte: „Wer hätte mich davor bewahrt, mit Hand anzulegen, wenn ich am 9. November 1938 nicht drei Jahre, sondern ein 18jähriger SA-Mann gewesen wäre? Wer hätte mir gesagt, es ist Unrecht, das Gotteshaus der Juden zu schänden und ihre Geschäfte zu demolieren? Welche geistliche oder geistige Autorität hätte mich lehren können, zu begreifen, wie bitter es für jene sein musste, als sie plötzlich, nur weil sie anderen Glaubens waren, im Schützen-, Turn- oder Fußballverein nicht mehr mitmachen durften oder ihre im Ersten Weltkrieg erworbenen Orden und Ehrenzeichen nicht mehr zeigen durften? Diese Autoritäten gab es nicht. Die wissenschaftliche Pädagogik und die Lehrer haben versagt, die Kirche geschwiegen und die Justiz war gleichgeschaltet. Wer also hätte mir den Mut gegeben, mich zu meinem jüdischen Freund oder zu den Familien der Roma und Sinti zu bekennen, als alle Welt sie zu verachten begann?“ Otto Düsberg betonte schon in 1988 die Notwendigkeit der Erinnerung an die Ereignisse von damals mit der sich daraus ergebenden Konsequenz des Lernens aus unserer Geschichte und erklärte: „Den Opfern der Pogromnacht werden wir am besten gerecht, wenn wir heute für Frieden, Abrüstung und Völkerversöhnung eintreten.“ Ich bin überzeugt, diese Worte haben nichts an Aktualität eingebüßt. Nach den Tagen des Gedenkens und der Begegnungen mit den Überlebenden verfestigte sich der Gedanke, dass es eine Fortsetzung geben müsse. So entstand aus diesen Überlegungen der Bad Laaspher Freundeskreis für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der am 10. November 1991 in einer feierlichen Sitzung im Rathaus gegründet wurde. Seit der Vereinsgründung ist der Jahrestag der Pogromnacht ein fester Bestandteil im Veranstaltungskalender des Freundeskreises. Anfangs lud der Verein zu Gedenkstunden ins Rathaus ein. Seit 1997 unterschreiben der Bürgermeister und der/die Freundeskreisvorsitzende die Einladung und bringen damit zum Ausdruck, dass die Erinnerung an die Opfer ein gemeinsames Anliegen der Stadt Bad Laasphe und des Vereines ist. In unserem ersten Gespräch zur Vorbereitung des heutigen Abends war es für Bürgermeister Dr. Torsten Spillmann deshalb auch eine Selbstverständlichkeit, wie in den Vorjahren ein Grußwort zu sprechen. Leider kann er heute nicht teilnehmen, weil eine Bürgermeisterkonferenz zur Flüchtlingsproblematik anberaumt wurde und er nicht sicher sein kann, rechtzeitig zurück in Bad Laasphe zu sein. Das Grußwort der Stadt wird daher gleich die stv. Bürgermeisterin Christel Rother an uns richten. Ich möchte sie wie auch weitere Mitglieder des Rates und des Kreistages sowie Vertreter der Stadtverwaltung willkommen heißen und für die Teilnahme danken, ebenso den anwesenden Mitgliedern unseres Freundeskreises und den Vertretern der Presse. Die Juden, die Otto Düsberg in 1988 hier begrüßen konnte, waren auch einmal Flüchtlinge gewesen. Sie waren damals vor den Nazis geflüchtet und konnten nur überleben, weil sie im Ausland Aufnahme fanden. Heute flüchten viele Menschen vor Krieg und Verfolgung zu uns nach Deutschland. Zum Teil schlägt ihnen Fremdenfeindlichkeit und Hass entgegen. Obwohl es heute die geistlichen und geistigen Autoritäten gibt, die Otto Düsberg in der Vergangenheit vermisste, obwohl die Kirchen nicht schweigen und wie auch die Schulen für Mitmenschlichkeit eintreten, obwohl die Justiz fremdenfeindliche Ausschreitungen verfolgt, brennen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland, werden Flüchtlinge tätlich angegriffen - ein Zeichen dafür, dass Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit gegenüber Fremden, die unsere Hilfe brauchen, auch heute keine Selbstverständlichkeit für alle sind. Ich bin froh, dass wir hier in Laasphe eine Willkommenskultur praktizieren, die den Flüchtlingen zumindest ein Gefühl der Sicherheit gibt und möchte allen wünschen, dass sie sich bei uns auch geborgen fühlen können, solange wie sie gezwungen sind, weit weg von ihrer Heimat zu sein. Folgen wir den eben erwähnten Beispielen derer, die in der Zeit des Naziterrors Zivilcourage zeigten und Mitmenschlichkeit ausübten, wann und wo auch immer uns heute Fremdenfeindlichkeit begegnet, wer auch immer die Opfer sind. Zum Thema „Nirgendwo erwünscht: Flüchtlinge damals – Flüchtlinge heute“ sprach war vor einem Jahr an dieser Stelle Gisela Weissinger noch als Vorsitzende unseres Freundeskreises zu uns. Ich hätte sie gerne hier begrüßt, aber Sie haben es vielleicht in der Zeitung gelesen, Frau Weissinger wirkt an der Gedenkveranstaltung in Bad Berleburg mit. Ihr Ehemann Johannes Weissinger wird die Ansprache bei uns halten und ich möchte ihn herzlich willkommen heißen. Er wird uns eine Persönlichkeit aus dem Judentum näher bringen, die vor 50 Jahren verstarb: Martin Buber, dessen Konterfei vor der Bühne zu sehen ist. Herzlichen Dank für ihren Beitrag, Herr Weissinger. Mit einer kurzen chassidischen Geschichte, die Martin Buber so oder so ähnlich aufgeschrieben hat, und die für uns im Umgang nicht nur mit den Fremden, die uns derzeit in unserer Stadt begegnen, hilfreich und lehrreich sein kann, möchte ich meine Ausführungen beenden: „Als ein Rabbi einmal seine Schüler fragte, wie man die Stunde bestimmen könne, in der die Nacht endet und der Tag mit dem Morgengrauen beginnt, antwortete einer der Schüler: „Wenn man von Weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ „Nein“, antwortete der Rabbi. „Ist es, wenn man einen Weinstock von einem Feigenbaum unterscheiden kann?“ fragte ein Zweiter. „Nein“, sagte der Rabbi wieder. „So sag uns doch die Lösung“, baten die Schüler. „Es ist dann,“ sagte der weise Lehrer, „wenn du in das Antlitz eines Menschen sehen kannst – jedwedes Menschen – und genug Licht hast, um in ihm deinen Nächsten zu erkennen. Bis dahin ist es dunkel und die Nacht ist noch bei uns.“ Rainer Becker, 9.11.2015, Haus des Gastes, Bad Laasphe
© Copyright 2025 ExpyDoc