1 Religionstheoretische Analysen zur Harry Potter-Saga Zur Sinngenese Jugendlicher zu Beginn des 21. Jahrhunderts • von Astrid Dinter Die Bücher über Harry Potter gehören zu den erfolgreichsten Fantasy-Werken weltweit. Die Harry Potter-Welten stellen einen nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil heutiger Jugendund Erwachsenenkultur dar und haben die durch die postmoderne Philosophie totgesagten narrativen „Großerzählungen“ im 21. Jahrhundert zu neuer Blüte gebracht - allerdings in Gestalt von artifiziellen Mythen. Fantasy-Geschichten wie Harry Potter werden als Projektionsfläche jugendlicher Sehnsüchte wichtig und sind Teil jugendlicher Kontingenzbewältigung. Gerade im Zeitalter der Globalisierung und Hochtechnisierung greifen die Menschen auf mythische Erzählungen und Praktiken zurück, um Kontingenzbewältigung bzw. Sinngenese zu betreiben. Damit gehören die beschriebenen Phänomene der Orientierung Jugendlicher an Fantasy-Welten wie „Harry Potter“ in den Zusammenhang der Rede von der „Wiederkehr der Religion“, die im Gegensatz zur Annahme einer radikalen Form von Säkularisierung steht. Der Beginn des 21. Jahrhunderts erweist sich durchaus von Religion und Religiosität geprägt. 1 Die Globalisierung mit ihren Begleitphänomenen von Hochtechnisierung, wirtschaftlichen Krisenszenarien und der Beschleunigung des Alltagslebens, zwingt den Menschen entsprechende Bewältigungsleistungen auf, ohne die sie scheitern würden. Die „Wiederkehr der Religion“ bedeutet keine Wiederkehr traditionell geprägter Frömmigkeit. Vielmehr gewinnen transformierte Formen von Religion und der Zugriff auf esoterische Frömmigkeitsformen an Relevanz. In dem Sinne kann nicht von einer Ablösung der symbolischen Form des „Mythos“ vom „Logos“ – der reinen Vernunft - ausgegangen werden. Vielmehr bleiben „Mythos“ und „Logos“ eng aufeinander bezogen und greifen ineinander. Es ist gerade der „Mythos“, der die Endlichkeit des menschlichen Daseins widerspiegelt. „Mythen sind immer eine Ausgestaltung von Grundmustern menschlichen Existierens durch • Erstabdruck in: Astrid Dinter / Kerstin Söderblom (Hrsg.): Vom Logos zum Mythos. „Herr der Ringe“ und „Harry Potter“ als zentrale Grunderzählungen des 21. Jahrhunderts (Münster: LIT-Verlag 2010), S. 9-15 (zusammen mit K. Söderblom); S. 41-62; 313-320 (zusammen mit M. Fürbach-Weber). 1 Astrid Dinter / Kerstin Söderblom, Einleitung, in: Vom Logos zum Mythos, a.a.O. S. 9-14. 2 Symbole, von denen her erst eine explizite begriffliche Sinngebung und ein explizites begriffliches Verstehen der eigenen Existenz möglich ist. Im Mythos gestalten sich Symbole zu einer systematischen Auslegung der eigenen Lebenswirklichkeit in anschaulicher Form. Im Mythos wird wahre Realität im Sinne der Wahrheit über die eigene unübersichtliche Lebensrealität thematisch“. 2 In diesem Sinne thematisiert der „Mythos“ die menschliche Endlichkeit. „Die radikale Endlichkeit des Menschen lässt diesen die Welt mit Furchterregendem und mit Mächten, die das Furchterregende bewältigen helfen, bebildern“. 3 So bringt gerade die Radikalisierung der Kontingenzen zu Beginn des 21. Jahrhunderts neue Mythen hervor: „Die Geschichte sagt, daß schon einige Ungeheuer aus der Welt verschwunden sind, die noch schlimmer waren als die, die hinter dem Gegenwärtigen stehen; und sie sagt, daß es schon immer so oder fast so gewesen ist wie gegenwärtig. Das macht Zeiten mit hohen Veränderungsgeschwindigkeiten ihrer Systemzustände begierig auf neue Mythen, auf Remythisierungen, aber auch ungeeignet, ihnen zu geben, was sie begehren. Denn nichts gestattet ihnen zu glauben, was sie gern glauben möchten, die Welt sei immer schon so oder einmal so gewesen, wie sie jetzt zu werden verspricht oder droht“. 4 Dabei kristallisieren sich bestimmte Grundmuster in Form eines „Grundmythos“ heraus, eines Heldenlebens, das das Ganze des Menschseins symbolisch anschaulich werden lässt, wie Campbell in „Der Heros in tausend Gestalten“ verdeutlicht. 5 In diesem Kontext ist auch die „Harry Potter“-Saga zu sehen. Auch sie weist Grundstrukturen einer klassischen Heldensaga auf: die schwierigen Umstände der Herkunft des Helden, die Ambivalenz der Heldenfiguren, der Kampf auf Leben und Tod in der bedrohlichen Ferne und das Führen einer transformierten Existenz nach dem Sieg über das Böse. Derartige Mythen beschreiben die Entwicklungsgeschichte ihrer Helden. Sie sind Fantasy-Erzählungen, die gegenüber den Herausforderungen der modernen Welt eine fantastische Welt bieten, die dem Individuum Zuflucht für seine Träume und Sehnsüchte ermöglicht. „Es besteht weiterhin auf den ersten Blick ein - gegenüber allen metaphysischen Orientierungsaufgaben der Moderne - über2 Linus Hauser, 2004, Der Herr der Ringe und die Harry-Potter-Romane in philosophisch-theologischer Perspektive, in: Info 33 (3), S. 144-155, hier: S. 145. 3 Hauser, 2004, Der Herr der Ringe und die Harry-Potter-Romane, [Anm.2], S. 145-146. 4 Hans Blumenberg, 2003, Arbeit am Mythos, in: Texte zur modernen Mythentheorie, hrsg. von Wilfried Barner / Anke Detken / Jörg Wesche, Stuttgart: Reclam, S. 194-221, hier: S. 194. 5 Joseph Campbell 1953, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt: Fischer. 3 sichtlicher Kosmos mit festen Werten, die feststehenden Rollen von Gut und Böse, Held und Magier uvm. ermöglichen. Die ganze Handlung hat darüber hinaus ein Happy End“. 6 Fantasy und „kleine Formen des Okkultismus“ Fantasy-Welten 7 werden als Projektionsflächen gerade für jugendliche Sehnsüchte wichtig und sind Teil jugendlicher Kontingenzbewältigung. So greifen Jugendliche auf artifizielle mystische Erzählungen zurück, um Kontingenzbewältigung bzw. Sinngenese zu betreiben. Und Sinngenese ist eine notwendige Leistung, um die eigene Identität zu stabilisieren. Zerfällt der individuelle Sinn, dann ist das Subjekt, wie u.a. Victor Frankl gezeigt hat, in seiner Existenz bedroht. 8 „Sinn ist Beziehung, ist Zusammenhang, ist Verbundenheit. Das gilt in all unserem Verstehen. Wenn wir vom Sinn des Lebens sprechen, somit auch von unseren Sinnerwartungen und Sinnkrisen, dann ist ebenfalls Beziehung, Zusammenhang, Verbundenheit oder eben deren Verlust, Verdunkelung oder Zusammenbruch gemeint: die Beziehung zu uns selbst und zu anderen; der Zusammenhang zwischen den Phasen und Einschnitten unserer Lebensgeschichte; die Verbundenheit mit Perspektiven, an denen wir uns orientieren und die wir zu erreichen streben“. 9 Aus struktureller Perspektive dem starken Interesse an Fantasy-Geschichten wie Harry Potter vergleichbar, sind die „kleinen Formen des Okkultismus“. So spielen „kleine Formen des Okkultismus“ - wie das Legen von Tarotkarten, Wahrsagen und Pendeln - gerade bei den weiblichen Jugendlichen eine erhebliche Rolle. Dabei besitzen derartige Praktiken einen spielerisch-explorativen Charakter, sind aber andererseits auch Teil jugendlicher Kontingenzbewältigung. 10 Bemerkenswert ist, dass in hochtechnisierten, globalisierten Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Zugriff auf esoterische Praktiken zur Kontingenzbewältigung an Relevanz gewinnt. Dies kann auch als Reaktion auf eine immer wei- 6 Hauser, 2004, Der Herr der Ringe und die Harry-Potter-Romane, [Anm.2], S. 149. Fantasy bildet ein eigenes Genre in Kunst und Literatur, wobei übernatürliche, märchenhafte und magische Motive zentral sind. Nach Tolkien bestehen zentrale Funktionen einer Fantasy-Geschichte darin, die Phantasie zu wecken („fantasy“), den Lesern Wiederherstellung zu ermöglichen („recovery“), Fluchtmöglichkeiten („escape“) und Trost („consolation“) zu gewähren. Diese Struktur wird auch in den vorliegenden Fallstudien erkennbar. John Ronald Reuel Tolkien, 2001, Tree and Leaf, New York: HarperCollins. 8 Viktor, Frankl, 1972, Der Mensch auf der Suche nach Sinn, Freiburg: Herder. 9 Gräb, Wilhelm, 1998, Lebensgeschichten - Lebensentwürfe - Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 13. 10 Heinz Streib / Albrecht Schöll, 2001, Wege der Entzauberung, Münster: Lit. 7 4 tere technische Stratifizierung und den erzwungenen Umgang mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität verstanden werden. Diesem Umgang mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität korrespondiert eine Identitätsfragmentierung (‚Bastelidentität‘) 11, eine „Multiphrenie“: „Das Konzept der Multiphrenie reagiert auf eine gesellschaftliche Umbruchssituation, die kaum zu leugnen ist: Die partikularistische Lebenssituation des modernen Menschen macht ein ständiges Umschalten auf Situationen notwendig, in denen ganz unterschiedliche, sich mitunter sogar gegenseitig ausschließende Personanteile gefordert sein können. Diese alltäglichen Diskontinuitäten fordern offensichtlich ein Subjekt, das verschiedene Rollen und die dazugehörigen Identitäten ohne permanente Verwirrung zu leben vermag. Daraus resultiert die Frage: Wie kann ich in einer Welt, die Flexibilität, Mobilität und Offenheit für ständig neue Entwicklungen fordert, eine Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘ geben“. 12 Dies gilt insbesondere auch für die Erfahrungswelten Jugendlicher. Fantasy-Horizonte wie „Harry Potter“ können dabei helfen, das Selbst in unterschiedlichen Simulationen auszuprobieren, durch das kontrollierte Abgleiten in fiktionale Welten zu stabilisieren und so die zur Subjektgenese notwendige Sinnfindung zu unterstützen. Wie sich derartige Zusammenhänge in der Einzelbiographie gestalten, zeigen folgende Fallbeispiele: Fallbeispiel I Die Eltern der 16-jährigen Tamara sind geschieden. Tamara wohnt bei ihrer Mutter, die als Schuhverkäuferin arbeitet und eigentlich einen Beruf im Kunsthandwerk gelernt hat. Ihr Vater lebt in einer anderen Stadt. Tamara bezeichnet ihn als „reichen Arbeitslosen“ und als das „Gegenteil von ihrer Mutter“ und redet über ihn nur ungern. Das Interview zeigt immer wieder deutlich auf, dass die finanzielle Situation von Tamara und ihrer Mutter erheblich angespannt ist. Tamara besucht ein Gymnasium, will dieses aber zugunsten der Realschule verlassen, weil sie in Latein erhebliche Probleme hat. Die Problematik im Fach Latein und der bevorstehende Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule prägen – ebenso wie die schwierige familiäre Situation – das ganze Interview und werden zur Bedrohung für Tamaras gesamte Zukunftspläne. Tamara macht sich selbst 11 Wilfried, Ferchhoff / Georg Neubauer, 1997, Patchwork-Jugend. Eine Einführung in Postmoderne Sichtweisen, Opladen: Leske+Budrich. 12 Heiner Keupp, 2002, Jeder nach seiner Façon?, in: Ethik & Unterricht 4, S. 9ff., hier: S. 9. 5 Mut, einen Weg zu finden, ihre Zukunftspläne doch verwirklichen zu können. So schwankt ihre Selbstdarstellung zwischen der Eigenpräsentation als leistungsfähiger Gewinnertyp und der realen Bedrohung durch das Versagen in Latein und die schulische Zurückstufung. Auch die Geldthematik, die für Tamara und ihre Mutter eine nicht unerhebliche Rolle spielt, taucht immer wieder auf. Tamara begeistert sich für Fantasy. Speziell die Thematik „Herr der Ringe“ fasziniert sie. Tamara trägt um den Hals eine Kopie des „einen Rings“ an einer Kette und betreibt eine sehr aufwendig gestaltete Website, auf der sie ein Tagebuch der Helden aus „Herr der Ringe“ führt. Auf der Website sind dem Kinofilm „Herr der Ringe“ entnommene Bilder zu sehen, die ihre „Lieblinge“ zeigen. Außerdem hat sie zu den „Lieblingen“ jeweils tagebuchartige Einträge verfasst. Diese sind in lockerem Ton gehalten und lassen ihre „Helden“ fast als Karikaturen erscheinen. Dadurch durchbricht Tamara ihre Verehrungshaltung gegenüber den Protagonisten aus „Herr der Ringe“. Tamara selbst identifiziert sich mit Eowyn, einer unglücklich verliebten Prinzessin, die sich als Mann verkleidet todesmutig den Feinden entgegenstellt und am Ende der Trilogie doch noch eine andere, glückliche Liebe findet. Tamara stellt auf ihrer Website auch ihre Haupt-Chatkontakte vor. Dabei berichtet eine ihrer „virtuellen“ Freundinnen, dass sie mit Tamara regelmäßig virtuelle Role-Play-FantasieReisen durchführt und lobt diesbezüglich besonders Tamaras Engagement. Die virtuelle Fantasy-Welt besitzt für Tamara einen sehr hohen Stellenwert. „Was mir auch fehlen würde, wäre, schwierig zu erklären. Ja, weil – sagen wir so – es gibt Tage, da bin ich total gestresst. Ich kann diese Welt nicht mehr ab, diese Realität, dann, das hört sich vielleicht blöd an, ist das eine gute Möglichkeit, um sich für ein paar Stunden wegzuflüchten. Ja ich würde mal sagen, nicht sich einsperren in der Welt, aber flüchten mal ist schon o.k. ... Ja und einfach mal drumrum vergessen … . Das würde mir schon abgehen. Also, einfach, weil das Ausspannen für ein paar Stunden, dass man einfach nichts mehr denken muss, was einen jetzt bedrückt, oder so“. Tamara flüchtet sich aus der Realität, die - wie im Fall ihres Scheiterns im Fach Latein - nicht immer ihrer scheinbar souveränen Performanz entspricht, sondern wesentlichen Kontingenzen unterliegt. So kennt Tamara das Phänomen, dass sie alles um sich herum vergisst, wenn sie sich in die fiktionale Welt begibt (Dinter 2007, 326ff.). Eine Untersuchung von Tamaras Internet-Aktivitäten zu einem späteren Zeitpunkt hat gezeigt, dass Tamara nach wie vor intensiv in die fiktionalen Fantasy-Welten involviert ist. Allerdings hat sie das Genre gewechselt. Sie interessiert sich nun für die Welten der Mangas und von Harry Potter. Dabei veröffentlicht sie selbstgeschriebene Texte auf einer thematisch einschlägigen Internetplattform, die teilweise einen gewalttätigen und sexuell geprägten Inhalt besitzen. Auch ein Bild ihrer Helden hat sie gemalt. Die virtuellen Dokumente zeigen, dass der Fantasy-Horizont nach wie vor eine wichtige Rolle in Tamaras Leben spielt. Fallbeispiel II Sabine besucht die 9. Klasse eines Gymnasiums in einer Kleinstadt. Sie kommt aus einem schwierigen familiären Setting. Der Vater arbeitet in einer vom Heimatort weit entfernten Stadt in einer Fabrik. Sabine fühlt sich eher zu „Jungen-Themen“ hingezogen und chattet auch als Junge. Sie interessiert sich sehr für naturwissenschaftliche Fächer wie Physik, Chemie und Mathematik, möchte gerne Chemie studieren und wissenschaftlich 6 arbeiten. Scheinbar gegensätzlich zu ihrem Technikinteresse gestaltet Sabine ihr Äußeres in Fantasy- bzw. Mystery-Weise: Sie trägt schwarze Haare, liest Zauber- und Wahrsagebücher, sie hat Kräuter in ihrem Zimmer hängen und versteht sich selbst als Hexe. Sabine legt Tarot-Karten. Die Themen, zu denen sie Bücher liest, sind Fantasy-Themen. Sabine schreibt selbst Fantasy- bzw. Mystery-Abenteuergeschichten. So tauscht sie mit einem Jungen immer wieder Geschichten zum Weiterschreiben aus. Sabine programmiert zudem selbst Rollenspiele aus dem Fantasy- bzw. Mystery-Bereich. In dem Sinne ist Sabines Realität an eine fixe Traumwelt gekoppelt. Sabine unterhält mehrere virtuell-imaginative Hintergrundhorizonte, die ihren tristen Alltag stabilisieren und transzendieren (Dinter 2007). In den dargestellten Fällen zeigt sich wiederum deutlich der Zusammenhang von schwierigem lebensweltlichen Hintergrund und Kontingenzbewältigung durch Abtauchen in entsprechende Fantasy-Horizonte. Diese in den Fallbeispielen sichtbaren Zusammenhänge unterstreichen auch die Ergebnisse der 15. Shell-Jugendstudie „Jugend 2006“. 13 Sie diagnostiziert eine Form von ,Patchwork-Religion‘ und stellt die Relevanz spiritueller Praktiken für die Jugendlichen z.B. aus dem Bereich der Astrologie heraus. Die Shell-Jugendstudie bezeichnet diese Phänomene als „Para-Religiosität“. 14 Zur entwicklungspsychologischen Einordnung Aus entwicklungspsychologischer Perspektive stellt das Jugendalter eine Phase intensiver Arbeit an religiöser Semantik dar. Ein Kinderglaube an einen Gott im Himmel erscheint im Jugendalter nicht mehr vertretbar, feste Ersatzkonzepte stehen jedoch noch nicht zur Verfügung. Auf diesen Zusammenhang bezieht sich die für das Jugendalter signifikante Ablehnung eines persönlichen Gottes. 15 Dabei sind es vor allem zwei strukturelle Grundformen von Spiritualität, die sich herausbilden: Einerseits ein kosmodeistisches Gottesbild im Sinne von „Wir sind Teil eines größeren Ganzen; es gibt so etwas wie eine höhere Macht, die das Leben beherrscht“, andererseits ein immanentes Gottesbild im Sinne von „Gott ist nicht über uns, sondern in den Herzen der Menschen; Gott ist etwas im Innern des Menschen“, das vor allem auf interpersonale Relationen abstellt, im Bereich der Emotionen verankert ist 13 Jugend 2006, 2006, 15. Shell-Jugendstudie, hrsg. von Klaus Hurrelmann / Mathias Albert, Frankfurt : Fischer. 14 Die Shell-Jugendstudie 2010 untersucht die spezifische Ausstratifizierung von Religion nicht genauer. Jugend 2010, 2010, 16. Shell-Jugendstudie, hrsg. von Mathias Albert / Klaus Hurrelmann, Frankfurt: Fischer. 15 Dies zeigt auch die Shell-Jugendstudie 2010 auf. Jugend 2010, 2010, [Anm.14], S. 206-207. 7 und die Gottesbeziehung psychologisiert. 16 In beiden Fällen wird die menschliche Autonomie betont, selbst wenn vom Wirken einer göttlichen Kraft ausgegangen wird. Diese wird zwar als allumfassend, aber nicht als direkt eingreifend gedacht. Fritz Oser nennt dies die deistische Stufe: Gott und Mensch sind unabhängig voneinander zu denken. 17 Bezogen auf Fantasy-Horizonte wie „Harry Potter“ bedeuten diese Formen religiöser Entwicklung im Jugendalter keine vollständige Ablösung vom mythischen Denken, sondern eine Transformation desselben. „Was wir im Jugendalter erleben, ist also nichts anderes als ein Umbau der religiösen Vorstellungswelt von einer mythologischen zu einer mit Mythologie und Symbol mehrdimensional umgehenden Glaubensauffassung, die natürlich ihre Unsicherheiten zeitigt, und zwar gerade in der Umbruchsphase nach dem Ende der Kindheit“. 18 In dem Sinne entsprechen die artifiziellen Mythen dem Bedürfnis Jugendlicher, entwicklungspsychologisch vorlaufende mythische Weltzugänge abzulösen und neue zu konstruieren. Dabei werden Elemente der vorlaufenden Weltzugänge aufgenommen und transformiert. Allerdings bleiben die Verankerungen in den transformierten, artifiziellen mythischen Welten spielerischer Natur und sind nicht auf feste Bindungen ausgerichtet. Sie besitzen vergleichbar mit Winnicotts Übergangsobjekten 19 - eine bestimmte Funktion in einem gewissen Lebensabschnitt und werden dann wieder abgelegt oder ihr Genre wechselt. 20 Zum religionstheoretischen Hintergrund Blickt man auf die Phänomenzusammenhänge im Kontext von Harry Potter aus religionstheoretischer Perspektive, so sind sowohl Elemente funktionalen wie auch substantiellen 16 Lothar, Kuld, 2001, Das Entscheidende ist unsichtbar. Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen, München: Kösel. 17 Fritz Oser / Paul Gmünder, 1984, Der Mensch - Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Zürich / Köln: Benziger. 18 Lothar Kuld, 2008, Tief innen, ganz fern oder gar nicht - Gotteskonzepte Jugendlicher in sozialwissenschaftlicher und entwicklungspsychologischer Sicht, in: „Steh auf und stell dich in die Mitte!“ Beiträge zu einer Theologie um des Menschen willen (FS H. Jaschke), hrsg. von Sabine Pemsel-Maier / Regina Speck, Karlsruhe: Karlsruher pädagogische Studien 9, S. 157– 166, hier: S. 159. 19 Donald Winnicott, 2006, Vom Spiel zur Kreativität, 11. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta. 20 Ein Zugriff Erwachsener auf mystische und esoterische Symbolwelten bzw. Praktiken (vor allem weiblicher Erwachsener) ist strukturell den Phänomenen im Jugendalter vergleichbar, besitzt aber eine weniger ludische Ausrichtung und ist nicht in gleicher Weise auf Genrewechsel hin ausgerichtet. Weitere vergleichende Forschung steht für diesen Bereich noch aus. 8 Charakters hinsichtlich einer Korrelation zum Religionsbegriffs zu erkennen. 21 Die Phänomene gehören in den Zusammenhang gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, innerhalb derer traditionelle Formen von Religion sich aufgelöst und hin zu stark individualisierten Religionsformen „verflüssigt“ haben, so dass die Unterscheidung des Kern- und Randbestands von Religion schwierig wird. Selbst die traditioneller ausgerichteten Formen von Religion erscheinen in synkretistischer Gestalt. Eine Applikation des Religionsbegriffs muss daher nicht notwendig mit einer individuellen Selbstzuschreibung von Religion verbunden sein. 22 Das beschriebene Problem der religiösen Selbstzuschreibung wird bei „verflüssigten“ Formen von Religion im Zusammenhang von Fernsehen 23, Kino 24, Popmusik 25, Sport 26 insofern relevant, als nur in den seltensten Fällen eine Eigenzuschreibung in Form von „Religiosität“ vorliegt. Daher spricht man von „impliziten Formen“ von Religion, die ihren Ursprung in modernen Säkularisierungs- und Modernisierungsprozessen besitzen. Traditionelle Formen von Religion haben sich verflüssigt, verlagert und tauchen in zunächst unerwarteten Kontexten wieder auf. Religion ereignet sich immer in der intentionalen Beziehung zwischen Subjekt und Gegenstand 27 und ist in gelebter Wirklichkeit zu finden, wo Phänomene mit entsprechendem Sinn belegt werden. Dieser Sinnzusammenhang besitzt einen absoluten Wert für das 21 Detlef Pollack, 1995, Was ist Religion? Probleme der Definition, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 3, S. 163–190. 22 Astrid Dinter, 2007, Adoleszenz und Computer, Göttingen: V&R unipress. 23 Günter Thomas, 1998, Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt: Suhrkamp. Manfred Pirner, 2001, Fernsehmythen und religiöse Bildung. Grundlegung einer medienerfahrungsorientierten Religionspädagogik am Beispiel fiktionaler Fernsehunterhaltung, Frankfurt: Gemeinschaftswerk der Ev. Publizistik. 24 Inge Kirsner, 1996, Erlösung im Film. Praktisch-theologische Analysen und Interpretationen, Stuttgart: Kohlhammer. Jörg Herrmann, 2001, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 25 Gotthard Fermor, 1999, Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche, Stuttgart: Kohlhammer. 26 Manfred Josuttis, 1978, Beim Sport wie in der Religion, in: Evangelische Kommentare 11, S. 144-146. 27 Jacques Waardenburg, 1999, Art. Religionsphänomenologie, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 29, Berlin / New York, S. 731–749. 9 Subjekt. Dies entfaltet z.B. Georg Simmel 28, der vom Gedanken einer persönlichen, subjektiven Religiosität, die aus der mystisch-religiösen Grundkodierung des Lebens resultiert, ausgeht. Die Religiositätsformen, die in Korrelation zu den Welten von Harry Potter auftauchen, sind individuell ausgerichtet und zielen auf Kontingenzbewältigung ab. So erlebt sich das Individuum permanent als gefährdetes und die kosmische Ordnung - die Grundkosmologie - wird in Frage gestellt. 29 Der Mensch erfährt die Grenzen seines Seins, die er rational und emotional zu bewältigen hat. Darin expliziert sich die Sinnfrage, die notwendig bearbeitet werden muss, da sonst der Zerfall des Subjekts droht. Kommt es zum Bewusstwerden der Grundkosmologie, so ist der jeweilige Gegenstandsbereich nicht festgelegt. Vielmehr kann jeglicher Gegenstandsbereich zum Symbol für transzendente Wahrheit werden. Gottesvorstellungen sind wiederum als tradierte, spezifische Explikation dieser Grundkosmologie zu verstehen. In diesen Kontext sind dann auch die artifiziellen Mythen einzuordnen. Derartige Formen von Kontingenzbewältigung sind als Formen der Bewältigung der erhöhten Komplexität in einer globalen Weltgesellschaft zu verstehen. 30 Zum Umgang mit einer solchen Komplexitätssteigerung gehört zugleich der Umgang mit der Spannung von Wissen und Nichtwissen. Die Zukunft ist ungewiss, und es wird schwierig, die Folgen des eigenen Handelns abschätzen zu können. Die „übermäßige Komplexität [verlangt] nach Strategien der Komplexitätsreduzierung“. 31 Die formale Bestimmung von Religion in älteren Gesellschaften war inhaltlich dogmatisch bzw. durch festgelegte Rituale bestimmt. So dienten in traditionellen Gesellschaften archaische Ursprungsmythen und Elemente von Grundkosmologien der Bearbeitung der Kontingenz erzeugenden Relation von Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit. 32 Allerdings besitzen die gesellschaftlich konstruierten Weltbilder keine Verbindlichkeit mehr, sondern das Individuum ist - seinem Drang zur 28 Georg, Simmel, 1992, Zur Soziologie der Religion, in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt, S. 266– 286. 29 Clifford Geertz, 1987, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur, in: ders., Dichte Beschreibung, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt: Suhrkamp, S. 7-43. 30 Barbara Asbrand, 2005, Unsicherheit in der Globalisierung. Orientierungen von Jugendlichen in der Weltgesellschaft, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE) 2, S. 223-239. 31 Asbrand, Unsicherheit in der Globalisierung. [Anm. 31], S. 227. 32 Niklas Luhmann, 2002, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp. 10 Selbsttranszendierung folgend - auf eigenständige Sinngenese angewiesen, um die Horizonthaftigkeit jeder Erfahrung zu bearbeiten. So ist für die Moderne eine Transformation von Religion bzw. eine Abwanderung in entsprechende Teilsysteme zu vermerken. Dabei wird Religion unsichtbar, da sie nicht mehr an den traditionellen Orten wie Kirche auftaucht, sondern andere gesellschaftliche Faktoren wie Nation, Markt und Medien ihre Funktion übernehmen. 33 Oder es kommt eben zur Rückkopplung mit artifiziellen Mythen, wie sie die Bände der Harry Potter-Saga darstellen. Da solche Strategien zur Komplexitätsreduzierung und zur Herstellung von Sinn sich durchaus rituell gestalten können und nicht notwendig einer semantischen, inhaltlichdogmatischen Kopplung bedürfen, werden Ritualfunktionen - wie sie V. Turner beschreibt 34 - ebenfalls im untersuchten Phänomenzusammenhang relevant. Rituale verleihen Krisen und Erfahrungen des Übergangs Ausdruck und ermöglichen so deren Bewältigung. Derartige Transformationsprozesse ereignen sich spezifisch in den Schwellenphasen, die das Ritual räumlich und zeitlich vom Alltag abtrennen und zu etwas Außeralltäglichem machen. Innerhalb dieser Schwellenphase sind Erfahrungen von Communitas - von positivem Gemeinschaftserleben - möglich, die wiederum ekstatische Dimensionen besitzen. Diese Schwellenerfahrungen können als „Flow-Erlebnisse“ verstanden werden. 35 Vergleichbare Merkmale der ekstatischen Faszination, des Potentials zur Transformation, der Antistruktur gegenüber den Regeln des Alltagslebens sowie der Begleitung von Einschnitten im Lebenslauf weist auch das Spiel auf. Beim Spiel geht es um eine explorative, zweckfreie Form der Selbstentfaltung. Es findet in einem Zwischenraum - dem intermediären Raum - statt, der die Übergangsobjekte der Kindheit ablöst. In diesem Raum, können Erfahrungen zugelassen werden, die nicht der Realitätsprüfung unterzogen werden müssen, Erfahrungen wie das Eintauchen in Fantasy-Welten. „Innerhalb des Spielplatzes herrscht eine eigene und unbedingte Ordnung. ... Das Spiel bindet und löst. Es fesselt. Es bannt, das 33 Niklas Luhmann, 1985, Society, Meaning, Religion - Based on Self-Reference, in: Sociological Analysis 46, S. 5– 20. Thomas Luckmann, 1991, Die unsichtbare Religion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch, Frankfurt: Suhrkamp. 34 Victor Turner, 2000, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt / New York: Campus. 35 Mihaly Csikszentmihalyi, 2002, Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen, 8. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta. 11 heißt: es bezaubert“. 36 Der Spielraum ist der Raum der Wünsche, in dem Wollen und Erfüllung nicht wie in der Realität auseinandertreten. Im Spielraum ist die Fülle der Lebensmöglichkeiten präsent, die sonst im Alltag oftmals verschlossen bleiben. Prozesse der Selbstentzogenheit bei gleichzeitigem Bewusstwerden der zu wählenden und im Rahmen der Performance umgesetzten Rollen machen das Spiel-Erleben aus. Das Spiel-Erleben kennzeichnet Phasen „totalen Erlebens“, wie sie auch im Ritual zu finden sind. Innerhalb derartiger Zustände herrschen allumfassende Vereinigungsgefühle vor, die das Selbst als eingebettet in den ganzen Kosmos erscheinen lassen. So bieten Fantasy-Horizonte ein „Interface, auf dem die Wünsche nach Konsistenz und Wandel, Erhalten und Erneuern, Sicherheit und Überraschung aufeinandertreffen“. 37 Es geht um Formen „symbolischer Inversion“, um Spielräume, die „einen Freiraum schaffen, in dem man neue Rollen und Ideen testen kann ... [und die so] eine essentielle Komponente des Liminalen und Liminoiden und aller damit verbundenen Spielarten“ 38 darstellen. Die Alltagsordnung wird in Frage gestellt und gleichzeitig durch den Eintritt in Bereiche eigenen Ordnungscharakters - in denen scheinbar unvereinbare Dimensionen vereinigt werden können - transformiert. Die Spielperformances besitzen einen schnellen und kurzweiligen Charakter. Sie reagieren auf das menschliche Grundbedürfnis, sich in Szene zu setzen und das eigene Leben zu dramatisieren. Die Rollenübernahme besitzt allerdings den Charakter der Umkehrbarkeit. In dem Sinne sind die Bindungen im Spiel lose und ohne klare Intentionalitäten. Dabei ist gerade eine mediale Kopplung zentral für Phänomenzusammenhänge der FantasyWelten, wie sie Harry Potter darstellen (Filme, Computerspiele). So ereignet sich in Relation zu den Medien elementare Daseinsorientierung, Alltagsorganisation und -sta- bilisierung sowie eine rituelle Bearbeitung von Alltagserfahrung. 39 Diese Phänomenzusammenhänge sind mit dem Begriff der „Medienreligion“ zu erfassen, der grundsätzlich auf die Entwicklung einer umfassenden Kulturtheorie, in deren Rahmen den Medien ein hervorragender Stellenwert zukommt, wie auf eine aktive Orientierung an den Rezipienten von Medien, die von einfachen Übernahmeverhältnissen absieht, zielt. Entscheidender als die Inhalte, die 36 Johan Huizinga, 2004, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, 19. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 19. 37 Natascha Adamowsky, 2000, Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt: Campus, S. 101. 38 Adamowsky, Spielfiguren in virtuellen Welten, [Anm. 37], S. 102. 39 Dinter, Adoleszenz und Computer, [Anm. 23]. 12 auch wiederum zur Lebensdeutung helfen können, werden die medial gekoppelten Erfahrungsdimensionen, die strukturell der Subjektstabilisierung dienen. Individuelle Selbststabilisierung, die Sehnsucht nach erfüllter Zeit in einem Alltag, der von Ruhelosigkeit geprägt ist, und die Notwendigkeit der Kontingenzbewältigung sind für medienreligiöse Zusammenhänge charakteristisch. Oftmals geht es auch darum, im Sinne von „Alltagsflips“ den Alltag, der immer wieder als langweilig oder stressbelastet empfunden wird, zu verlassen. Hier liegen weniger Kontingenzszenarien vor, die die Existenz der einzelnen Jugendlichen gefährden, als vielmehr niederschwelligere Kontingenzformen, die nach einem Ausstieg aus dem Alltag verlangen, aber symptomatisch mit den Lebensverhältnissen in der postmodernen Industrie- und Leistungsgesellschaft verknüpft sind. Bei den Phänomenen des Abtauchens in explizit mythisch-religiös geprägte FantasyWelten laufen sowohl funktionale als auch substantielle Elemente des Religionsbegriffs zusammen. Motive archetypischer Ursprungsmythen und Grundkosmologien – wie der dualistisch geprägte Kampf des Guten gegen das Böse – erhalten nun einen spezifischen Stellenwert. Kommt es zum Zugriff auf derartige Welten vermittelt durch neue Medien, findet insofern eine doppelte Virtualisierung statt, als modelliert durch die Computertechnik eine künstliche Welt am Bildschirm entsteht, die nicht Realität simuliert, sondern im rein Imaginativen verbleibt, das im Fall der Fantasy-Welten wiederum stark mythischen Charakter trägt. So tauchen Formen religiöser Valenz aus dem außermedialen Bereich (Fantasy; Magie; Hexenkult) nun explizit im Zusammenhang mit den neuen Medien auf und erhalten gerade durch die Simulations- und Modulationsmöglichkeiten neuer, computergestützter Medien eine ganz andere Qualität. Harry Potter als Projektionsfläche für jugendliche Individualentwicklung: Der Orden des Phönix Harry Potter und Der Orden des Phönix greift für Jugendliche hochaktuelle Themen wie Tod, Trauer und Mobbing auf. 40 Gerade diese Geschichte von Harry Potter besitzt einen komplexen psychoanalytischen Hintergrund, in dem Themen wie Depression (Dementoren) und deren Bekämpfung durch Zauberrituale auftauchen, die stark an Verfahren der moder40 Astrid Dinter / Martina Fürbach-Weber, 2010, Harry Potter: Der Orden des Phönix. Eine religionsdidaktische Analyse, in: Vom Logos zum Mythos, a.a.O., S. 313-320. 13 nen Psychoanalyse erinnern, wie sie z.B. die Hypnotherapie kennt (z.B. durch den Rückgriff auf positive Erinnerungen). In Der Orden des Phönix wird die Ambivalenz von einzelnen Charakteren (z.B. Snape, aber auch Harry Potter selbst) und ihrer Handlungsweise geschickt dargestellt und eine einfache dualistische Ausrichtung so gebrochen. Harry Potter ist in Der Orden des Phönix zwar der Träger einer Prophezeiung, ein Auserwählter. Dennoch hat er ständig den Tod vor Augen, sein einziger familiärer Rückhalt Sirius - wird umgebracht. Angst, Wut und Trauer sind die kennzeichnenden Gefühle in Der Orden des Phönix. Gleichzeitig erfährt Harry Potter Ausgrenzung und Diskriminierung, die bis hin zur Folter reichen. Dramatisch sind auch die Versuche Harry Potters - unterrichtet von Snape - die Angriffe auf seinen Geist abzuwehren. Auch diese Sequenzen besitzen enge psychoanalytische Parallelen. In Der Orden des Phönix ist das Thema Trauerarbeit zentral. So stellt Trauern auch im Fall von Harry Potter ein Lebensthema dar. Eng damit verbunden ist die Thematik der Menschenwürde: Harry Potter: • muss ,abschiedlich’ leben • sein familiärer Rückhalt - sein Pate Sirius - wird umgebracht • ist dauerhaft von Unsicherheit umgeben • sein Leben ist durchzogen von Angst • und von Wut • sucht die für ihn bestimmte Prophezeiung In Der Orden des Phönix wird dies oftmals einfühlsam, lebensnah, aber auch auf aggressive Weise entwickelt: Harry Potter hat dem Tod schon ins Auge geschaut. Der Tod ist in Der Orden des Phönix eine konstante Bedrohung. Harry muss sich durch die ständige Präsenz von Lord Voldemort mit dem Leben und dem Tod auseinandersetzen. Todesangst und Unsicherheit durchziehen die Handlung. Dagegen steht die Prophezeiung, Auserwählter zu sein. Sie steht stellvertretend für Harry Potters Suche nach dem eigenen Ich. Der Orden des Phönix thematisiert die Unsicherheit Erwachsener, mit dem Tod und dem Schicksal umzugehen. Harry Potters Umfeld ist sich unsicher, was einem Jugendlichen in 14 dieser Situation gesagt werden soll und was nicht bzw. wie man ihm angemessen begegnet. Selbst der ‚weise’ Dumbledore hält sich zurück. Harry Potter erfährt, Trauer als Teil des Lebens zu verstehen. Im Vergleich mit seelsorgerlicher Trauerarbeit wird deutlich: Wenn die Trauer angeschaut wird, kann sie eine Lebenshilfe sein. Auch Jugendliche brauchen Hilfe bei der Verarbeitung von Angst und Trauer, um wieder Vertrauen ins Leben fassen zu können. Einen angemessenen Umgang mit dem Tod zu finden, stellt ein notwendiges entwicklungspsychologisches Desiderat dar 41, das vergleichbar mit der Entwicklung des Gottesbegriffs ist. Haben jüngere Kinder noch kein differenziertes Todeskonzept, so setzen sich Kinder zwischen 9 - 12 Jahren mit dem Begriff „Tod“ auseinander und finden im Normalfall ein inneres Gleichgewicht zwischen dem Wissen um und der Angst vor dem Tod. In der Pubertät wird dieses Gleichgewicht gestört, weil die frühen Abwehrmechanismen und Personifizierungsversuche ihre Wirksamkeit einbüßen. Ein Gleichgewicht kann erst dadurch wieder hergestellt werden, dass verbesserte Bewältigungsformen wie ‚Rationalität und emotionale Distanzierung’ entwickelt werden. Allerdings macht ein erweitertes Wissen Menschen nicht weniger anfällig für Angst, ganz besonders, wenn es um den Tod geht. Der christliche Glaube bietet Orientierung und Hilfe bei der Bewältigung und Bearbeitung von Trauer und Tod, bei Selbstfindung und Lebensorientierung. All diese Aspekte gehören jedoch letztlich zusammen. Ein zweites zentrales Motiv in Der Orden des Phönix ist die Thematik des „Mobbings“. Mobbing ist nicht nur im Berufsalltag zu finden, sondern hält auch verstärkt Einzug in der Schule. Unter Mobbing in der Schule ist ein gegen einzelne Schüler und Schülerinnen gerichtetes Angreifen, Ärgern oder Schikanieren zu verstehen. Mobbing ist ein zum wiederholten Male umgesetztes negatives Handeln, um einem Schüler oder einer Schülerin oder mehreren Schülern und Schülerinnen Schaden zuzufügen. Blickt man auf die Schulgeschichte, so hat Mobbing eine lange Tradition: Es geht um die Ausgrenzung derer, die anders sind (dick, dünn, fremd, begabt etc.). 41 Martina Plieth, 2001, Kind und Tod, 3. Aufl., Neukirchen-Vluyn: Neukirchner Verlag. 15 Die Forschung differenziert zwischen passiven und provozierenden Opfern. 42 Passive Opfer sind eher ängstlich, unsicher, schweigsam, vorsichtig, empfindlich und lehnen Gewalt ab. Provozierende Opfer sind in der Regel nervös, unkonzentriert, ihr Verhalten schafft dadurch eher Ärger und ein angespanntes Verhältnis zu anderen. Die Täter haben eine positive Einstellung zur Gewalt, wollen dominieren und haben ein starkes Selbstvertrauen. Die These, dass Mobbing bei den Tätern aus einer eigenen Unsicherheit resultiert, wird inzwischen eher kritisch betrachtet. Schauen wir auf die Romanfigur Harry Potter, so treffen die genannten Aspekte auf ihn zu: Die Gegenseite möchte ihm wiederholt Schaden zufügen, ihn sozusagen aus dem Weg schaffen. Harry Potter zählt zu den passiven Opfern. Er ist trotz all seines Muts nicht frei von Angst und Unsicherheit. Er hat Angst um sein Leben und kann nicht kontrollieren, wie die undurchsichtigen Kräfte und Mächte um ihn herum wirken. Seine schwierige Familiengeschichte hat bei ihm Spuren hinterlassen. Harry Potter ist meist vorsichtig in seinem Handeln und lehnt Gewalt ab. In seinem Wesen ist er empfindsam und lässt selbst seine besten, ihm nahe stehenden Freunde nicht immer gleich teilhaben an seinen Gedanken - allerdings um sie zu schützen. Selbst als Mitglied im Orden des Phönix meint er, alles mit sich selbst ausmachen zu müssen. Im Gegensatz dazu ist der Täter (Draco Malfoy), eine dominante Persönlichkeit mit einem überstarken Selbstvertrauen. So kann Harry Potter gerade in Der Orden des Phönix bei für das Jugendalter zentralen Themen zur Identifikationsfigur werden. Religionsdidaktische Implikationen Die Sinngenese Jugendlicher - in welcher Form auch immer sie sich gestaltet - sollte in religionspädagogischen Prozessen zunächst wahrnehmend und nicht wertend spielerisch integriert werden. Dabei spielen gerade auch Fantasy-Themen eine erhebliche Rolle. In diesem Sinne sollten alle Jugendlichen in kirchlicher Jugendarbeit willkommen sein bzw. im Religionsunterricht gewinnbringend lernen können – auch Schülerinnen und Schüler, deren Sinngenese sich heute immer mehr in von der Tradition abgelösten Formen gestaltet. Zu 42 Winfried Schubarth / Wolfgang Melzer (Hrsg.), 1995: Schule, Gewalt und Rechtsradikalismus, Opladen: Leske+Budrich. 16 diesen gehören auch diejenigen Jugendlichen, für die Prozesse der Sinngenese und der Selbst- und Identitätsbildung sich vor allem im Kontext von Fantasy-Welten vollziehen.
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