Expertenfachgespräch „Politische Extremismen im Netz – Herausforderungen für die Jugendhilfe“ – erste Ergebnisse – Veranstalter: Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention, Deutsches Jugendinstitut, Außenstelle Halle/Saale Teilnehmende: Expertinnen/Experten aus der pädagogischen Auseinandersetzung zu Rechtsextremismus/Islamismus, Fachkräfte aus anderen pädagogischen Arbeitsfeldern mit Expertise zu medienbezogener bzw. onlinebasierter Arbeit sowie Vertreter/innen aus Wissenschaft und Politik Hintergrund des Fachgesprächs: Eine aktuelle Herausforderung für Jugendarbeit und Jugendhilfe (sowie für andere Akteure, die im Feld der außerschulischen pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen tätig sind), ist die wachsende Relevanz des Internets und insbesondere der Sozialen Online-Netzwerke für junge Menschen. Zum einen haben sich neue digitale Medientechnologien im jugendlichen Freizeit- und Kommunikationsverhalten fest etabliert. Zum anderen nutzen auch rechtsextreme und (gewaltorientierte) islamistische Gruppierungen virtuelle Umgebungen im Zuge ihrer Werbe- und Rekrutierungspraxen, sodass Jugendliche hier verstärkt mit diesen Gruppen bzw. entsprechenden Inhalten in Kontakt kommen. Für die Jugendhilfe und andere mit jungen Menschen arbeitende pädagogische Akteure ergeben sich hieraus verschiedene Fragen bzw. Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund lud die Arbeits- und Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention am 5. und 6. November 2015 Expertinnen und Experten aus Fachpraxis und Wissenschaft zu einem zweitägigen Fachgespräch zum Thema „Politische Extremismen im Netz – Herausforderungen für die Jugendhilfe“ nach Berlin. Auf der Veranstaltung wurden Anforderungen an pädagogische Akteure diskutiert, die aus rechtsextremen und (gewaltorientiert) islamistischen Aktivitäten im Netz resultieren, erste Gegenstrategien vorgestellt und zukünftige Handlungs- und Entwicklungsbedarfe definiert. Seite 1 von 5 Erste Ergebnisse des Fachgesprächs: Zur Rolle digitaler Medien für Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse Jugendlicher Digitale Medien sind nicht ursächlich für jugendliche Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse. Sie unterstützen mit ihrer Präsenz sowie ihren spezifischen Funktionsweisen und Dynamiken diese Prozesse jedoch in verschiedener Weise. Übereinstimmend wurde von den Anwesenden die Einschätzung vertreten, dass digitale Medien in der Regel nicht ursächlich dafür sind, dass sich Jugendliche extremistischen Inhalten und Gruppierungen zuwenden. Jugendliche, die im Internet durch extremistische Inhalte und/oder Kontakte auffällig werden, weisen den Erfahrungen der anwesenden Praktiker/innen zufolge zumeist bereits entsprechende Vorbelastungen bzw. Vulnerabilitäten (Verwundbarkeiten) aus ihrer persönlichen Entwicklungsgeschichte auf. Es lassen sich allerdings auf der Basis der geschilderten Praxiseindrücke und vorgestellten wissenschaftlichen Erkenntnisse eine Reihe von Spezifika und Dynamiken des Internets benennen, die die (weitere) Hinwendung Jugendlicher zu extremistischen Szenen über Onlinekontexte begünstigen können. a) Digitale Medien als wichtige Informationsquelle für junge Menschen Das Informationsverhalten junger Menschen ist heute stark durch digitale Medien geprägt: Das Netz ist für Jugendliche häufig die erste Adresse, wenn sie Informationen und Einschätzungen zu unterschiedlichsten Themen suchen. Zudem genießt das Internet (auch aufgrund seiner partizipativen Struktur) bei einigen Jugendlichen einen Authentizitäts- und Glaubwürdigkeitsbonus gegenüber etablierten Massenmedien 1, so dass den dort verbreiteten Botschaften häufig weniger kritisch begegnet wird. b) Ausweitung von Gelegenheitsstrukturen (Erstkontakt zu Angeboten) Durch die Allverfügbarkeit des Netzes haben sich die Möglichkeiten, mit extremistischen Inhalten und Strukturen in Berührung zu kommen, erheblich ausgeweitet. War in der vordigitalen Zeit der Kontakt zu extremistischen Szenen und/oder Positionen sehr stark davon abhängig, inwiefern einschlägige Botschaften und Sozialkontakte im unmittelbaren Umfeld der Jugendlichen präsent waren, so sind extremistische Angebote heute im Internet breit verfügbar und schnell zugänglich. Einzelnen Teilnehmenden zufolge ist dieser Umstand möglicherweise mit ursächlich für das sinkende Einstiegsalter von Jugendlichen in extremistische Szenen. c) Beschleunigung von Prozessen der sozialen Annäherung Digitale Medien können dazu beitragen, dass sich Prozesse der sozialen Annäherung an extremistische Gruppen beschleunigen. Zum einen gestaltet sich die Kontaktaufnahme zu 1 Befunde diverser Studien zur Internetnutzung von Jugendlichen, die auf eine grundsätzlich kritische Haltung junger Menschen gegenüber dem Internet verweisen, widerlegen diesen Eindruck der Fachkräfte nur auf den ersten Blick, da sie sich in der Regel auf allgemeine Fragen der Internetsicherheit (bspw. Datenschutz, Virenschutz, Netzkriminalität) oder auf die Haltung junger Menschen gegenüber Netzkonzernen bzw. deren Angeboten beziehen (vgl. u.a. Shell Deutschland Holding 2015 S. 132f., DIVSI 2014) und nicht auf die Glaubwürdigkeit von Informationen. Seite 2 von 5 extremistischen (auch klandestinen) Strukturen über das Netz für junge Menschen vergleichsweise niedrigschwellig. Zum anderen werden Jugendliche, die im Internet einschlägige Inhalte kommunizieren oder sich in einschlägigen Foren bewegen, für Extremistinnen/Extremisten leichter identifizierbar und kontaktierbar, um sie gezielt zu rekrutieren. Fachkräfte berichten in diesem Zusammenhang von Erfahrungen, die sie mit eigenen, aus Test- und Recherchegründen eingerichteten „Fake“-Profilen im Internet machten: Innerhalb weniger Tage wurden ihre Profile zu Rekrutierungszwecken kontaktiert. Auch in der Arbeit mit Ausstiegswilligen sind Fälle dokumentiert, die auf diese Weise vergleichsweise schnellen Zugang zu Führungsstrukturen bekamen. d) Verstärkung von Prozessen der inhaltlichen Annäherung (Affinisierung) Digitale Medien können aber auch die inhaltliche Affinisierung von Jugendlichen verstärken. Jugendliche finden in virtuellen Kontexten Resonanzräume, in denen sie in ihren Positionen und Haltungen von anderen bestärkt werden. Dabei besteht die Gefahr, dass sie sich zunehmend in Kommunikationskontexten (sog. Echo Chambers) bewegen, in denen extremistische Aussagen und Deutungen fortwährend reproduziert werden und alternative Perspektiven nicht mehr präsent sind. Ergänzend hierzu können webspezifische Mechanismen (Filteralgorithmen) den Zugang zu alternativen, den eigenen Präferenzen entgegenlaufenden Informationen, beschränken (sog. „Filter-Bubble-Effekt“). Relevanz digitaler Medien für die pädagogische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und gewaltorientiertem Islamismus Die große Bedeutung, die Internet und Social Media für junge Menschen besitzen wie auch die spezifischen Funktionen, die sie für die Hinwendung zu gewaltorientiert-extremistischen Ideologien und Gruppierungen haben, machen digitale Medien auch in unterschiedlicher Weise für die pädagogische, präventive Auseinandersetzung mit politischem Extremismus relevant. Im Rahmen des Fachgesprächs wurden mit Blick auf verschiedene pädagogische Handlungsfelder vor allem folgende Aspekte als bedeutsam identifiziert. Medienkompetenz als Schlüsselkompetenz Medienkompetenz – nicht im Sinne einer Technik-, sondern einer Rezeptions- und Einordnungskompetenz (Echtheit, Urheberschaft und Stellenwert von Informationen und Meinungen betreffend) – ist in einer digitalen Gesellschaft als Schlüsselkompetenz zu erachten, um sich ein eigenständiges, kritisches Urteil bilden zu können. Jugendliche zu einem kompetenten Umgang mit digitalen Medien und Medieninhalten zu befähigen, ist deshalb auch von hoher Bedeutung für eine fundierte politische Meinungsbildung und damit auch für die Prävention von politischem Extremismus. Online-Arbeit mit Einstiegsgefährdeten Für eine pädagogische Arbeit mit affinen bzw. einstiegsgefährdeten Jugendlichen, die lebensweltnah mit diesen Jugendlichen arbeiten will, hat es sich als überaus hilfreich und bereichernd erwiesen, Onlinekontexte sowohl in die Zielgruppenansprache als auch in die pädagogische Arbeit selbst einzubeziehen. Allerdings hat die Arbeit online v.a. eine ergänzende, unterstützende Funktion. Um belastbare Arbeitsbeziehungen aufbauen zu können, braucht es bisherigen Erfahrungen zufolge in der Regel die reale Begegnung; die häufig komplexen Ursachen- und Problemkonstellationen, die junge Menschen empfänglich für extremistische Szenen machen, erfordern zudem Begleitung und Hilfestellungen jenseits virtueller Kontexte. Seite 3 von 5 Virtuelle Ansprache von Ausstiegswilligen In der pädagogischen Arbeit mit jungen Menschen, die sich aus extremistischen Szenen lösen wollen, können Onlinekontexte ersten Erfahrungen zufolge Zugänge zu den Zielgruppen eröffnen – zum einen durch Kontaktangebote im Netz, die niedrigschwelliger als traditionelle Telefon- „Hotlines“ sind, zum anderen aber auch durch pro-aktive Ansprachen. Insofern erscheint es lohnend, diese bisher von professionellen Akteuren kaum genutzten Zugangswege in der Arbeit mit Ausstiegswilligen noch stärker zu erproben. Unterstützung des digitalen Ausstiegs Darüber hinaus sind Onlinekontexte auch insofern für die Ausstiegsarbeit relevant, als (ehemalige) extremistische Bezüge, die im Netz dokumentiert sind, die soziale Reintegration der Aussteigenden erschweren oder gar verhindern können. Um einen auch digitalen Ausstieg nachhaltig zu unterstützen, kann es deshalb erforderlich sein, entsprechende Spuren im Netz zu löschen. Damit werden privatwirtschaftliche Netzakteure (Google, Facebook etc.) als neue Kooperationspartner für die Zusammenarbeit relevant. Handlungs- und Entwicklungsbedarf Die Existenz politischer Extremismen im Netz beinhaltet aus einer Jugendhilfeperspektive konzeptionellen Entwicklungs- sowie fachlichen Handlungsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen. Die anwesenden Expertinnen/Experten sahen entsprechende Bedarfe vor allem in folgenden Bereichen: Sensibilisierung und Qualifizierung von Multiplikatorinnen/Multiplikatoren aus Schule und Regelstrukturen der Jugendarbeit Hohe Bedeutung wurde einer kompetenz- und wissensbezogenen Qualifizierung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren – zum Thema „digitale Medien“ generell sowie zu dort verfügbaren problematischen Inhalten und Kontakten – zugesprochen. Als bestehende Hürden bei der Realisierung von entsprechenden Angeboten wurden hier eine mangelnde Sensibilität von Lehrkräften für die Relevanz der Thematik, aber auch Hemmschwellen gegenüber dem Medium sowie fehlende Ressourcen im schulischen Alltag benannt. Entwicklung von pädagogischen Konzepten für pädagogische Spezialangebote Konzeptioneller Entwicklungsbedarf in der pädagogischen Arbeit von Präventionsprojekten sah die Runde insbesondere • zur jugendgerechten Gestaltung von Gegen-Narrationen/Gegen-Informationen im Netz (einschließlich der Frage, ob und wie Förderverweise platziert werden sollten), • zur Gestaltung von Beziehungsarbeit im Netz, • zum Umgang mit medialen Darstellungen extremer Gewalt. Kooperationen mit Netzanbietern Die Zusammenarbeit mit privatwirtschaftlichen Anbietern von Internettechnologien zum Thema „politische Extremismen im Netz“ ist in Deutschland vergleichsweise wenig etabliert. Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit sollten ausgelotet werden, da es sich um im Handlungsfeld relevante Akteure handelt. Allerdings bedarf es einer fachlichen VerständiSeite 4 von 5 gung darüber, welche Inhalte und Ziele derartige Kooperationen verfolgen (können) und welche möglichen Risiken sie bergen. Spezifische Entwicklungs- und Handlungsbedarfe, die aus Sicht der Fachpraxis in Bezug auf Internettechnologie-Anbieter bzw. eine Zusammenarbeit mit diesen bestehen: • • • • • das Löschen von problematischen Inhalten (z.B. zur Unterstützung von Ausstiegsprozessen) durch die Anbieter, die Entwicklung sicherer Chats, die eine anonyme Kommunikation mit Klientinnen und Klienten ermöglichen und deren Inhalte nicht gespeichert werden, der Umgang mit Mechanismen, die selektiven Wahrnehmungsprozessen Vorschub leisten (z.B. algorithmenbedingte Filterprozesse), die Unterstützung und Ermöglichung von Gegenaktionen im Netz, das Ausloten von möglichen Formen und Inhalten der Zusammenarbeit. Referenzen Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI)/SINUS-Institut Heidelberg (2014): DIVSI U25-Studie. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der digitalen Welt. Hamburg: DIVSI Shell-Deutschland Holding (Hrsg.) (2015): Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. Fischer: Frankfurt am Main (Zusammenstellung: Michaela Glaser/Sally Hohnstein) Seite 5 von 5
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