Schamgefühle - "ich schäme mich so...!"

Schamgefühle - "ich schäme mich so...!"
- die Erinnerung an den kleinen Prinzen.
von Wolfgang Scheiblich
Vortrag auf der Fachtagung für Selbsthilfegruppen in den
AHG Kliniken Daun Thommener Höhe am 04.09.15
Zunächst danke ich Ihnen sehr für die Einladung zum heutigen Tag und auch für das
ausgewählte Thema, das für unseren Lebensalltag so allgegenwärtig und gleichzeitig für
unser Zusammenleben so wichtig ist.
Was bedeutet denn Scham?
Warum ist es eigentlich eine Strafe, abgewandt in eine Ecke gestellt zu werden, wie wir es
vielleicht als Schüler noch erlebt haben? Ich jedenfalls kenne diese Art von Bestrafung,
besser gesagt von Beschämung an mir selbst oder an anderen Mitschülern. „Stell dich in die
Ecke und schäm dich“, war dann noch die Aufforderung des Lehrers oder der Lehrerein.
Es gibt offenbar einen großen Zusammenhang zwischen dem Bild von sich selbst und der
Notwendigkeit, sich zu versichern, ob die Anderen‘ dieses Selbstbild akzeptieren und
respektieren.
Wenn man abgewandt in der Ecke steht, kann ich nicht sehen und sozial kontrollieren,
welches Bild sich ‚die Anderen‘ gerade von mir machen.
Das ist die Dymanik dieser Bestrafung: Die Beschämung erfolgt dadurch, dass die
Kontrollmöglichkeit über das Ausbalancieren von Selbst- und Fremdbild eingeschränkt wird
oder sogar verloren geht.
Beschämt wird aber nicht nur die Person, der die Kontrolle entzogen wird, sondern auch
diejenigen, die diese Person erleben.
Eine typische Situation von Scham: Sie gehen auf einer Straße und entdecken plötzlich von
hinten jemanden, den Sie kennen und sehr mögen. Sie gehen schneller, tippen dem
Anderen von hinten auf die Schulter und rufen: „Mensch, schön, dich hierzu sehen.“ Der
Andere wendet sich um, blickt Sie an – und ist ein Fremder. Was passiert? Ihnen schießt das
Blut ins Gesicht, Sie stammeln: „Oh, tut mir leid, eine Verwechslung“ – und Sie sehen zu,
dass Sie wegkommen.
Typisch für die körperliche Reaktion der Scham sind das Erröten, aber auch die
Blickvermeidung und der Rückzug.
Manche Wissenschaftler vermuten, dass derjenige, der sich schämt, genau an Gesicht, Hals
und oberem Schulterbereich errötet, weil das die Zonen sind, die man selber nicht sehen
kann, die aber den Blicken der Umwelt deutlich ausgesetzt sind.
Die typische Blickvermeidung lenkt ebenfalls macht deutlich: Gerade das Vermeiden des
Blicks erhöht die Intensität des fremden Blickes, weil die Vorstellung, der Blick des anderen
sei strafend oder gar vernichtend immer größer ist als die Realität. Man könnte im Boden
versinken, um nicht mehr gesehen und angesehen zu werden.
Die Scham zeigt also eine Doppelstruktur an, die von einem sozialen Gegenüber ausgelöst
wird: Man fühlt sich beurteilt, kommt in den Konflikt zwischen Ich-Bild und Fremd-Bild und
gerät in eine Dynamik, unsichtbar werden zu wollen und genau dadurch immer auffälliger zu
werden.
Insofern spiegelt die Scham eine menschliche Grunderfahrung:
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-Die Erfahrung des Anderen ist einerseits immer gewünscht und angestrebt – denn über sie
erst erfahre ich mich als soziales Wesen in meiner Welt -und anderseits ist die Erfahrung des
Anderen gefürchtet – denn sie stellt mich vor den Konflikt, dass andere mich anders sehen
könnten als ich mich selbst sehe.
Jeder Kontakt mit der Welt durchläuft auch die Phase des Schämens. Das sei die
Grundangst des Daseins, wie es die Existenzialisten wie Sartre, Camus, Kierkegaard u.a. es
so tief durchdacht haben.
Der „Schamsatz“ lautet: „Ich schäme mich meiner vor anderen.“ (Sartre 1974)
Scham ist eine ganz besonders schwer zu besprechende Lebenswirklichkeit. Vielleicht
kennen Sie alle die kurze Passage aus der Geschichte des Kleinen Prinzen, der auf seiner
Reise von einem Planeten zum anderen sehr merkwürdige Leute trifft. Eine Begegnung sei
hier wiedergegeben:
„ Was machst Du da?“ fragte der kleine Prinz. „Ich trinke“ antwortete der Säufer mit düsterer
Miene. „Warum trinkst Du?“ fragte ihn der kleine Prinz. „Um zu vergessen“ antwortete der
Säufer. „Um was zu vergessen?“ erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte.
„Um zu vergessen, dass ich mich schäme“ gestand der Säufer und senkte den Kopf.
„Weshalb schämst Du dich?“ fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen.
„Weil ich saufe!“ endete der Säufer und verschloss sich endgültig in sein Schweigen. Und
der kleine Prinz verschwand bestürzt.
Mit welcher Art von Scham haben wir es hier zu tun?
Wir kennen die gesunde Scham, die uns schützt, die unsere Person, unsere Identität nicht
dem Zugriff anderer aussetzt, und wie kennen die Pathologische, die krank machende
Scham.
Bei der Pathologischen Scham wiederum kennen wir die beiden Varianten:
-der übersteigerten Scham und
-des Wegfalls oder des Ausfalls der Scham
Scham ist universell. Alle Menschen kennen die Scham. Sie gehört zu unserem MenschSein – wenn auch individuell verschieden ausgeprägt und verschieden je nach Geschlechtsund Kultur-Zugehörigkeit. In vielen Ländern sind die Frauen verschleiert, aber bei den
Tuareg tragen die Männer traditionell einen Gesichtsschleier; ohne ihn fühlen sie sich in der
Öffentlichkeit „wie jemand, der gezwungen ist, nackt auf eine Straße voller Menschen zu
treten.“
Scham ist ein sehr peinigendes Gefühl, das selten in Worte gefasst wird. Sie ist eng mit
Körperreaktionen verbunden, wobei das Erröten deutlich sichtbar ist. Wer sich schämt, der
zieht sich zurück, igelt sich ein, möchte im Erdboden versinken oder – wie in der Geschichte
vom Kleinen Prinzen, nichts mehr spürten, auch nicht die Peinlichkeit des eigenen Lebens.
Auch die Körpersprache zeigt, dass der Mensch im Zustand der Scham ganz um sich selbst
kreist. Scham isoliert. Sie trennt die Menschen – jedenfalls solange sie nicht bewusst ist.
Scham kann von verschiedener Dauer sein: Sie kann ein flüchtiger Affekt sein oder zu einer
dauerhaften Charakter-Eigenschaft werden. Sie kann auch von verschiedener Intensität sein:
von leichter Peinlichkeit bis hin zum abgrundtiefen Selbstwertzweifel, dem Gefühl, ein
„Nichts“ zu sein.
Scham kann in jeder zwischenmenschlichen Begegnung akut werden. Obwohl die Scham
schmerzhaft ist, hat sie vor allen Dingen positive Aufgaben. Dann nennen wir sie „gesunde
Scham“. Ein Zuviel an Scham nennen wir dann „pathologische“ Scham, wenn der Mensch
Schamgefühlen überflutet wird. Einen Fehler gemacht zu haben wird dann erlebt wie selbst
ein Fehler zu sein.
Und dann unterscheiden wir noch zwischen Scham und Beschämung. Scham passiert durch
die eigene Reaktion auf eine Situation, während die Beschämung von außen kommt.
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Die Scham ist eng mit den Grundbedürfnissen des Menschen verbunden, wie Grawe sie
sehr zutreffend beschrieben hat, nämlich mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, dem
Bedürfnis nach Anerkennung, dem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit und dem Bedürfnis
nach Integrität – in dem Sinne, dass ein Mensch seinen Werten treu bleibt, unbestechlich ist,
seinem Gewissen folgt. Diese Grundbedürfnisse sind unmittelbar mit Scham verknüpft.
Und dann kennen wir noch die Empathische Scham und die Gruppen-Scham.
Empathische Scham meint die Scham, die wir empathisch mitfühlen, wenn ein anderer
Mensch sich schämt. Etwa wenn wir an einem Bettler vorbeigehen oder wenn wir einen
Menschen in Not sehen. Neurobiologisch lässt sich dies mit den Spiegelneuronen erklären.
Gerade die Scham wirkt stark auf dieser unbewussten Ebene.
Und dann kennen wir noch die Gruppen-Scham. Das heißt man schämt sich für eine andere
Person oder Gruppe. Zum Beispiel schämen sich viele Deutsche für ihr Land und seine
Vergangenheit. Oder wenn ein Mitarbeiter sich für die Einrichtung schämt, in der er arbeitet.
Wir schämen uns angesichts des Umgangs mit Flüchtlingen oder wenn wir das Bild des
kleinen Jungen am Stand sehen, der bei Flucht ertrunken ist und ans Land gespült wurde.
Intensiver eingehen möchte ich auf weitere Scham-Formen (nach S. Marks, von dem auch
einige Einzelbeispiele stammen):
1. die Intimitäts-Scham: Wir schämen uns, wenn wir zu viel von uns gezeigt haben. Wenn
etwas nach außen getragen wurde, was privat, intim ist – körperlich, oder auch seelisch.
Wenn etwas, was uns wichtig und persönlich ist, in die Öffentlichkeit gezerrt wurde: z.B.
Hoffnungen, Phantasien, Gefühle. Ein einfaches Beispiel: Ein Schüler schreibt einen
Liebesbrief an eine Mit-Schülerin. Der Brief wird von Dritten abgefangen und laut
vorgelesen: die beiden Schüler schämen sich.
Solche Scham-Erfahrungen sind sehr schmerzhaft. Sie sitzen wie ein Stachel im Fleisch
und können uns noch Jahrzehnte später die Röte ins Gesicht treiben. Genau deswegen
können Scham-Erfahrungen – unter günstigen Bedingungen – Verhaltens-Änderung
auslösen: „So etwas möchte ich nie mehr erleben. Künftig werde ich ganz stark darauf
achten, was ich von mir zeige und was nicht!“ So sorgt die Scham dafür, dass ein Mensch
im Laufe seiner Entwicklung immer besser lernt, seine Grenzen zu regulieren. Bei einer
gesunden Scham-Entwicklung lernt ein Heranwachsender, in konstruktiver Weise für
seinen Schutz zu sorgen (Marcks).
Wenn Sie zurückdenken: wann Sie sich das letzte Mal geschämt haben: Dann werden
den meisten von Ihnen wahrscheinlich eher Erlebnisse einfallen, die lange zurückliegen,
vielleicht aus Ihrer Kindheit oder Jugend. Denn als Konsequenz aus jenen Erfahrungen
haben wir im Laufe unseres Lebens gelernt, uns – auch vorbeugend – zu schützen – so
dass wir im weiteren Leben eher selten in peinliche Situationen geraten und peinliche
Situationen so gut wie möglich vermeiden wollen.
Insofern ist Intimitäts-Scham die Hüterin unserer Grenzen von Intimität und Privatheit. Die
Scham schützt uns. Im heutigen Zusammenhang könnte es auch sein, dass die dunkle
Zeit der Abhängigkeit voller Scham bis heute ist, wenn Erinnerungen sich wieder melden,
Peinlichkeiten, wenn man am liebsten die Zeit zurückdrehen wollte.
2. die Anpassungs-Scham: Wir schämen uns, wenn wir uns daneben benommen haben und
kritisch angesehen oder ausgelacht werden, wenn wir uns peinlich verhalten haben.
Wenn wir etwas getan haben, was den Erwartungen und Normen der Mitmenschen
widerspricht und wir daraufhin ausgegrenzt oder gemieden werden.
Diese Erwartungen der Mitmenschen hängen stark von der jeweiligen Kultur ab. Zum
Beispiel gilt in Deutschland traditionell Schwäche als schändlich. Daher schämen sich
viele Menschen für eine Krankheit, auch für die Suchtkrankheit. Oder sie schämen sich für
ihre Armut, für ihre Arbeitslosigkeit, für ihr Scheitern, für Fehler, für mangelnde Bildung,
für geringen beruflicher Status oder auch nur für ihren Dialekt.
Anpassungs-Scham kann sich auch auf den eigenen Körper beziehen; etwa wenn dieser
Körper nicht dem herrschenden Schönheitsideal zu entsprechen scheint, wenn er z.B.
übergewichtig ist. Anpassungs-Schamgefühle bleiben zurück, wenn wir den Erwartungen
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unserer Mitmenschen nicht gerecht wurden und ausgegrenzt werden. Oder wenn wir uns
nicht-zugehörig fühlen, weil wir „anders“ oder „schwach“ sind.
Zum Beispiel kann sich ein Junge schämen, weil er schmächtig und schüchtern ist. Im
günstigen Fall kann diese Scham beispielsweise dazu führen, dass er Sport treibt und
Judo trainiert. Dadurch gewinnt er an Selbstbewusstsein, Körperbeherrschung und
Stärke. Damit kann er sich zugehörig fühlen bzw. die Zugehörigkeit seiner Mitschüler
erarbeiten. Das wäre eine positive Funktion der Anpassungs-Scham: Sie ist die Hüterin
unserer Zugehörigkeit.
3. die moralische oder Gewissens-Scham: Hier geht es nicht um die Erwartungen der
anderen, sondern um unsere eigenen Erwartungen an uns selbst. Hier geht es um die
Scham, die zurückbleibt, wenn wir etwas getan haben, was die Werte unseres eigenen
Gewissens verletzt. Wenn wir schuldig geworden sind.
Oder wenn wir Zeugen von Unrecht geworden sind. Wenn zum Beispiel in einer
Fußgängerzone ein Passant zusammengeschlagen wird, dann hat das auch
Auswirkungen auf die Zeugen: Diese Zeugen bleiben häufig mit Schamgefühlen zurück,
mit quälenden Gedanken: Warum habe ich nicht geholfen? Warum bin ich nicht
dazwischen gegangen, warum habe ich nicht geschrien? Warum habe ich nicht Pegida
demonstriert?
Gewissens-Scham empfinden wir auch, wenn wir uns selbst etwas schuldig geblieben
sind.
Dazu ein Beispiel: ein kleiner Junge hat etwas gestohlen. Im Nachhinein schämt er sich
dafür. Unter günstigen Umständen – etwa durch ein vertrauensvolles, unterstützendes
Gespräch – kann diese Scham zur Reue werden und eine Verhaltensänderung bewirken.
Aus einem Fehler wird moralische Entwicklung.
Im Rückblick sind es genau diese Scham-Erfahrungen, aus denen Menschen ihre
Moralität aufbauen. Das sind die Identitätsnarben, wie Stefan Marks das bezeichnet, ohne
die wir nicht die geworden wären, die wir sind. Der Pädagoge Janusz Korczak ist sogar
überzeugt, dass ein Kind, das niemals gelogen oder gestohlen hat, kein moralischer
Mensch werden kann. Insofern ist Gewissens-Scham die Hüterin unserer Integrität.
Zusammengefasst sorgt Scham – in ihrer gesunden Ausprägung – dafür, dass wir unsere
Grenzen regulieren, dass wir für Zugehörigkeit sorgen und unsere Integrität wahren können.
Dies sind drei Hauptthemen der Scham.
Im Alltag geschieht diese Regulierung weitgehend unbewusst: Wir achten je nach Situation
darauf: wie viel wir von uns zeigen, wie man sich nicht-peinlich verhält und dass wir unseren
eigenen Werten treu bleiben - idealerweise. Dies alles gilt nur unter günstigen Bedingungen:
Nur dann, wenn eine gesunde Scham-Entwicklung vorliegt – und ein entsprechendes
Umfeld.
Viele Menschen haben dieses Glück aber nicht. Hier schützt die Scham nicht, sondern sie
schadet und vernichtet:
Menschen, die wiederholte oder traumatische Grenzverletzungen erlebt haben, etwa durch
Missbrauch, Vergewaltigung oder Folter, bleiben oft mit massiven Schamgefühlen zurück.
Das ist die Scham der Opfer, vor allem der Frauen, die sich aus Scham nicht offenbaren,
wenn ihnen Gewalt angetan wurde.
Wenn Kinder mit massiven Beschämungen und Ausgrenzungen aufwachsen, sind sie in
Gefahr, ein übermächtiges Verlangen nach Zugehörigkeit zu entwickeln - um jeden Preis, so
dass sich daneben ihre Fähigkeit nur schwach entwickeln kann, einer Gruppen-Erwartung zu
widerstehen und zu sagen: „Nein! Da mache ich nicht mit!“, wenn sie in einer Gruppe oder
Schulklasse sind, in der als „cool“! gilt, einen schwächeren Mitschüler zu mobben.
Oder ein anderes krasses Beispiel: Nach Ende des Vietnam-Krieges haben mehr USKriegsveteranen durch Suizid ihr Leben verloren als im Krieg selbst getötet wurden.
Ähnliches ist gegenwärtig unter Veteranen des Irak-Krieges zu beobachten. Die Scham, die
diese Menschen mit sich tragen, hat sie vernichtet. Dabei muss man wissen: Die Soldaten
des Vietnam-Krieges und auch des Irak-Krieges waren im Durchschnitt 19 Jahre alt!!
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Aus all dem kann man schließen: Die Würde von Menschen zu wahren bedeutet nicht, ihnen
Scham zu ersparen – denn wir brauchen ja die Scham in ihrer Funktion, genau diese Würde
zu behüten und zu schützen. Die Würde zu wahren bedeutet aber auch, ihnen überflüssige
Scham zu ersparen.
Es ist nicht unsere Aufgabe, die Menschen, mit denen wir zu tun haben – auch in
Selbsthilfegruppen - zusätzlich mit Scham zu erfüllen: indem wir ihre schützenden Grenzen
verletzen, sie ausgrenzen, beschämen oder in ihrer Integrität angreifen. Menschenwürdige
Arbeit mit Menschen bedeutet, ihnen einen „Raum“ zur Verfügung zu stellen, in dem sie
geschützt, zugehörig, integer und anerkannt werden. Nur dann ist Lernen, Wachstum und
Veränderung möglich.
Zur Entwicklung und Abwehr von Scham
Ob ein Mensch eine Scham-Situation in gesunder oder in pathologischer Weise erlebt, hängt
auch von seiner Lebens-Geschichte ab.
Scham im engeren Sinne beginnt in der Lebensgeschichte etwa ab Mitte des zweiten
Lebensjahres. Um diese Zeit macht das kindliche Gehirn einen Entwicklungsschritt, der
bedeutet, dass das kleine Kind in der Lage ist, sich selbst quasi von außen wie ein Objekt zu
betrachten und zu bewerten: „So jemand bin ich also!“ Bildlich ist dieser Entwicklungsschritt
in der Schöpfungsgeschichte beschrieben: Adam und Eva waren nackt, aber sie konnten das
erst erkennen, nachdem sie eine Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Und der
Baum der Erkenntnis könnte symbolisch für das Gehirnwachstum stehen.
Allerdings ist dieser Blick, den wir ab Mitte des zweiten Lebensjahres auf uns selbst werfen,
keineswegs „objektiv“, sondern bereits vorgeprägt durch vorangegangene Erfahrungen, die
das Kind mit seinen engsten Familienmitgliedern macht. Die Kommunikation zwischen Kind
und Familie scheint hier entscheidend zu sein und diese Kommunikation geschieht vor allem
über den Augen-Kontakt. Die Qualität des Blickes, den das Kind erfährt, wird im Laufe der
Entwicklung verinnerlicht zum inneren Blick auf sich selbst.
Kleine Kinder, so Heinz Kohut, suchen den liebevoll spiegelnden Glanz im Auge der Eltern.
Wird ein Baby liebevoll angelächelt, dann freut es sich, jauchzt und strampelt mit Armen und
Beinen. Neurobiologisch betrachtet führt diese Freude zur vermehrten Produktion von
Glückshormonen wie Serotonin, die wiederum das Wachstum wichtiger Gehirnregionen
fördern, Regionen, die unter anderem zuständig sind für Lernen und Gedächtnis, für die
Regulierung der Affekte und die Entwicklung eines zusammenhängenden Selbst-Erlebens.
Es gibt Hinweise, dass das Wachstum dieser Regionen entsprechend zurückbleibt, wenn
Freude-Erfahrungen zu häufig ausbleiben.
Für die frühkindliche Entwicklung sind also Anerkennung, Wertschätzung, gesehen- und
angelächelt-Werden von wesentlicher Bedeutung. Wie die Pflanze das Sonnen-licht benötigt,
so braucht der Mensch die Anerkennung. Dies ist ein menschliches Grundbedürfnis, wie
Klaus Grawe und andere es so eindrücklich geschildert haben. Anerkennung ist das vierte
Hauptthema der Scham.
Gesunde Scham kann sich entwickeln, wenn das Bedürfnis des Kindes nach Anerkennung,
Schutz und Zugehörigkeit hinreichend gut beantwortet wird: Wenn das Kind liebevoll
anerkannt wird, wenn es die Erfahrung macht, dass es geschützt wird und dass seine
Grenzen gewahrt werden, wenn das Kind eine sichere Bindung und Urvertrauen entwickeln
kann, wenn es dazugehört und versorgt wird, wenn es erfährt, dass es geliebt wird, so wie es
ist – auch dann, wenn es „unangepasste“ Gefühle wie Angst, Schmerz oder Frustration zum
Ausdruck bringt. Gesunde Scham bedeutet, dass ein Mensch im weiteren Leben SchamErfahrungen verarbeiten und integrieren kann.
Pathologische, also krankmachende Scham dagegen bedeutet, dass der Betroffene sehr
schnell in die Gefahr gerät, in abgrundtiefe, existenzielle Angst zu verfallen, z.B. einen
Fehler, den er gemacht hat, als Absturz seines Selbstwertgefühls zu erleben. Die Vorläufer
von pathologischer Scham können gelegt werden, wenn die frühe Eltern-KindKommunikation gestört ist.
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Ein Beispiel dafür zeigt das so genannte Still Face-Experiment, das man sich bei youtube
ansehen kann. Darin fordert der Versuchsleiter eine Mutter auf, den liebevoll-spiegelnden
Augenkontakt durch eine starre Gesichtsmimik zu ersetzen. Man kann hier eindrucksvoll
sehen, in welch seelische Not ein kleines Kind geraten kann, wenn die liebevoll-spiegelnde
Kommunikation mit der Bezugsperson unterbrochen wird. Im Experiment kann die Not des
Kindes wieder aufgefangen werden, indem die Mutter die Spiegelung wieder aufnimmt.
Wenn aber Spiegelung auf Dauer – als Beziehungsmuster – nicht gelingt, dann besteht die
Gefahr, dass eine pathologische Scham-Entwicklung vorbereitet wird: Wenn das Kind wieder
und immer wieder kaltgestellt, missachtet oder beschämt wird. Wenn die Grenzen des
Kindes nicht respektiert werden, z.B. wenn es von den Eltern missbraucht wird, emotional
oder körperlich. Wenn das Kind ausgegrenzt wird. Oder wenn es bestraft wird, wenn es sich
so zeigt, wie es ist: z.B. wenn es sich mit seiner Hilflosigkeit und mit seiner Schwäche zeigt:
„So wie du bist, bist du nicht liebenswert.“ Wenn also die Grundbedürfnisse nach Schutz,
Zugehörigkeit, Integrität und Anerkennung dauerhaft nicht befriedigt werden, dann wird
pathologische Scham begründet. Diese Scham-Entwicklung kann durch individuelles
Verhalten von Eltern verursacht sein. Häufig stehen aber dahinter gesellschaftliche Faktoren
oder Schicksale, wenn die Eltern zum Beispiel suchtkrank oder ihrerseits traumatisiert sind:
Das nach liebevollen Blicken suchende Kind schaut in die stumpfen Augen der innerlich
abwesenden Bezugsperson. Oder wenn Eltern tagtäglich acht oder mehr Stunden
entfremdet arbeiten müssen. Dann sind sie spät abends vielleicht zu kaputt, um ihre Kinder
noch liebevoll ansehen zu können. Traditionell wird diese Rolle in unserer Gesellschaft eher
den Vätern zugewiesen.
Zurückweisungen können auch als gemeinschaftliche Erfahrungen erlebt werden, wenn ein
Mensch von klein auf Verachtung erfährt, z.B. weil er aus einer Obdachlosensiedlung kommt
und bemerkt, wie schon seine Eltern voller Scham sind angesichts von Eltern, die besser
gestellt sind. Das ist Alltag in Kindertagesstätten und Schulen. Eltern aus sozialen
Brennpunktegebieten gehen nicht zu Elternsprechtagen – sie schämen sich wegen ihrer
Unterlegenheit gegenüber den anderen Eltern.
In solchen Fällen ist das kleine Kind noch nicht in der Lage, zwischen den Lebensumständen seiner Eltern und deren Auswirkungen auf sich selbst zu unterscheiden. Es
ist noch nicht fähig, sich klarzumachen: „Meine Eltern können mich zwar nicht liebevoll
ansehen, weil sie krank sind – dennoch bin ich liebens-wert.“ Vielmehr wird das Kind sich
abgeschoben fühlen und die Botschaft verinnerlichen: „Ich bin nicht liebenswert“.
Aus solchen Erfahrungen kann sich im weiteren Leben pathologische, also krankmachende
Scham entwickeln wenn nicht positive Erfahrungen als Gegenpol erlebt werden, z.B. durch
liebevolle Verwandte, durch einen unterstützenden Freundeskreis oder fördernde
Lehrerkräfte.
Aus ungünstigen Kindheits-Erfahrungen kann sich pathologische Scham umso eher dann
entwickeln, wenn weitere Erfahrungen von Erniedrigung, Missbrauch, Folter oder andere
Grenzverletzungen hinzukommen.
Pathologische Scham bedeutet, dass ein Betroffener in einen Zustand existenzieller Angst
gerät, nämlich in „abgrundtiefe Verzweiflung und Panik“, wie Leon Wurmser sagt. Der
Leidende, so fährt er fort, „versinkt im Gefühl der absoluten Verworfenheit“.
In diesem Zustand werden andere, primitivere neuronale Systeme aktiviert als bei
Anerkennung. Scham ist wie ein Schock, „der höhere Funktionen der Gehirnrinde zum
Entgleisen bringt“, wie Nathanson festgestellt hat. Vernünftiges Denken ist in diesem
Zustand nicht möglich. Diese Erfahrung kennen alle, die schon einmal vorne an der Tafel
standen und wegen einer falschen Antwort ausgelacht wurden: Nichts geht mehr! Selbst eine
einfache Physik-Formel, vor 5 Minuten noch im Kopf, kann nicht erinnert werden.
Die höheren Gehirnfunktionen werden durch das so genannte primitive „Reptilienhirn“ in den
Hintergrund gedrängt. Das Nervensystem ist ganz darauf ausgerichtet, der Angstquelle zu
entkommen. Unser Verhalten ist reduziert auf primitive, unbewusste Schutz-Mechanismen:
Angreifen, Fliehen oder Verstecken, Verschwinden oder im Erdboden versinken wollen.
Damit sucht der Mensch sich – akut – vor existenzieller Angst zu schützen. Dieser Schutz
kann aber auch zu einer dauerhaften Maske werden, mit der man sich vorbeugend vor
Schamgefühlen zu wappnen sucht.
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Einige verbreitete Abwehr-Formen möchte ich kurz nennen:
Projektion bedeutet, dass Andere mit den Eigenschaften ausgestattet werden, für die man
sich selbst schämt. z.B. „schwache“ Gefühle wie Trauer oder Angst. Projiziert auf Andere
wird daraus: „Du Schwächling“.
Beschämung und Verachtung: Um die eigene Scham nicht fühlen zu müssen, werden
Andere gezwungen, sich zu schämen. Dazu werden sie beschämt, verhöhnt, entwürdigt,
schikaniert, verachtet, wie Luft behandelt, zu Objekten gemacht, ausgegrenzt oder vernichtet
– insbesondere diejenigen, die als schwach betrachtet werden. Das kommt auch in Firmen
vor. In Städten gibt es Orte, in denen werden Obdachlose von randständigen Jugendlichen
misshandelt und angezündet – leider nicht allzu selten.
Arroganz ist oft eine Fassade, um Selbstsicherheit vorzutäuschen. Durch protziges Auftreten
wird versucht, Scham und Selbstwertzweifel zu kaschieren. Diese Menschen ohne Scham
sind dann unverschämt oder schamlos.
Durch Trotz, Wut und Gewalt wird Ohnmacht in Macht gewendet. Aus passiv wird aktiv
gemacht. Man ist lieber ein Täter, als ein Nichts. Fragt man z.B. jugendliche Straftäter,
weshalb sie Jemanden krankenhausreif geschlagen oder gar umgebracht haben, dann
bekommt man nicht selten solche Antworten: „Ich wollte meinen Kumpels beweisen, dass ich
kein Feigling bin“.
Diese Formen von Scham-Abwehr richten sich nach außen, gegen Mitmenschen. Sie sind
eher charakteristisch für Jungen und Männer. Andere Scham-Abwehr-Formen sind selbstdestruktiv, gegen sich selbst gerichtet. Sie sind eher typisch für Mädchen und Frauen. Auch
dazu Beispiele:
Durch Anpassung, Disziplin, sich klein machen bis zur Selbstaufgabe versucht man,
möglichen Beschämungen zu entgehen. „Wenn mich keiner sieht, dann kann ich nicht
beschämt werden“. „Wenn ich nicht male, dann kann mich auch keiner auslachen! Ich bin ja
nicht kreativ!“ Dies kann z.B. dazu führen, dass jemand über Jahrzehnte nicht tanzen geht,
weil er befürchtet, sich lächerlich zu machen, wie damals im Sport-Unterricht. Oder sich nicht
zu singen traut, nur um einer möglichen Beschämung zu entgehen. Wenn wir unser Licht
unter den Scheffel stellen, dann kann uns auch keiner dafür auslachen.
Ehrgeiz – in gesundem Maße – kann ein konstruktiver Versuch sein, sich vor Scham und
Beschämung zu schützen. Zum Beispiel in der Schule: „Wenn ich mich anstrenge und noch
mehr übe, dann vermeide ich künftig die Peinlichkeit einer falschen Antwort.“
Ein Zuviel an Ehrgeiz steht jedoch in Gefahr, in Perfektionismus oder ins Leistungsdenken
umzuschlagen: „Nur wenn ich perfekt bin, kann mich keiner auslachen.“ „Ich werde nur
geliebt, wenn ich absolute Spitzenleistung bringe, einen idealen Körper habe, Top-Kleidung,
einen perfekten Mann, perfekte Kinder usw.“ Das alles mit der Konsequenz, dass die
betreffende Person sich bis zum Umfallen verausgabt.
Die Liste der Abwehrformen ließe sich noch ergänzen. Die Beispiele zeigen, dass durch
unbewusste, abgewehrte Scham die Beziehungen häufig vergiftet werden: Durch
Verachtung, Arroganz und Gewalt entsteht nicht Nähe, sondern Entfremdung und Distanz –
auch zu sich selbst.
Scham-Abwehr-Formen können sich Laufe eines Lebens „auswachsen“. So wurde z.B. in
einer Langzeitstudie beobachtet, dass der Zynismus eines jungen Menschen sich im Laufe
der Jahrzehnte in einen wunderbaren Humor verwandeln konnte.
Es kann aber auch passieren, dass durch Lebenskrisen oder Umbrüche die schützende
Wirkung einer Abwehr-Maske plötzlich zusammenbricht und Scham akut zu werden droht,
wie bei der alten Frau, die bei Kriegsende vergewaltigt wurde, worüber sie zeitlebens nie
sprechen konnte. Sie hat über Jahrzehnte einen Schutzwall von Kontrolle gegenüber
Entblößung und Sexualität errichtet. Jetzt wohnt sie im Altenheim und wird plötzlich
pflegebedürftig. Als ein Pfleger sie im Intimbereich waschen möchte, wehrt sie sich mit
Ausreden, Schimpfworten, Kratzen und Spucken.
Gerade in Zeiten von Veränderung, Krise, Umbruch besteht die Gefahr, dass SchamGefühle akut werden, auch wenn man dem Leben eine Wende gibt, wenn man nicht so
weiterlegen möchte wie bisher.
Ein Beispiel aus der Pädagogik: Alles Lernen kann Scham auslösen. Daher ist gerade die
Kindheit und Jugendalter wichtig in Bezug auf die Entwicklung von - gesunder oder
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pathologischer – Scham, weil die Heranwachsenden ihr Bewusstsein für Grenzen und
Schutz erst zu entwickeln beginnen und weil sich - vor allem in der Pubertät – der Körper
stark verändert. Hormonell bedingte Stimmungsschwankungen, Pickel, Stimmbruch,
Wachstum von Haaren, sexuelle Reifung: dies alles verunsichert, und zwar in den Jahren, in
denen die Ablösung vom Elternhaus im Vordergrund steht und damit Zugehörigkeit zu den
Gleichaltrigen umso dringender wird. Zugleich entwickeln sich die kognitiven Fähigkeiten des
Heranwachsenden und damit das Wissen über richtig und falsch. Das Bedürfnis nach
Integrität muss oft im Konflikt mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit herausgearbeitet werden.
Zurück zur Scham-Abwehr: Ihr Ziel ist es, die Schamgefühle zu vermeiden oder los zu
werden: Schamlosigkeit. Scham-Abwehr sind – gesunde bis pathologische - Versuche, für
Anerkennung, Schutz oder Zugehörigkeit zu sorgen.
Wir alle haben gelernt, uns vor Schamgefühle zu wappnen - zumal ein bewusstes Umgehen
mit ihnen – noch – kein Thema in unserer Gesellschaft ist. Allerdings unterscheiden sich die
Menschen in der Art und Weise, wie wir uns jeweils vor Scham zu schützen suchen.
Auch Kulturen und Sub-Kulturen unterscheiden sich darin, welche Formen von SchamAbwehr sie jeweils bejahen, akzeptieren oder verwerfen. Viele Kulturen schreiben den
Menschen ganz genau vor, was sie tun müssen, um „Schande“ zu vermeiden
beziehungsweise ihre verlorene „Ehre“, Ansehen oder Respekt wieder herzustellen: Für die
„Ehre“ setzen unzählige Männer über Jahrhunderte ihr Leben aufs Spiel, etwa indem sie sich
duellieren oder in den Krieg ziehen. Oder indem sie ihre geliebte Tochter oder Schwester
ermorden und diese Taten dann als „Ehrenmorde“ bezeichnen.
Auch in Jugend-Cliquen herrschen oft ziemlich klare Regeln darüber, wie ein Mitglied sich
die Anerkennung durch die Gruppe erringen kann. Ähnliches gilt für viele Schul-klassen und
Teams in der Arbeitswelt. In vielen Berufen gibt es – mehr oder weniger versteckte –
Erniedrigungs-Rituale, die neue Mitglieder über sich ergehen lassen müssen, um ihre
Zugehörigkeit zu „verdienen“.
In militaristischen Organisationen werden Rekruten in der Grundausbildung oft erniedrigt,
entwürdigt, mit Scham erfüllt, unter anderem, indem sie zu „weibischen“ Tätigkeiten wie
Putzen, Betten bauen und Kleiderappellen gezwungen werden. Anschließend bietet das
Militär einen Kodex von Verhaltensweisen an, mit denen die Rekruten ihre „Ehre“ wieder
herstellen und Zugehörigkeit mit den „Kameraden“ gewinnen können: Durch hartes,
„soldatisches“ Auftreten und die Bereitschaft zur Gewalt.
Erniedrigungs-Rituale haben – wie alle Formen von Beschämung – den Zweck, Status,
Macht und Ohnmacht zu verteilen: Wer andere zwingen kann, sich zu schämen, der hat die
Macht. Unbewusste Scham und ihre Abwehr – durch Projektion, Beschämung, Verachtung,
Arroganz, Gewalt usw. – haben also immer auch eine Funktion für eine Gruppe,
Organisation oder Gesellschaft.
Ich fasse nochmals zusammen, warum Scham eine gute Sache ist
Scham ist ein starkes und unangenehmes Gefühl, das jeder Mensch kennt. Wie Scham
entsteht, warum das Gefühl wichtig für die Gesellschaft ist und was es mit dem
Fremdschämen auf sich hat.
Der mittlere Blusenknopf platzt ausgerechnet in der Kantine ab. Der Lehrer kritisiert die
Mängel des Deutschaufsatzes vor der ganzen Klasse. Fahrkartenkontrolle, Ticket vergessen.
Das Ergebnis in allen Fällen: Scham. Jeder kennt sie, erlebt sie, lebenslang. Berufliches
Versagen, Übergewicht, Armut, Arbeitslosigkeit können Auslöser tiefer und anhaltender
Scham sein.
„Schamgefühle gehören zu den stärksten, unangenehmsten und intimsten menschlichen
Regungen“, sagt Udo Baer als Körpertherapeut. Wer sich schämt, ist im Kern getroffen. Er
möchte sich umgehend auflösen, im Erdboden versinken, unter die Teppichfranse kriechen,
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den hochroten Kopf in den Sand stecken. Doch der Körper zeigt das genaue Gegenteil.
Indem wir rot werden, kehrt sich unser Innerstes nach außen. Die Scham wird sichtbar. Für
alle. Wie peinlich!
Scham schützt unsere Intimität
Zurzeit scheint die Schamschwelle allerdings dramatisch zu sinken: Im Fernsehen lassen
sich junge Menschen vor Millionenpublikum demütigen; in Talkshows pöbeln sich Eheleute
an; in Internet-Blogs werden freimütig intimste Geheimnisse verraten. „Die öffentlich
praktizierte Schamlosigkeit führt dazu, dass die natürliche Scham allmählich an Wert
verliert“, befürchtet Udo Baer. Diese aber sei wichtig, denn sie schütze die Grenzen unserer
Intimität – und die Grenzen der anderen. „Wenn ich zufällig das Tagebuch meiner Tochter
finde, bin ich peinlich berührt. Dieses unangenehme Gefühl bringt mich dazu, das Buch
zurücklegen, ohne hineinzuschauen, um ihre Intimsphäre nicht zu verletzen.“
Empfinden wir heute tatsächlich weniger Scham als früher? Im Gegenteil, behauptet die
Sozialpsychologin Brené Brown von der University in Houston. Vor allem bei den Frauen
habe sich das Schämen zu einer „sozialen Epidemie“ ausgewachsen, lautet ihr Fazit aus der
Befragung Hunderter Frauen. „Wir schämen uns, weil wir glauben, dass wir zu dick,
schlechte Mütter, nicht sexy genug seien.“ Dahinter stecke die Angst, nicht zu genügen.
Scham sei ein Auslöser von Perfektionismus, Sucht, Angststörungen, Schuldgefühlen,
Aggressivität und der Beschämung anderer. Sie verändere Beziehungen, Familien,
Gesellschaften, „ohne dass wir uns dessen bewusst sind.“
Scham ist zutiefst menschlich und hält die Gemeinschaft zusammen
Sicher ist: Die Fähigkeit, Scham zu empfinden, ist exklusiv menschlich. Sie steckt uns
vermutlich in den Genen, ihre äußeren Anzeichen sind universell: Erröten, gesenkter Blick,
hängende Schultern, eingefallene Brust. Anders als Emotionen wie Angst oder Ärger, muss
das Schamgefühl erst reifen. Ab zirka zwei Jahren, wenn das Kleinkind sich seiner
Individualität bewusst wird, ist es nach Ansicht der Forscher fähig, sich zu schämen.
Warum brauchen wir dieses Gefühl? Für Daniel Fessler von der University in California ist
Scham seit der Frühgeschichte des Menschen der „entscheidende Mechanismus, um die
Zusammenarbeit in Gruppen zu etablieren und aufrechtzuerhalten.“ Die peinigende Emotion
treibt dazu an, die geltenden Normen einzuhalten. Dies sichert den Verbleib in der Gruppe –
und somit das Überleben. Nach innen wirkt Scham wie eine Alarmglocke, nach außen
beschwichtigt sie: Seht her, ich habe eine Regel verletzt, und mir geht es nicht gut damit.
Mehr Bestrafung ist nicht nötig. Man weiß heute Bescheid um das Schicksal der
„Vogelfreien“ des Mittelalters oder der Ausgestoßenen in Naturvölkern: Ihre
Lebenserwartung ist deutlich verkürzt. Sie ereilt der schnelle Tod.
Diesen Effekt wollen beispielsweise amerikanische Justizbehörden nutzen, wenn sie
Delinquenten statt einer Haft- oder Geldstrafe eine Beschämung auferlegen wie in Florida,
wo Freier, die bei einer Prostituierten ertappt werden, im Fernsehen vorgeführt werden. Die
Stadt New York plant unterdessen, Fotos samt Namen von notorischen Rasern öffentlich
auszuhängen.
Fremdschämen: Die Blamage anderer ist uns peinlich
Das sitzt, nicht nur beim Verkehrssünder. Denn Beschämung zieht oft größere Kreise: Die
Ehefrau, deren Mann sich auf der Party daneben benimmt, schämt sich stellvertretend für
ihren Gatten, weil sie davon ausgeht, dass beide als zusammengehörig wahrgenommen
werden. Eine weitere Spielart, das Schämen für völlig fremde Menschen, wird besonders im
Fernsehen kultiviert und ist mittlerweile so verbreitet, dass der Begriff „fremdschämen“ es
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bereits als Eintrag in den Duden geschafft hat. Dass die Blamage anderer im wahrsten Sinn
des Wortes peinlich ist, also richtig weh tut, haben Sören Krach und sein Team von der
Universität Marburg mit bildgebenden Verfahren nachwiesen. Demnach werden beim
Fremdschämen die gleichen Hirnareale aktiviert wie beim Mitleid für körperliche Schmerzen
anderer.
Scham ist der Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält. Er birgt aber auch Risiken und
Nebenwirkungen, unter anderem für die Gesundheit: Scham trägt nämlich dazu bei, dass
viele Menschen sich vor ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen drücken. Sie meiden den Check
zur Früherkennung von Hautkrebs, die Krebsvorsorge bei Frauenarzt oder Urologe;
Jugendliche riskieren Krankheiten und ungewollte Schwangerschaften, weil es ihnen peinlich
ist, ein Kondom zu benutzen. Emily Merrill von der Texas University stellte zudem fest, dass
übergewichtige Frauen oft sehr lange zögern, bei einer Erkrankung medizinische Hilfe zu
holen, da sie sich ihrer Körperfülle schämen.
Wenn Scham- und Schuldgefühle krank machen
Überstarke Schamgefühle machen die Seele krank. Wie Mehltau legt sich die Scham über
das Leben, dämpft die Freude, bremst den Elan. Die Folge: sozialer Rückzug und Isolation.
Oft tritt Scham im Doppelpack mit Schuldgefühlen auf. „Wer Scham spürt, empfindet sich in
diesem Moment als wertlos, ungenügend, falsch. Schuldgefühle beziehen sich darauf, etwas
falsch getan zu haben“, sagt Udo Baer. „Dabei sagt ihnen ihr Verstand, dass diese Gefühle
in keinem angemessenen Verhältnis zum Auslöser stehen.“
In der Therapie gehe es unter anderem darum, das Empfinden für den eigenen Selbstwert
zu stärken – und die positiven Aspekte der Scham zu würdigen. „Scham ist der Schutzschirm
unserer Intimität, wir brauchen sie“, sagt Baer. Ähnlich sieht es Matthew Feinberg von der
University of California in Berkeley. In einer Studie fand er heraus, dass Menschen, die leicht
in Verlegenheit geraten, als vertrauenswürdiger, sympathischer und großzügiger
wahrgenommen werden, verglichen mit eher „ungerührten“ Menschen. Feinbergs Fazit:
„Unsere Daten belegen, dass Scham eine wirklich gute Sache ist und nichts, das man
bekämpfen sollte.“
Was ist zu tun?
Scham und geringes Selbstwertgefühl lassen sich nicht mit dem Verstand allein verbessern.
Erklärungen reichen meist nicht aus. Zumindest verringert Information über die
Zusammenhänge aber doch das Gefühl völliger Hilflosigkeit. Außerdem vermittelt sie das
Erlebnis, „endlich einmal verstanden zu werden, wie man ist“.
Zur „Heilung“ bedarf es fast durchweg neuer heilsamer Erfahrungen und Erlebnisse, wie
Klaus Grawe das fordert. Zu ihnen gehören besonders
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die Wertschätzung der eigenen Person und des eigenen Erlebens durch einen
anderen Menschen, auch durch einen Therapeuten oder eine Therapeutin, bei dem
oder bei der man „Ansehen genießt“. Dabei kann man auch sich selbst wertschätzen
zu lernen, „wie man nun mal ist",
Dazu gehört auch die Erfahrung, Gefühlszustände mit anderen teilen zu können, also
gemeinsam Trauer, Freude, Ärger zu erleben. Dass hilft, wieder Vertrauen in das
eigene Wahrnehmungsvermögen und in Beziehungen zu entwickeln,
Dazu gehört auch das häufige Erleben, dass man sich gefahrlos zeigen und geben
kann, wie man ist, ohne dass neue Katastrophen wie Abwertungen oder
Erniedrigungen eintreten, z.B. indem man Schwimmen oder in die Sauna geht oder
an Rhetorik-Kursen der Volkshochschule teilnimmt,
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Dazu gehört auch das Erlernen von Techniken, wie man sich Rückmeldungen
einholt, statt sich immer nur selbst zu fragen "Was andere wohl von mir denken?",
und
Dazu gehört auch die Erfahrung, Frustrationen und Enttäuschungen bewältigen zu
können, ohne dass die Welt zusammenbricht und man sofort mit dem Gedanken an
Selbstmord spielt.
Ganz besonders wirksam ist das Aufgreifen des Themas in Gruppenarbeit und
Gruppentherapie, weil es hilft, Schamgefühle zu überwinden und soziale Kompetenzen zu
gewinnen. In diesem Zusammenhang kann man auch üben, sich gegenseitig hilfreiche
Rückmeldungen ohne Abwertung zu geben. Zugleich tritt häufigere Fremdbeobachtung an
die Stelle der meist übertriebenen Selbstbeobachtung und kann man lernen, eigene Gefühle
mit denen anderer abzustimmen. Forscherdrang und Lust, die Welt zu erobern, können
anstelle einseitiger Selbsterforschung treten.
Zurück zum kleinen Prinzen, der sozusagen Pate stand für diesen Vortrag:
„ Was machst Du da?“ fragte der kleine Prinz. „Ich trinke“ antwortete der Säufer mit düsterer
Miene. „Warum trinkst Du?“ fragte ihn der kleine Prinz. „Um zu vergessen“ antwortete der
Säufer. „Um was zu vergessen?“ erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte.
„Um zu vergessen, dass ich mich schäme“ gestand der Säufer und senkte den Kopf.
„Weshalb schämst Du dich?“ fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen.
„Weil ich saufe!“ endete der Säufer und verschloss sich endgültig in sein Schweigen. Und
der kleine Prinz verschwand bestürzt.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit
Fuchs, R., Sellmann, M., Bell-D´Avis, S.: Inmitten von Scham, Gewalt und Angst. Theologie
Fundierungen der Suchtkrankenpastoiral, Würzburg 2006
Marks, S., Scham – die tabuisierte Emotion, 4. Auflage 2013
Sauer, N. Scham, das befremdende Dritte im psychotherapeutischen Kontext (2003).
„Polyloge“ – Internetliteratur des Fritz Perls Instituts