Kapitel 1 Kinetik chemischer Reaktionen 1.1 Einführung 1 1.2 Umsatz- und Reaktionsgeschwindigkeit, Reaktionsordnung8 1.3 Einfache Reaktionskinetik 12 1.4 Komplexe Reaktionskinetik 18 1.5 Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstante 19 1.6 Bemerkungen 21 1 2 1.1 Einführung Die chemische Kinetik befasst sich mit der Geschwindigkeit und dem Mechanismus chemischer Reaktionen. Unter der Geschwindigkeit einer Reaktion versteht man die durch chemische Reaktionen bewirkte Änderung der Konzentration von Reaktanten und Produkten. Fig. 1.1 Addition von H2 an den Komplex cis-[Ir(CO)2I2] (A). Es entsteht zunächst das all-cis[Ir(CO)2I2] (B), welches sich allmählich in den thermodynamisch stabileren Komplex cis-trans-cis[Ir(CO)2I2] (C) umwandelt. (Die Symbole kennzeichnen experimentell zu verschiedenen Zeitpunkten gemessene Konzentrationen; die Linien stellen die berechneten Verläufe dar.) Das Beispiel zeigt, wie gekoppelte Hin- und Rückreaktionen zunächst zu einer zeitabhängigen Zusammensetzung der Reaktionsmischung führen. Nach hinreichend langer Zeit stellt sich ein Gleichgewicht ein, in dem alle drei Komplexe in konstanten Konzentrationen vorliegen. Ohne Rückreaktionen würde sich A letztlich vollständig in das Endprodukt C umsetzen. Durch eine Änderung der Bedingungen (z.B. Temperatur, Druck, Lösungsmittel, Katalysatoren) kann die Geschwindigkeit einer Reaktion und manchmal auch der Reaktionsweg beeinflusst werden. Indem die Reaktionsbedingungen gezielt verändert werden und ihre Auswirkungen auf die Kinetik untersucht werden, können wichtige Zusammenhänge festgestellt und reaktionsspezifische Parameter ermittelt werden. Kinetische Studien sind von zentraler Bedeutung etwa bei der Untersuchung von Ozonabbau in der Stratosphäre oder bei der Bildung von Smog in der urbanen Atmosphäre. Die Beschreibung des Reaktionsgeschehens umfasst phänomenologische Aspekte (→ Geschwindigkeitsgesetze), energetische Aspekte (→ Energiediagramme) und mechanistische Aspekte (→ Elementarreaktionen). Im Rahmen dieser Lehrveranstaltung beschäftigen wir uns zur Hauptsache mit den ersten beiden Aspekten; die Aufklärung von Reaktionsmechanismen erfordert vertiefte theoretische und experimentelle Kenntnisse in physikalischer Chemie. Wie lange dauert eine chemische Reaktion; wann ist sie beendet? Eine mikroskopische Betrachtung lehrt, dass die Moleküle ständige, von ihren inneren Energien diktierte, spontane intramolekulare Umwandlungen und aufgrund von intermolekularen Wechselwirkungen Reaktionen zwischen verschiedenen Spezies eingehen, die letztlich zu einer Gleichgewichtszusammensetzung führen, wo auf makroskopischer Ebene die Konzentrationen im System konstant bleiben (Fig. 1.1). Die Zeit, die zur Einstellung des thermodynamischen Gleichgewichts verstreicht, ist theoretisch unendlich lang, kann also nicht als Mass für die Dauer der Reaktion dienen. Besser geeignet ist dazu etwa die Halbwertszeit t½, das ist die Zeit, nach der die Konzentration eines Reaktanten auf die Hälfte ihres Anfangswerts gefallen ist. Die Unterschiede in der Geschwindigkeit von thermodynamisch spontanen Reaktionsabläufen sind enorm (Fig. 1.2): Photophysikalische Primärprozesse, 3 wie sie nach der Absorption von Licht auftreten, können nach wenigen Billionstel bis Milliardstel Sekunden abgeschlossen sein; Säure/Base-Reaktionen oder Explosionen dauern typischerweise einige Millisekunden; die Hydrolyse eines Esters je nach Bedingungen Sekunden bis Tage; die Oxidation von Zucker mit Sauerstoff oder die Umwandlung von Diamant zu Graphit sogar Jahrtausende. Fig. 1.2 Zeitskala chemischer Reaktionen. 4 In der chemischen Kinetik unterscheidet man die folgenden Reaktionssysteme: geschlossenes System: kein Stoffaustausch mit Umgebung offenes System: Stoffaustausch mit Umgebung einphasiges System: System besteht aus einer einzigen Phase (homogen: ortsunabhängiger Reaktionsverlauf, heterogen: ortsabhängiger Reaktionsverlauf) mehrphasiges System: System setzt sich aus mehreren durch Phasengrenzen getrennten Phasen zusammen, über die ein Stoff- und Energieaustausch möglich ist. Im Zusammenhang mit dem Mechanismus von Reaktionen sind zwei Begriffe zu definieren: Elementarreaktion: Kleinste Prozesseinheit („Schritt“), bei der die Moleküle oder Atome explizit direkt miteinander wechselwirken. Damit ist jede Reaktion eine Abfolge von Elementarreaktionen, die die detaillierten molekularen Vorgänge wiedergeben. Molekularität: Gibt die Anzahl der Teilchen an, die in einer Elementarreaktion explizit miteinander reagieren (Stossprozess). 1 Teilchen: unimolekulare (monomolekulare) Reaktion 2 Teilchen: bimolekulare Reaktion 3 Teilchen: trimolekulare (termolekulare) Reaktion >3 Teilchen: bisher nicht gefunden 1 Die IUPAC empfiehlt, in chemischen Gleichungen die folgenden Symbole zu unterscheiden: Reaktant(en) = Produkt(e) stöchiometrische Beziehung Reaktant(en) ⇌ Produkt(e) alternatives Symbol zum Gleichheitszeichen, kann zur qualitativen Angabe der Gleichgewichtslage dienen. Reaktant(en) →→ Produkt(e) Reaktionspfeil für Vorwärtsreaktion, Elementarreaktion Produkt(e) zweiseitige Reaktion (Kinetik) Reaktant(en) (Diese Empfehlungen werden in der Literatur leider nicht konsequent angewendet.) Beispiel: 1 234 4 Beim (radioaktiven) α-Zerfall 238 92 U → 90Th + 2 He handelt es sich um eine unimolekulare (bzw. -atomare) Reaktion, die völlig unabhängig von der Anwesenheit weiterer Stoffe abläuft. International Union of Pure and Applied Chemistry; International tätige wissenschaftliche Organisation mit dem Ziel der Förderung der weltweiten Aspekte der Chemie und ihrer Anwendung im Dienst der Menschheit; http://www.iupac.org. 5 Reaktionen laufen in der Regel nicht vollständig (mit 100 %-igem Umsatz) ab. Die Ursache dafür ist, dass jede Reaktion auch eine Rückreaktion hat, z.B. statt: N2 + 3 H2 → 2 NH3 richtig: N2 + 3 H2 2 NH3 Falls die Rückreaktion irrelevant ist, spricht man in der Kinetik von einer irreversiblen Reaktion. Die Bedingung dazu ist näherungsweise oft während der Anfangsphase einer Reaktion erfüllt oder bei Reaktionen, deren Gleichgewicht stark auf der Seite der Produkte liegt. Eine reversible Reaktion stellt kinetisch bereits ein Reaktionssystem d.h. ein System gekoppelter Reaktionen dar (Kap. 1.4). Die Reaktionssysteme in der Natur (z.B. ein See oder ein Fluss) sind viel komplizierter, als wir sie hier beschreiben können. Gemäss den oben stehenden Betrachtungen handelt es sich immer um offene Systeme (d.h. Systeme mit Zu- und Abfluss sowie einer ganzen Anzahl von meist gekoppelten Reaktionen). PROZESSE, WELCHE DIE VERTEILUNG UND AUFENTHALTSZEIT EINER VERBINDUNG IN EINEM SEE BESTIMMEN ATMOSPHÄRE Eintrag durch Zuflüsse, Abschwemmungen, Kläranlageneinläufe, etc. Luft/Wasser Austausch (Gasaustausch) nasse + trockene Deposition A D+E+. .. . chem.+biol. Transform. A vertikale und horizontale Durchmischung D + E + ... A direkte und indirekte Photolyse hυ Export durch Abfluss B+C+. .. . Sorption • • •• • •• • Chemische und biologische Transformationen im Sediment Sedimentation A A D+E+... chemische und biologische Transformationen WASSER • • •• • • Sedimentation D + E + ... Austausch an der Sediment/WasserGrenzfläche (Diffusion, Resuspension) Sedimente Ein See als Reaktor ist unheimlich kompliziert zu beschreiben. Wenn dies gemacht wird, so ist man auf viele Näherungen angewiesen und man muss etliche Annahmen treffen, ansonsten die Modelle zu kompliziert werden. Bei einem sehr vereinfachten Reaktor gibt es einen Zufluss und einen Abfluss. Dieser Reaktor soll ein konstantes Volumen aufweisen. Damit dies gewährleistet ist, muss pro Zeiteinheit die gleiche Menge in den Reaktor fliessen, wie ihn durch den Abfluss wieder verlässt. Dieser Reaktor könnte etwa so aussehen: 6 Wir betrachten im Reaktor einen Stoff B. In den Reaktor fliesst eine Lösung mit der Konzentration cB,In . Unser System soll einphasig und homogen sein (d.h. innerhalb des Reaktors soll überall die gleiche Konzentration an B ( cB ) vorkommen). Der Abfluss enthält die gleiche Konzentration an B, wie sie auch im Reaktor vorkommt ( cB,Out = cB ). Wir können nun für den Stoff B eine Stoffmengenbilanz aufstellen: N dc V ⋅ B = Q ⋅ cB,In − Q ⋅ cB +V ⋅ ∑ ri (B) . (1-1) dt i =1 V = Volumen des Reaktors / m3 Q = Fluss in den Reaktor bzw. aus dem Reaktor / m3⋅s-1 cB,In = Konzentration des Stoffes B im Zufluss / mol⋅m-3 cB = cB,Out = Konzentration des Stoffes B im Reaktor und im Abfluss / mol⋅m-3 N r (B ) = ∑ ri (B ) = Geschwindigkeit der Konzentrationsänderung des Stoffes B; i =1 engl.: rate of concentration change (≠ Reaktionsgeschwindigkeit!). Mit anderen Worten: die Änderung der Stoffmenge von B pro Zeiteinheit ist gleich der zugeführten Menge B minus die abgeführte Menge B plus die durch Reaktionen erzeugte Menge an B minus die durch Reaktionen verbrauchte Stoffmenge an B in der gleichen Zeiteinheit. In diesem Kapitel werden wir allerdings nur über geschlossene Systeme (das sind Systeme ohne Stoffaustausch mit der Umgebung) berichten, was die Betrachtung etwas vereinfacht. Die meisten Laborsysteme gehören diesem Typ an. Eine weitere Vereinfachung dieses Kapitels ist die ausschliessliche Betrachtung homogener (d.h. einphasiger) Systeme. 7 1.2 Umsatz- und Reaktionsgeschwindigkeit, Reaktionsordnung Betrachtet wird eine Reaktion zwischen N Stoffen Ai in einem homogenen, einphasigen und geschlossenen System (d.h. ohne Stoffzu- und -abflüsse) mit der Stöchiometrie N ∑ν A i i = 0. (1-2) i =1 Die Stoffmengen ni in diesem System ändern sich, ausgehend von ihren Anfangsstoffmengen ni(0) als Funktion der Reaktionslaufzahl ξ gemäss der bereits aus der Thermodynamik bekannten Beziehung ni = ni (0) + νi ξ . (1-3) Anders als in der Thermodynamik, wo man sich lediglich für Zustände im chemischen Gleichgewicht (d.h. ξ = ξeq und ni = nieq ) interessiert, spielen in der Kinetik die Zeitabhängigkeiten der Stoffmengen eine zentrale Rolle: ni (t ) = ni (0) + νi ξ(t ). (1-4) Der Gleichgewichtszustand wird im Grenzfall für t → ∞ erreicht. 1.2.1 Umsatzgeschwindigkeit i Es ist naheliegend, die zeitliche Ableitung der Stoffmenge ni (t ) , d.h. die Geschwindigkeit der Stoffmengenänderung, für die Definition der Geschwindigkeit der Reaktion heranzuziehen. Mit einer Normierung bezüglich des stöchiometrischen Koeffizienten ν i ergibt sich gerade die zeitliche Ableitung i ξ(t ) der Reaktionslaufzahl, die als Umsatzgeschwindigkeit vξ (t ) (engl. rate of conversion) bezeichnet wird: vξ (t ) = dξ(t ) 1 dn (t ) = ⋅ i νi dt dt (1-5) Die Umsatzgeschwindigkeit ist jedoch eine extensive Grösse, d.h. abhängig von der Systemgrösse. Sie wird für heterogene Reaktionen (z.B. auf Katalysatoroberflächen, Adsorptions/Desorptionsvorgänge) verwendet. 1.2.2 Reaktionsgeschwindigkeit: In einem homogenen System mit dem Volumen V sind die Stoffmengenkonzentrationen ci (t ) = ni (t ) V dci (t ) = → dni (t ) V (1-6) aufgrund ihres intensiven Charakters besser geeignete Messgrössen und man definiert durch Einsetzen in (1-5) die Reaktionsgeschwindigkeit (engl. rate of reaction): Achtung: i c(t ) (die Ableitung der Stoffmengenkonzentration nach der Zeit) soll nicht verwechselt i werden mit c , der normierten Konzen-trationsangabe! vc (t ) = v ξ (t ) V = 1 dci (t ) ⋅ νi dt (1-7) i als zeitliche Ableitung c(t ) der Stoffmengenkonzentration des Stoffs Bi, normiert bezüglich seines stöchiometrischen Koeffizienten ν i . Die Reaktionsgeschwindigkeit ist damit eine intensive Grösse. In Reaktionssystemen mit unbekannter Stöchiometrie (z.B. in offenen Gewässern und Durchflussreaktoren) misst man die Geschwindigkeit der Kon- 8 zentrationsänderung der Spezies Bi (engl. rate of concentration change), die gemäss ri (t ) = dcBi (t ) (1-8) dt definiert ist. Beispiel: Für die Knallgasreaktion 2 H2 + O2 = 2 H2O ergibt sich mit (1-7) die folgende Beziehung zwischen den Konzentrationsänderungen der beteiligten Stoffe: vc (t ) = − 12 dcH2 (t ) dt =− dcO2 (t ) dt = 1 2 dcH2O (t ) dt . Die Konzentrationen von H2 und H2O ändern sich also doppelt so schnell wie die von O2. Die Reaktionsgeschwindigkeit vc (t ) ist eine zeitabhängige Grösse: Die Anfangsgeschwindigkeit vc (0) beim Start wird durch die Anfangskonzentrationen bestimmt; im thermodynamischen Gleichgewicht beträgt die Nettogeschwindigkeit v c (∞) = 0 (Hin- und Rückreaktion betrachten!). Der zeitliche Verlauf von vc (t ) ist nicht notwendigerweise stetig abnehmend. Die Definition der Reaktionsgeschwindigkeit (1-7) liefert zunächst nur eine Beziehung zwischen den zeitlichen Konzentrationsänderungen der einzelnen Reaktionspartner, jedoch noch keine Information über deren zeitliche Konzentrationen selbst. Diese ergeben sich erst mit der Etablierung eines Geschwindigkeitsgesetzes, das die Konzentrationsänderungen in Beziehung zu den Konzentrationen aller beteiligten Stoffe setzt. 1.2.3 Konzentrationsabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit, Geschwindigkeitsgesetz Bei der experimentellen Untersuchung der Geschwindigkeit chemischer Reaktionen findet man die folgenden Eigenschaften: • Die Geschwindigkeit der Bildung oder des Abbaus von Stoffen ist im Allgemeinen abhängig von der Konzentration dieses und gegebenenfalls weiterer Stoffe. Diese Stoffe können in der stöchiometrischen Gleichung auftreten, müssen aber nicht (Beispiel: Katalysatoren). • Nicht alle Stoffe beeinflussen die Geschwindigkeit gleichermassen. Die Erhöhung der Konzentration eines bestimmten Stoffs kann eine grosse Auswirkung auf die Reaktionsgeschwindigkeit haben, während die Anwesenheit eines anderen Stoffs die Reaktionsgeschwindigkeit in geringerem Ausmass oder gar nicht beeinflusst. Allgemein ist also die (zeitabhängige) Reaktionsgeschwindigkeit eine Funktion der (ebenfalls zeitabhängigen) Konzentrationen der Stoffe im System: vc (t ) = f (c1(t ), c2 (t ), …). (1-9) Es ist Aufgabe der experimentellen Kinetik, die genaue Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von den Konzentrationen aufgrund einer meist grossen Zahl von Messungen festzustellen. Das aus den Gleichungen (1-6) und (1-8) resultierende Geschwindigkeitsgesetz, die Differentialgleichung 1 dci (t ) ⋅ = f (c1(t ), c2 (t ), …) νi dt (1-10) liefert nach der Integration schliesslich die zeitliche Entwicklung der Stoffmengenkonzentrationen (siehe weiter unten, Kap. 1.3). 9 Einige Beispiele von Reaktionen mit zugehörigen, experimentell bestimmten Geschwindigkeitsgesetzen (k, ka und kb sind Konstanten): Bruttoreaktion Geschwindigkeitsgesetz (a) F + CHF3 = HF + CF3 vc (t ) = k ⋅ cF ⋅ cCHF3 (b) CH3CHO = CH4 +CO 2 vc (t ) = k ⋅ cCH 3CHO (c) Br2 + H2 = 2 HBr vc (t ) = (d) I− 2 H 2O 2 = 2 H 2O + O 2 vc (t ) = k ⋅ cH2O2 ⋅ cI− 3 ka ⋅ cH2 ⋅ cBr2 1 + k b ⋅ cHBr ⋅ cBr2 Die Reaktionen (a), (b) und (c) sind Gasphasenreaktionen; die Reaktion (d) wird in wässriger Lösung durch Iodid katalysiert (die Konzentration von I− erscheint im Geschwindigkeitsgesetz, nicht aber in der Bruttogleichung). Nur die Reaktion (a) ist eine Elementarreaktion. Wie die oberen Beispiele zeigen, gibt es offensichtlich keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen der stöchiometrischen Gleichung der Bruttoreaktion und der Form des Geschwindigkeitsgesetzes. Es gibt Stoffe, deren Konzentrationen im Geschwindigkeitsgesetz nicht erscheinen, die aber in der Bruttoreaktion vorkommen, und auch für den umgekehrten Fall gibt es Beispiele. Aus der Bruttoreaktion kann im Allgemeinen nicht auf das Geschwindigkeitsgesetz geschlossen werden! 1.2.4 Reaktionsordnung Oft (aber nicht immer!) findet man experimentell ein Geschwindigkeitsgesetz der Form: K vc (t ) = k ⋅ (c1(t )) 1 ⋅ (c2 (t )) 2 ⋯ = k ⋅ ∏ (ci (t )) i , m m m (1-11) i =1 d.h. die Reaktionsgeschwindigkeit ist proportional zu den potenzierten Konzentrationen. mi partielle Reaktionsordnung bezüglich der Konzentration ci mi ist oft eine ganze Zahl, aber im Allgemeinen nicht gleich dem zugehörigen stöchiometrischen Koeffizienten νi m = ∑ mi : Gesamtordnung der Reaktion k: Geschwindigkeitskonstante (engl. rate constant) k ist keine Funktion der ci k ist nicht zeitabhängig Einheit [k] ist abhängig von der expliziten Form von (1-11). In Reaktionen mit der Gesamtordnung m ist [k ] = M1−m s−1 für [ci ] = M = mol ⋅ dm -3 [k ] = mol1−m cm 3(m -1)s−1 für [ci ] = mol ⋅ cm -3 [k ] = cm 3(m -1)s−1 für [ci ] = (Teilchen) ⋅ cm -3 Achtung: Die Werte von k in verschiedenen Einheiten sind völlig verschieden! k-Werte von Reaktionen mit verschiedenen Ordnungen können nicht direkt miteinander verglichen werden! k = k (T ) ⇒ Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstante. 10 • Eine Elementarreaktion (deren Stöchiometrie dem molekularen Prozess entspricht) verläuft unter gewissen Voraussetzungen nach einem einfachen Geschwindigkeitsgesetz ( mi = νi für die Reaktanten): A → Produkte: unimolekulare Reaktion ⇒ Kinetik 1. Ordnung A+B → Produkte: bimolekulare Reaktion ⇒ Kinetik 2. Ordnung A+B+C → Produkte: trimolekulare Reaktion ⇒ Kinetik 3. Ordnung Achtung: Die Umkehrung gilt in der Regel nicht! Aus der Reaktionsordnung (ein phänomenologischer Begriff) folgt nicht einfach die Molekularität (ein mechanistischer Begriff). Auch ein komplexer Mechanismus kann ein einfaches Geschwindigkeitsgesetz zeigen. • Bei vielen Reaktionen hat das Geschwindigkeitsgesetz nicht die Form wie in Gleichung (1-11) dargestellt, so dass Reaktionsordnungen nicht definiert sind. Beispiel: Die partiellen Reaktionsordnungen und die Gesamt-Reaktionsordnungen in den Reaktionen des vorangehenden Beispiels sind: (a) mF = 1; mCHF3 = 1; m = 2 (b) mCH3CHO = 3/2; m 3/2 (c) keine Reaktionsordnung definiert (d) mH2O2 = 1; mI- = 1; m = 2 Übung 1: Für die Reaktion des Pentamminchrom(III)-Komplexes [Cr(NH3)5H2O]3+ mit Stickstoffwasserstoffsäure (HN3) gemäss [Cr(NH3)5H2O]3+ + HN3 = [Cr(NH3)5N3]2+ + H3O+ wurde das Geschwindigkeitsgesetz i −c Cr(III) = k ⋅ cCr(III) ⋅ cHN3 cH+ gefunden. Geben Sie die partiellen Reaktionsordnungen und die Gesamt-Reaktionsordnung an. [mCr(III) = 1; mHN3 = 1; mH+ = −1; m = 1] Von welcher Ordnung ist die Reaktion bezüglich der Konzentration von HO− und wie gross ist die Reaktionsgeschwindigkeitskonstante k'? [mHO- = 1; k ' = k / K W (c )2 ] 11 1.3 Einfache Reaktionskinetik Im Folgenden wird die Kinetik einiger wenigen formalen Reaktionen betrachtet, wie sie aus besonders einfachen Geschwindigkeitsgesetzen der Form (1-10) mit ganzzahliger Ordnung resultieren. Diese werden in der Praxis sehr häufig bei Elementarreaktionen beobachtet und treten auch in komplizierteren kinetischen Systemen auf, zumal wenn die Anfangsbedingungen speziell gewählt werden. Insbesondere gehorchen die Reaktionen in der Anfangsphase sehr oft diesen einfachen Gesetzen. mA Ordnung mB m 0 0 0 vc (t ) = k 1 0 1 vc (t ) = k ⋅ cA (t ) Geschwindigkeitsgesetz Kapitel 1.3.1 1.3.2 2 2 0 2 vc (t ) = k ⋅ (cA (t )) 1.3.3 1 1 2 vc (t ) = k ⋅ cA (t ) ⋅ cB (t ) 1.3.4 A und B seien zwei Reaktanten, die zur Zeit t in den Konzentrationen cA(t) und cB(t) vorliegen; ihre Anfangskonzentrationen betragen cA(0) und cB(0). 1.3.1 Kinetik 0. Ordnung (m = 0) Stöchiometrie der Reaktion: A = Produkt(e) − Geschwindigkeitsgesetz: dcA (t ) =k dt (1-12) (1-13) Nach Trennung der Variablen ergibt sich die Integration: cA (t ) ∫ cA (0) t dc 'A (t ) = −k ∫ dt ' cA (t ) − cA (0) = −k (t - 0) = −kt ⇒ (1-14) 0 und die Lösung cA (t ) = cA (0) − kt . (1-15) Die Konzentration des Reaktanten A nimmt linear mit der Zeit ab (Fig. 1.3a). Die Halbwertszeit t 21 = cA (0) 2k (1-16) ist proportional zur Anfangskonzentration cA(0). Für grosse Zeiten t führt die Gleichung (1-15) zu einem physikalisch unsinnigen Resultat (cA(t) < 0); sie kann also nur eine Näherung für kurze Zeiten und für einen in Wirklichkeit komplexeren Mechanismus sein. Ein Zeitgesetz 0. Ordnung findet man experimentell u. a. bei heterogenen Reaktionen, die an Oberflächen stattfinden (wobei aber die Konzentrationen in der homogenen Gas- bzw. Flüssigphase gemessen werden), beispielsweise bei der katalytischen Zersetzung von Ammoniak an der Oberfläche eines heissen Platin- oder Wolframdrahts: NH 3 (g) = 21 N2 (g) + 23 H2 (g) 12 1.3.2 Kinetik 1. Ordnung (m = 1) Stöchiometrie der Reaktion: Geschwindigkeitsgesetz: A = Produkt(e) (1-17) dcA (t ) = k ⋅ cA (t ) dt (1-18) − Die Lösung erhält man durch Trennung der Variablen und Integration cA (t ) t dc ' (t ) ∫ c 'AA(t ) = −k ∫ dt ' 0 c (0) A ⇒ ln cA (t ) = −kt cA (0) cA (t ) = cA (0) ⋅ e −kt . (1-19) (1-20) Die Konzentration des Reaktanten A nimmt exponentiell mit der Zeit ab (Fig. 1.3b). Die Halbwertszeit t 12 = ln2 k (1-21) ist unabhängig von der Anfangskonzentration des Reaktanten. Der Kehrwert der Geschwindigkeitskonstante einer Reaktion 1. Ordnung wird als Lebenszeit τ bezeichnet: t1 1 (1-22) τ= = 2 . k ln2 Nach der Zeit τ hat die Anfangskonzentration auf den Wert cA(0)/e abgenommen, beträgt also noch 37 % ihres Anfangswerts. Reaktionen mit einer Kinetik 1. Ordnung werden in der Natur sehr oft beobachtet.1 Die Exponentialfunktion ist leicht integrierbar, differenzierbar und linearisierbar − Eigenschaften, die für die Auswertung kinetischer Messdaten von grossem Vorteil sind. Übung 2: Eine Faustregel besagt, dass eine Reaktion 1. Ordnung nach Ablauf der Zeit 5 τ praktisch beendet ist. Berechnen Sie, wie viel von der Anfangskonzentration zu dieser Zeit noch vorhanden ist. [0.67 %] Übung 3: Bei der Altersbestimmung des berühmten Turiner Grabtuchs Christi mit Hilfe der Radiokarbon-Methode im Jahre 1988 wurde in einer Gewebeprobe noch eine Aktivität von ca. 92 % gemessen.2 Die Halbwertszeit des Isotops 14 C beträgt 5730 a. In welchem Jahr wurden die Leinenpflanzen für den Stoff etwa geerntet? [ca. 1300 n.Chr.] 1 2 Das gilt auch für viele physikalische Prozesse mit einem exponentiellen Zerfall einer Messgrösse, z.B. die gedämpfte Pendelschwingung, der Temperaturausgleich und andere Relaxationsphänomene Details dazu findet man in: P.E. Damon et al., Radiocarbon Dating of the Shroud of Turin, Nature 337 (1989), 611. 13 1.3.3 Kinetik 2. Ordnung (l. Fall: m = mA = 2) Stöchiometrie der Reaktion: 2 A = Produkt(e) (1-23) dcA (t ) 2 = k (cA (t )) dt (1-24) Geschwindigkeitsgesetz: cA (t ) − 12 t dc ' (t ) ∫ (c ' (At ))2 = −2k ∫ dt ' A 0 cA (0) ⇒ − 1 1 + = −2k (t − 0) = −2kt cA (t ) cA (0) 1 1 = + 2kt . cA (t ) cA (0) (1-25) (1-26) Die Halbwertszeit t 12 = 1 2k ⋅ cA (0) (1-27) ist umgekehrt proportional zur Anfangskonzentration: Bei einer hohen Anfangskonzentration von A ist die Halbwertszeit kürzer als bei einer tiefen Anfangskonzentration. 1.3.4 Kinetik 2. Ordnung (2. Fall: m = 2 und mA = mB = 1) Stöchiometrie der Reaktion: A + B =: Produkt(e) Geschwindigkeitsgesetz: − dcA (t ) = k ⋅ cA (t ) ⋅ cB (t ) dt (1-28) (1-29) Die Integration liefert (hier ohne Herleitung) für den allgemeinen Fall cA(0) ≠ cB(0) ln cA (t ) c (0) = ln A + k ⋅ (cA (0) − cB (0)) ⋅ t . cB (t ) cB (0) (1-30) Die Konzentrationen cA(t) und cB(t) sind nicht unabhängig voneinander; aus stöchiometrischen Gründen gilt stets die Beziehung cA(0) – cA(t) = cB(0) – cB(t). Falls die Anfangskonzentrationen verschieden sind, ergeben sich für die Stoffe A und B verschiedene Halbwertszeiten, die zudem abhängig von beiden Anfangskonzentrationen sind. Fig. 1.3 Konzentrationsprofile c(t) für Reaktionen 0. Ordnung (a), 1. Ordnung (b) und 2. Ordnung (c) im Vergleich. Eingezeichnet sind die Halbwertszeiten t½ und beim exponentiellen Zerfall die Lebenszeit τ . 14 Übung 4: Versuchen Sie, die folgenden Fragen durch blosses Überlegen zu lösen: Welche Endkonzentration des Reaktanten A ergibt sich, wenn seine Anfangskonzentration (a) kleiner und (b) grösser ist als die Anfangskonzentration von B? Welche Bedingung muss erfüllt sein, damit für den Reaktanten A überhaupt von einer Halbwertszeit gesprochen werden kann? Die allgemeine Kinetik 2. Ordnung einer Reaktion zwischen zwei Reaktanten A und B liefert im allgemeinen Fall mit (1-30) bereits eine nicht mehr so handliche Konzentrationsabhängigkeit. Unter speziellen Bedingungen, die der Experimentator wählen kann, können jedoch einfachere Lösungen erhalten werden, wie die folgenden zwei Spezialfälle zeigen. Spezialfall cA(0) = cB(0) Wenn die Anfangskonzentrationen der beiden Reaktanten gleich sind, ist, wie man durch Einsetzen sofort merkt, Gleichung (1-30) ungeeignet. Da für die Konzentrationen der Reaktanten in diesem Fall zu jeder Zeit cA(t) = cB(t) gilt, lautet das Geschwindigkeitsgesetz: − dcA (t ) 2 = k ⋅ (cA (t )) dt und die Lösung: 1 1 = + kt cA (t ) cA (0) sowie 1 1 = + kt . cB (t ) cB (0) (1-31) Man beachte den feinen Unterschied zu Gleichung (1-26)! Kinetik pseudoerster Ordnung Näherung für cB (0) ≫ cA (0) Wenn der Reaktant B in grossem Überschuss vorliegt ( cB (0) ≫ cA (0) ), wird sich seine Konzentration im Verlauf der Reaktion nur unwesentlich ändern, d.h. cB(t) ≈ cB(0). Damit ergibt sich aus (1-30): lncA (t ) ≈ lncA (0) − k ⋅ cB (0) ⋅ t (1-32) oder cA (t ) ≈ cA (0) ⋅ e −kobs ⋅t mit k obs = k ⋅ c B (0) . (1-33) Es resultiert also für A eine Kinetik 1. Ordnung mit der beobachteten Geschwindigkeitskonstanten kobs, die proportional zur Konzentration des Reaktanten B ist. Die Bedingung, dass einer der beiden Reaktanten in grossem Überschuss vorliegt, ist oft realisiert oder lässt sich entsprechend wählen. Eine gegebene Reaktion, die im Allgemeinen nach einer beliebigen Kinetik abläuft, durch geschickte Wahl der Bedingungen approximativ in eine Kinetik 1. Ordnung (man spricht auch von einer Kinetik pseudo 1. Ordnung) zu zwingen, hat auswertungstechnische Vorteile. Bei der Hydrolse gelöster Spezies in wässrigen Systemen beispielsweise sind die Konzentrationen von Wasser, Hydroniumoder Hydroxidionen oft sehr viel grösser als jene, sodass die Hydrolyse nach einer Kinetik pseudo 1. Ordnung bezüglich der Konzentration der hydrolysierten Spezies verläuft. Durch Linearisierung der gemessenen Daten erster Ordnung kann die Konstante kobs ermittelt werden. Daraus kann die Konstante 2. Ordnung ausgerechnet werden: 15 k = kobs ⋅ c B (0) , wobei cB(0) die Konzentration der im Überschuss vorliegenden Komponente ist. Beispiel: Der Essigsäureester 4-Nitrophenylacetat (NPA) wird in basischer wässriger Lösung in Acetat und 4-Nitrophenolat hydrolysiert: O NO2 O C H3C O + 2 HO = O + + C H3C H2O O NO2 Die Reaktion verläuft je 1. Ordnung in cOH und cNPA, das Geschwindigkeitsgesetz lautet somit: − dcNPA (t ) = k ⋅ cOH (t ) ⋅ cNPA (t ) . dt Da die Konzentration des 4-Nitrophenolats mit hoher Empfindlichkeit gemessen werden kann, lässt sich cNPA experimentell so niedrig wählen, dass cNPA ≪ cHO− ist. Damit bleibt cOH praktisch konstant gleich seinem Anfangswert und mit keff = k⋅cOH folgt ein exponentieller Zerfall der Konzentration von NPA: cNPA (t ) ≈ cNPA (0) ⋅ e −keff ⋅t Fig. 1.4 Hydrolyse von 4Nitrophenylacetat (NPA) in basischer Lösung bei pH 10.0. Unter den gewählten Anfangsbedingungen nimmt die Konzentration exponentiell ab. Übung 5: Schätzen Sie anhand der Fig. 1.4 die Lebenszeit τ und die Halbwertszeit t½ ab und markieren Sie diese in der Figur. Bestimmen Sie daraus die Geschwindigkeitskonstanten keff und k. Verifizieren Sie die in Aufgabe 2 erwähnte 5 τ -Faustregel für exponentielle Zerfälle. [ τ = 90 s; t½ = 62 s; keff = 1/τ = 0.011 s-1; k = keff/cOH = 110 M-1s-1] 1.3.5 Bestimmung des Zeitgesetzes Das kinetische Zeitgesetz einer chemischen Reaktion muss stets empirisch bestimmt werden, indem etwa im Verlauf der Reaktion zu verschiedenen Zeiten t die Konzentration eines oder mehrerer Reaktanten gemessen wird. Zur Bestimmung der partiellen Reaktionsordnungen bezüglich der einzelnen Reaktantenkonzentrationen gibt es verschiedene Methoden (Auswertung der Halbwertszeiten, Auswertung der Anfangsgeschwindigkeiten, usw.), die hier nicht behandelt werden können. Stellvertretend für diese Methoden wurde im vorangehenden Beispiel die Isolationsmethode (bei der alle Reaktanten bis auf einen im Überschuss gewählt werden) gezeigt; im folgenden Beispiel wird die Integrationsmethode angewendet. 16 Ein für die untersuchte Reaktion postuliertes Geschwindigkeitsgesetz wird auf seine Zweckmässigkeit geprüft, indem man die gemessenen Daten in einer Weise, wie es das integrierte Gesetz erfordert, graphisch darstellt und mit dem theoretischen Verlauf vergleicht, nötigenfalls unter Verwendung statistischer Kriterien. Im folgenden Beispiel werden die Messwerte dazu verwendet, um zu entscheiden, ob die betreffende Reaktion eher nach einer Kinetik erster oder zweiter Ordnung verläuft. Beispiel: Formylradikale HCO sind wichtige Zwischenprodukte bei der Verbrennung von Kohlenwasserstoffen. Sie sind auch von Bedeutung in der Chemie der Atmosphäre, wo sie u.a. durch Photolyse von Formaldehyd gebildet werden. Das Schicksal von HCO wird in sauerstofffreier Atmosphäre durch die Radikalrekombination HCO + HCO Produkte bestimmt. Bei der Untersuchung dieser Reaktion wurden die folgenden zeitabhängigen Konzentrationen cHCO(t) gemessen: t / ms cHCO / (10-10 mol dm-3) 5 6.30 9 5.51 15 4.57 22 3.75 30 3.16 40 2.65 50 2.26 Der Konzentrationsverlauf cHCO(t) ist gekrümmt und man vermutet intuitiv, dass die Reaktion nach einer Kinetik erster oder zweiter Ordnung verlaufen könnte. Mit Hilfe der Daten sollen die beiden Modelle getestet werden. Die Geschwindigkeitsgesetze und die integrierten Lösungen lauten in diesem Fall: 1. Ordnung bzgl. cHCO: 2.Ordnung bzgl. cHCO: dcHCO (t ) = k1 ⋅ cHCO (t ) dt dc (t ) 2 − 12 HCO = k1 ⋅ (cHCO (t )) dt − 12 ⇒ cHCO(t ) = cHCO(0) ⋅ e −2k1t ⇒ 1 cHCO (t ) = 1 cHCO (0) + 2k2t Wichtig: Man beachte den Faktor 2, der aus der Stöchiometrie herrührt. Da man von Auge jeweils sehr gut entscheiden kann, ob Datenpunkte entlang einer geraden Linie liegen oder ob sie systematisch davon wegdriften, linearisiert man die Modellfunktion und rechnet die Daten entsprechend um. Bei Vorliegen einer Kinetik 2. Ordnung müssen die reziproken Konzentrationen, aufgetragen gegen die Zeit, entlang einer Geraden mit der Steigung 2k2 liegen. Bei einer Kinetik 1. Ordnung liefert das Logarithmieren der integrierten Lösung die Beziehung lncHCO(t) = lncHCO(0) −2k1t. Die Auftragung der logarithmierten Konzentrationswerte gegen die Zeit liefert also hier eine Gerade mit der Steigung −2k1. Die umgerechneten Daten sind: t / ms ln(cHCO(t) / (10-10 mol dm-3) 1/cHCO(t) / (1010 mol-1 dm3) 5 1.84 0.158 9 1.71 0.181 15 1.52 0.211 22 1.32 0.267 30 1.15 0.316 40 0.97 0.377 50 0.82 0.442 17 Man erkennt sofort, dass die Ausgleichsgerade im Fall der 2. Ordnung (rechts) den Verlauf der Messdaten viel besser beschreibt als im Fall der 1. Ordnung (links). Aus der Steigung der Geraden ergibt sich: k2 = 3.16·1010 mol-1 dm3 s-1. 1.4 Komplexe Reaktionskinetik Kinetische Systeme heissen komplex, wenn die zeitliche Änderung der Teilchenkonzentrationen von mindestens zwei Reaktionsgeschwindigkeiten abhängig sind. Die vollständige Beschreibung der Kinetik einer chemischen Reaktion führt immer auf eine komplexe Kinetik, da die Existenz des chemischen Gleichgewichts neben der Hinreaktion auch zwingend eine Rückreaktion erfordert. Letztlich setzt sich jede Reaktion, unabhängig davon, in welchem Medium sie abläuft, aus Elementarreaktionen zusammen. Mathematisch handelt es sich also immer um ein System von gekoppelten Differentialgleichungen, das in der Regel nur auf numerischem Weg mit Hilfe von Computern gelöst wird.1 Typische einfache Reaktionssysteme sind: • Reversible, zweiseitige Reaktionen, z.B. (führt zu Reaktionsgleichgewichten) • Parallelreaktionen, k1 A z.B. B A ka kb B gleichzeitig mit A k2 C (Konkurrenz um gemeinsamen Reaktanten) k1 A • Folgereaktionen, z.B. B k2 C (Auftreten von Zwischenprodukten; komplexeres Beispiel: vgl. Fig. 1. 1) • Polymerisation, z.B. A AM AMM AMMM (M: Monomer) • Kettenreaktionen (Regenerierung von reaktiven Zwischenprodukten) Die zeitliche Gesamtänderung der Konzentration eines Reaktanten ergibt sich als Summe der zeitlichen Änderungen in den Teilreaktionen: dc (t ) dc (t ) dci (t ) = i + i + ⋯ dt total dt R dt R 1 2 . (1-34) Das folgende wichtige Beispiel soll das verdeutlichen. 1.4.1 Reaktionsgleichgewicht Im Fall der einfachsten zweiseitigen Reaktion A ka kb B (1-35) die aus der Hinreaktion (R1) und der Rückreaktion (R2) zusammengesetzt ist, lautet das Geschwindigkeitsgesetz: − dcA (t ) dc (t ) = ka ⋅ cA (t ) − kb ⋅ cB (t ) = B . dt dt (1-36) Um die Integration dieser beiden gekoppelten Differentialgleichungen zu vereinfachen, führen wir eine neue Umsatzvariable x(t) ein, mit der die beiden 1 18 Bei der Modellierung von Smog-Szenarien etwa umfasst das Reaktionssystem mehrere Dutzend bis weit über hundert Einzelreaktionen, die über die Teilchenkonzentrationen ineinander greifen. (voneinander abhängigen) Variablen cA(t) und cB(t) ersetzt werden können. Mit x(t) = cA(0) − cA(t) = cB(t) − cB(0) folgt: dx (t ) dc (t ) dc (t ) =− A = B und damit nach Einsetzen dt dt dt dx − = −ka ⋅ (cA (0) − x (t )) + kb ⋅ (cB (0) + x (t )) . dt (1-37) Im Gleichgewicht kommt der Umsatz zum Stillstand und die zeitliche Ableitung der Umsatzvariablen verschwindet: 0 = −k a ⋅ (c A (0) − x eq ) + k b ⋅ (c B (0) + x eq ) . (1-38) Für das Verhältnis der Gleichgewichtskonzentrationen folgt: cB (0) + x eq cA (0) − x eq = cBeq k = a =K , eq cA kb (1-39) also gerade die Gleichgewichtskonstante der Reaktion. Übung 6: Das soeben erhalten Resultat sollte sich auch ergeben, wenn durch Lösen der Differentialgleichung (1-37) die Konzentrationen cA(t) und cB(t) bestimmt werden und die Grenzwerte cA (∞) = cAeq und cB (∞) = c Beq gebildet werden. Falls zu Beginn der Reaktion nur der Reaktant A vorliegt, ist seine zeitabhängige Konzentration kb ka cA (t ) = cA (0) ⋅ + ⋅ e −(ka +kb )⋅t . ka + k b ka + k b (1-40) Zeigen Sie, dass damit die Beziehung (1-39) folgt. Skizzieren Sie die Konzentrationsverläufe von A und B. Welchen Einfluss hat die Grösse der Geschwindigkeitskonstanten ka und kb auf die Geschwindigkeit, mit der sich das Gleichgewicht einstellt, und auf die Lage dieses Gleichgewichts? 1.5 Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstante Die Geschwindigkeit der meisten chemischen Reaktionen nimmt mit steigender Temperatur zu. Als Beispiel betrachten wir die basische Hydrolyse von 4-Nitrophenylacetat (vgl. Seite 14), deren Geschwindigkeitskonstante bei verschiedenen Temperaturen der Lösung gemessen wurde (Fig. 1.5). Im Jahre 1889 postulierte Arrhenius nach umfangreichen Studien, dass die Temperaturabhängigkeit der Geschwindigkeitskonstante durch die (heute als Arrhenius-Gleichung bezeichnete) Beziehung k (T ) = A ⋅ e − Ea RT (1-41) beschrieben werden kann. Diese formale Abhängigkeit wird für die meisten Reaktionen beobachtet. Die Grösse A wird als präexponentieller Faktor oder auch Stosszahlfaktor bezeichnet. Ea heisst Aktivierungsenergie. Fig. 1.5 Hydrolyse von 4-Nitrophenylacetat (NPA) in basischer Lösung bei pH 10.0 bei verschiedenen Temperaturen. Links: Die Auftragung zeigt die rasante (exponentielle) Zunahme von k mit T. Rechts: Die ArrheniusAuftragung erlaubt die Bestimmung der Aktivierungsenergie Ea aus der Steigung der Ausgleichsgeraden. 19 Die statistische Thermodynamik lehrt, dass sich Atome und Moleküle mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in bestimmten Zuständen befinden und dass ihnen in diesen Zuständen charakteristische innere Energien U zukommen. Der Faktor exp(-Ea/RT) ist nun gerade gleich dem Anteil der Teilchen, die sich in Zuständen befinden, in denen ihre Energie grösser oder gleich der Energie Ea ist. Je höher die Temperatur, desto grösser ist dieser Anteil. Die Tatsache, dass die Geschwindigkeit von Reaktionen mit der Temperatur ansteigt, legt die Vermutung nahe, Fig. 1.6 Schematische Darstellung der inneren Energie des Reaktionssystems als Funktion der Reaktionskoordinate für eine ‡ exotherme Reaktion. X markiert den aktivierten Komplex (Übergangszustand). E a ist die klassische Energiebarriere der ' Vorwärtsreaktion, E a die der Rückreaktion. ∆rU ist die Differenz zwischen den Energien der Reaktanten und der Produkte in ihren tiefsten Energiezuständen. U X‡ Ea E’a Reaktanten ∆ rU Produkte Reaktionskoordinate dass zwischen der Reaktionsfähigkeit und der inneren Energie der reagierenden Teilchen ein Zusammenhang besteht. Damit die Atomanordnung in den Reaktanten in die Atomanordnung der Produkte übergehen kann, müssen die Reaktanten eine minimale Energie aufweisen, um die Kräfte, die sie im Ausgangszustand halten, zu überwinden (Fig. 1.6). Die Energie Ea, kann als die Energiebarriere, die zwischen dem Ausgangs- und Endzustand liegt, interpretiert werden. In dem in Fig. 1.6 eingezeichneten Reaktionsverlauf nimmt die innere Energie des Systems nach der Umwandlung der Reaktanten in die Produkte um den Nettobetrag ∆rU ab (exotherme Reaktion). Obwohl zunächst die Aktivierungsenergie E a aufgebracht werden muss, wird diese Investition überkompensiert. Für die Rückreaktion muss das System die Aktivierungsenergie E a' aufwenden. Die Rückreaktion ist damit wohl möglich; allerdings ist die Wahrscheinlichkeit kleiner, dass sich die Produkte in Energiezuständen ≥ E a' befinden. Im dynamischen Reaktionsgleichgewicht wird deshalb die Konzentration der Produktstoffe diejenige der Reaktanten überwiegen. Übung 7: Um eine Beziehung zwischen den Geschwindigkeitskonstanten k1 und k2 einer Reaktion bei zwei verschiedenen Temperaturen T1 und T2 zu erhalten, kann die Arrhenius-Gleichung (1-41) entsprechend umgeformt werden. Leiten Sie die folgende wichtige Beziehung her, mit der die Geschwindigkeitskonstante bei einer bestimmten Temperatur aus dem Wert bei einer anderen Temperatur und der Aktivierungsenergie berechnet werden kann: ln k1 k2 = ln kT 1 kT 2 = E a 1 1 − . R T2 T1 (1-42) Übung 8: Nach der bekannten RGT-Regel verdoppelt sich bei Raumtemperatur die Geschwindigkeitskonstante einer chemischen Reaktion bei einer Temperaturerhöhung um 10°C. Diese Regel gilt nicht uneingeschränkt: Leiten Sie die Bedingung für diese Regel aus der Arrhenius-Beziehung (1-41) ab. [Ea ≈ 50 kJ·mol-1] 20 In der ursprünglichen Arrhenius-Gleichung (1-41) sind Ea und A temperaturunabhängige Grössen. Experimentelle Daten, die über einen grösseren Temperaturbereich von mehreren hundert Kelvin gemessen werden, zeigen, dass für eine bessere Beschreibung von k(T) mit dem Arrhenius-Modell temperaturabhängige Parameter verwendet werden müssen. Die heutige Definition der Arrhenius-Aktivierungsenergie geht deshalb von einer differentiellen Auswertung von k(T) aus: dlnk (T ) E (T ) =− a d(1/T ) R oder auch dlnk (T ) E a (T ) = . dT RT 2 (1-43) Trägt man die Geschwindigkeitskonstanten logarithmisch gegen die reziproke absolute Temperatur 1/T auf, so ist die Steigung der Kurve bei der interessierenden Temperatur gleich −E a (T )/ R . Ist im betrachteten Temperaturintervall die Aktivierungsenergie praktisch konstant, so liegen die Messwerte in der Auftragung lnk(T) vs. 1/T entlang einer Geraden (vgl. Fig. 1.5). Übung 9: Bestimmen Sie die Aktivierungsenergie Ea für die Hydrolyse von 4Nitrophenylacetat unter Verwendung der linearisierten ArrheniusAuftragung der Messdaten in Fig. 1.5 (rechts). [85 kJ·mol-1] Lässt sich die RGT-Regel (vgl. Übung 8) bei dieser Reaktion anwenden? 1.6 Bemerkungen Aus den vorstehenden Kapiteln geht hervor, dass man bei der Charakterisierung der Geschwindigkeit einer gegebenen chemischen Reaktion vorsichtig sein muss; die blosse Angabe der Geschwindigkeitskonstanten etwa ist in der Regel nicht ausreichend. Da aus der Bruttoreaktion zwar die stöchiometrischen Beziehungen zwischen den zeitlichen Konzentrationsänderungen der Reaktanten und Produkte folgen, nicht aber das Geschwindigkeitsgesetz, muss letzteres explizit angegeben werden. Um die Wahl des kinetischen Modells, das aufgrund experimenteller Daten begründet wird, beurteilen zu können, sollten die Messwerte immer auch graphisch dargestellt werden, so dass ein sofortiger qualitativer Vergleich zwischen Modell und Messung augenfällig ist. Weiter ist die Geschwindigkeitskonstante abhängig von äusseren Bedingungen, von denen hier lediglich die Temperatur erwähnt wurde. Angaben zur Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion sollten deshalb stets die folgenden minimalen Punkte umfassen: • Bruttoreaktion • Geschwindigkeitsgesetz • Geschwindigkeitskonstante (mit korrekten Einheiten) • Temperatur • Lösungsmittel, Druck, Konzentrationen, Inertelektrolyt,… 21
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