Prof. Eberhard Feltz "Verbeugung" Als PDF herunterladen

K U R T Á G - E H R U N G
12.12.2015
BEGINN KONZERT III
KKS
EISLER-HS
V E R B E U G U N G
Ein herzliches Willkommen Ihnen allen,
den Freunden dieser Musik!
In 10 Wochen wird György Kurtág 90 Jahre alt.
Er ist für mich
- unersetzliche Musik,
- unersetzlicher Lehrer für das, was Komposition sein kann,
- unersetzliches Vorbild für das Proben und Aufführen,
- wunderbarer Freund.
Ich bekenne, dass ich die mannigfaltigen Herausforderungen und vielen Erfüllungen,
die seit 22 Jahren unserm ersten Begegnen nachfolgen, nicht als Uferbesitz verwalte.
Fest zu machen, vermag ich meinen Kosmos Kurtág nicht.
Kann man Bewunderung, kann man Überraschung horten? …
Ist er mir überhaupt zeitgenössischer Komponist? Lebe ich mit ihm denn auf dem
gleichen Planeten?
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Die ERSTE mich für seine Musik
aufrüttelnde BEGEGNUNG
war die Arbeit an den MIKROLUDIEN op. 13
mit dem noch ganz jungen KUSS-Quartett.
Erstaunt stellten wir fest: Das sind die uns bekannten Töne, ganz frisch, gar nicht
verbraucht! Wie ist das möglich?
Wir versuchten Antworten, noch zusammenhanglos:
- Kurtág weiß, dass es viel mehr Gesten als Tonhöhen gibt!
- Da ist jenes Bizarre, was nach Baudelaire jede Schönheit auszeichnet!
Hier agieren die vier Instrumente je mit anderer Figur. Was für eine dramatisch
turbulente Szene! Gibt es von Kurtág wirklich keine Oper?
Dort kommt es im vierfachen piano wie ein erinnertes Kinderlied, einfach, anrührend.
Nach nur einer Zeile: der Himmel antwortet!
Wir schauen wie Kinder vorbei an Cumulus-Wolken in rätselhaftes Blau, kaum hörbare
höchste Flageoletti…
Was für ein unermesslich großes JETZT !
Das gemeinsame Erleben NEUE MUSIK war wundervoll neugierig, u n s c h u l d i g
offen. Es war u n s e r Anbeißen: auch die schärfsten Dissonanzen werden vertrauter!
Wir klopften uns einen für mich noch heute unentbehrlichen Schlüssel:
DIE DISSONANZ, SIE KLINGT,
WENN DIE GEBÄRDE GELINGT.
In meine Partitur von damals eingeschrieben finde ich: Eine einzelne Handlung oder
Begebenheit interessiert nicht, weil sie erklärbar oder wahrnehmbar ist, sondern weil
sie wahr ist. Worte Goethes. -
Später, an einem Herbstabend 1993, folge ich einer Einladung nach Nikolasee.
Eigentlich, um die Geigerin Miriam Fried in die HS einzuladen.
Am Tisch mir gegenüber, völlig unerwartet, sitzt er, Gyuri KURTÁG. Ist jüngst für zwei
Jahre als 'Composer in residenc' der Berliner Philharmoniker nach Berlin gekommen.
Meine ersten Worte an ihn fragen zur Nr.1 seiner MIKROLUDIEN, zu jenem neunten und
schon letzten Takt.
Nur wenige Gesten haben die beginnende Einfachheit umgestapelt zum verflixt
dissonanten Labyrinth: Dur und Moll gleichzeitig in C, in E, in H, in As: ein Turm zu
Babel?
Wie bei all unserem Sprechen an diesem Abend reagiert er knapp und blitzschnell:
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Alles das sollen Sie hören!
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Andere auch ineinander greifende Erinnerungen habe ich an meine zwei letzten live
erlebten Konzerte von Gyuri Kurtág und seiner Frau Màrta.
In London erschrecke ich zuerst über den gutbürgerlich schwarz lackierten Kasten. Sie
ließen stadtweit Besseres suchen. Ich nahm es, es hatte Bässe, sagt er.
Dort in der Pariser Opera garniere spielen sie auch mit dem Rücken zum Publikum:
erst zusammen, dann er mehrere Stücke allein, dann wieder zusammen, sie allein…
alles am präparierten Pianino, Hochklavier ohne Prachtklang. Aber wie überwältigend
transparent und durchgehört!
In London schauen wir uns an, neben mir sitzt Nicolas Altstaedt, sagt: Wir sind zu
Hause.
In Paris notiere ich mir: INNIGER IST FREIER AUCH.
✧
Gyuri's Weg o h n e MÀRTA ist nicht ausdenkbar!
GYURI unterbricht im Juni 2009 auf der VACI UTCA unseren Gang zu dritt, offenbart
ohne Verbindung zum vorherigen Sprechen:
„Weißt du, diese Frau ist für mich noch heute genau das, was sie für mich am ersten
Tag wurde!“
Mehr wird dazu nicht geredet.
Wiederum riesengroßes Jetzt!
Als ich ihn um Einverständnis bitte für die Handschrift HOMMAGE À MÀRTA als
Faksimile in unserer Festschrift: Ja, es ist eins der besten Stücke! Und er schreibt es
für uns noch einmal ab!
„Wahrhaftig, sie ist die Welt für mich, mit der schon alles diskutiert wird, bevor es
öffentlich wird. Meine Gesellschaft ist Màrta“, sagt er.
Sie sind 70 Jahre miteinander verheiratet.
Màrta überrascht mich:
Mit den Worten „Das sollst du sehen!“ legt sie mir bei meinem ersten Besuch zu Hause
in St. André de Cubzac das kiloschwere Autograph von Ligeti's 1. STREICHQUARTETT in
die Arme.
Vor nur einer Woche verrät sie mir ihr tägliches Üben für eine Einspielung der 15
dreistimmigen Inventionen Bachs.
✧
György Kurtág ist d e r Komponist unserer Zeit, der wie kein anderer
Klangbeziehungen g e s t i s c h artikuliert und damit Hörer weltweit erreicht!
Voraussetzung dafür ist, dass er sich am Urgrund mit der Einwirkung von Klängen
vertraut gemacht hat.
Das geschah jenseits von als modern geltenden Richtungen, Systemen, Schulen.
Er bekennt z. B.
➛
Ich verdanke LASZLO DOBSZAY so viel.
Bei ihm sang ich Gregorianik.
Heute sagte er:
JEDES INTERVALL SOLL ETWAS SPEZIELLES KÖNNEN! DU MUSST DIR JEDEN TON VERDIENEN.
GESTEN? DIE WAREN BEI MIR VON ANFANG AN DA!
Noch fasslicher:
GEHT MIT DEN TÖNEN UM WIE MIT EUREM LIEBLINGSHUND:
NA, KOMM DOCH! KOMM HER!
und
DA BIST DU JA!
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Es gibt einzigartige geistige Bruderschaft. Die Wahrhaftigkeit von KURTÁGS Musik beruht auf
der gleichen Erkenntnis, die uns auch Samuel Beckett schonungslos nahe bringt:
unser ZU-HAUSE ist
das AUSGESETZTSEIN in der Welt.
„Blumen die Menschen, nur Blumen“ - sind in seinen Stücken eindringliche Worte.
Als Kurtág von der schweren Erkrankung Ursula Holligers erfährt, sendet er ihr
- ich bin unfähig, Briefworte zu wählen, meint er das spontan entstandene Solostück für Oboe BRIEF AUS DER FERNE AN URSULA.
Als Ursula stirbt, erhält Holliger ein neues kurzes Stück …FÜR HEINZ…
Jetzt für Klavier, für die linke Hand allein!
Gyuri ruft bewegt an: „Heinz spielt auf der Empore der Peterskirche im Rahmen der
Totenmesse für seine Frau beide Stücke! Weißt du, darum ist man Komponist…!“
Die riesige Vielzahl unterschiedlicher Klanggesten entspringt seiner leidenschaftlichen
Verbundenheit mit dem Leben, seinem Mitgefühl für alle Leidenden, Ausgestoßenen,
Verfolgten, Angstgetriebenen, Enttäuschten, Verzweifelten…
nichts Menschliches ist ihm fremd.
Er erhält ein Geschenk zu seinem Geburtstag.
Was ist das? Ein Amulett gegen Teufel.
Er: ABER ICH BRAUCHE DEN TEUFEL ZUM KOMPONIEREN!
Zorn, Trotz, Scheitern, Anmaßung, Hass, Feigheit und ihre Verlaufsformen bekommen in
Szenen und Fragmenten ihren Raum. Uns berührt, wenn er ungeschütztes Sensibles und sogar
vergebliches Anlaufen hörbar macht.
Wenn er in EHRFURCHT vor dem Leben Bruchstücke und Scherben menschlichen Tuns als
kostbar würdigt!
Kurtág liebt, dass in der Volkstradition der Musikant erst durch die Hölle gefahren sein
muss, bevor er ein rechter Sackpfeifer wird.
Diese Liebe ist für mich ganz identisch mit dem, was Rimbaud nennt: den schönen
Hunger nach der Grenze, wo Menschen und Dinge sich nicht mehr verstecken können.
Dem sinnverwandt enden
Kurtágs Attila Jozsef-Fragmente op. 20 :
… und du, Leid, erreiche mich erst morgen.
Tiefer muss ich mich noch beugen.
um, nichts mehr wissend, zu singen.
Sein verehrter Mentor ROBERT KLEIN - bedeutender Forscher der mittelalterlichen Literatur schrieb für Gyuri in die Erstausgabe seines Buches SAVANAROLA die Widmung:
WER NICHT GENUG HEILIGES FEUER HAT, WIRD VERBRANNT.
Im Auditorium Nador Utca in Budapest bin ich Zeuge. Soeben wurde DER BEGRENZTE KREIS
IST REIN der Kafka-Fragmente gearbeitet. Von anderer Wandseite dröhnt krachend und
knirschend ein Schlagbohrer, wieder und wieder. Kurtág unterrichtet ohne Aufblicken weiter,
kein einziges Krümelchen Stress ist weder an ihm noch an Màrta bemerkbar!
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Unzureichend gewürdigt scheint mir jene Dimension seines Schaffens, die Kurtág im
Buch DREI GESPRÄCHE von Varga Balint deutlich anreißt:
Zitat:
Ich denke an etwas wie Fürst Andrejs erste Verwundung bei Austerlitz, als er mit einemmal den
Gefechtslärm nicht mehr hört…über sich den blauen Himmel entdeckt. das erzähle ich
fortwährend…niemand reagiert….niemand hört es, …niemand sieht den blauen Himmel…
Schon anfangs streiften wir in den Mikroludien blauen Himmel.
Es gibt diese Spur in seiner Oper ENDSPIEL, mit deren Fertigstellung KURTÁG jetzt so
beschäftigt ist.
Darin erleiden Ham, der Blinde im Rollstuhl, und Clov, der Diener, seit vielen Jahren ihr
Aufeinander-angewiesen-Sein.
Die Deckel der beiden Mülleimer links und rechts neben dem Rollstuhl heben sich, die
Köpfe der dort a b g e l e g t e n Eltern Nagg und Nell erscheinen, sie erinnern sich an
ihre Bootsfahrt als frisch Verlobte auf dem Comer See. Über den von Nagg erzählten
Schneider-Witz lachten sie so, dass sie kenterten. Nell singt:
ES WAR TIEF, TIEF. MAN SAH BIS AUF DEN GRUND. SO WEISS. SO REIN.
Gyuri ist froh über diese ihm sehr gelungene Musik!
Nach einem Du-Abend der beiden frage ich ihn:
„Du komponierst über Mülleimer? Und spielst Bachs GOTTES ZEIT IST DIE ALLERBESTE ZEIT?“
… wieder erhalte ich rapide Antwort:
ABER ES IST DOCH DASSELBE!
Seine Visionen haben mir Becketts Vermächtnis neu erschlossen.
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Bezeichnend für KURTÁGS Arbeitsweise ist, dass er unter jedem Schwungverlust leidet.
SEIT ZWEI WOCHEN BIN ICH VÖLLIG ELEND, VON TAG ZU TAG SCHLIMMER: KEINE IDEE!
hörte ich schon 1993.
SCHWUNG wurde zwischen uns das Code-Wort für gelingendes Komponieren. In der
vergangenen Woche ergreift er erstmals eine neue Vokabel.
„Ich hoffte heute weiterzukommen. Aber ich habe Panne.“
Verstehe ich? Ja, Panne wie bei einem Auto.
Charakteristisch ist, was in früherer Situation die Segel wieder strafft. Von ANDRÉ BERNOLD,
jenem Weggefährten, der als junger Mann die Freundschaft Becketts errang, erhält er, durch
Krankheit bedingt, erst nach vielen Wochen Schweigen POST, einen einzigen Satz:
Ichts musz zu nichts werden,
auff das aus nichts wiederumb
PARACELSUS
ichts werde.
Gyuri ruft außergewöhnlich spät an. Jetzt leuchtet Kraft in seiner Stimme. Den Satz spricht er,
singt ihn mir, beim dritten Mal wenige Klavierklänge seiner Vertonung dazu. Sie finden das
Faksimile des Stückes in der Festschrift.
Ich frage: „Und die Oper?“ - „Ja, jetzt komme ich gut voran.“
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Es ist die allgemein verbreitete Darstellung, Kurtág unterrichte niemals Komposition.
Tatsächlich bekleidete er nie ein entsprechendes Lehramt.
Und trotzdem ist er m i r der wichtigste Lehrmeister geworden für das, was eine Komposition
ausmacht!
Ihm ist die PROBENARBEIT in jedem konkreten Fall buchstäblich Teil des Schaffensprozesses!
Das gilt für die Meisterwerke aller Epochen ganz ohne Unterschied so wie für seine eigenen
Stücke.
Die fixierte Partitur ist im Notenschrank tot, wird nur lebendig durch echt angemessene
Aufführung.
Falsch ist: „Das Kunstwerk ist (auch) da, wenn seine Aufführung i r g e n d w i e stattfindet.“
Ich unterrichte so gerne, weil ich dabei dem Werk am nächsten komme, es sind seine Worte.
Als ich am Telefon über die Aufführung seines Stücks im Konzert berichten möchte:
Mich interessiert, was vorher war!
Darum sucht KURTÁG UNABLÄSSIG die Gemeinschaft mit Instrumentalisten und Sängern. Das
erklärt die vielen Varianten OSSIA in seinen Werken, die - bisweilen über Jahre hin - vielen
Neufassungen. Denn er reagiert interessiert und bereitwillig auch auf Hinweise der Kollegen für
bessere Lösungen.
Er übernimmt in beispielhafter Zusammenarbeit mit den Interpreten die g a n z h e i t l i c h e
Verantwortung für das Leben der Werke. Aufführen heißt
GANZ VON VORNE BEGINNEN, DEN SCHAFFENSPROZESS NACHVOLLZIEHEN.
UND MUSIKHÖREN IST KOSTBARE GEISTIGE ÜBUNG.
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ZUM SCHLUSS
Ich konnte jenen Brief von 1989 an die Berliner Philharmoniker einsehen:
GRABSTEIN FÜR STEPHAN ist an der Grenze des Nichtgeschehens (…) ein jeder von Ihnen hat
nur 2-3 Melodie-Soli zu spielen… auch diese nur 3-5-tönig…
Es geschieht nichts, das Werk kann absolut unbedeutend oder auch sehr erschütternd sein…
Erschütternd (…) nur, wenn jeder von Ihnen daran glaubt und den scheinbar unbedeutenden
Floskeln das Gewicht langer großer Melodien gibt - und die mitspielen, es mit Tönen und
Geräuschen so umgeben, wie ich es bei Proben und Konzerten der Philharmonie so oft im
klassischen Repertoire hören und erleben durfte.…'
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Lieber verehrter Gyuri!
Einen einzigen Satz haltbar zu machen
auszuhalten in dem Bimbam von Worten
es schreibt diesen Satz keiner der nicht unterschreibt.
In diesen Zeilen von Ingeborg Bachmanns vernehme ich auch dein Credo.
Du unterschreibst an vorderster Front, teilst mit uns Wahrheiten über uns.
In deiner Musik ist die Kraft, hörbar und vertraut zu machen, was in uns an Verborgenstem
liegt.
Schenke uns weiterhin deine Gesten!
Nicht wie du selbst sagst ein Crescendo der Lautstärke, sondern der Begeisterung!
Danke!