Handreichung zum Volkstrauertag 2015

70 JAHRE KRIEGSENDE
VOLKSTRAUERTAG
15. NOVEMBER 2015
Anregungen und Gedanken
zur Gestaltung von Gedenkstunden
und Gottesdiensten
Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge e. V.
Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.
70 Jahre Kriegsende
VOLKSTRAUERTAG
15. NOVEMBER 2015
Anregungen und Gedanken
zur Gestaltung von Gedenkstunden
und Gottesdiensten
2
INHALT
V O L K S T R A U E R TA G 2 0 1 5
70 J A H R E K R I E G S E N D E
4
Geleitwort
42
Markus Meckel, Präsident des Volksbunds Deutsche
Kurt Tucholsky
Die brennende Lampe
Kriegsgräberfürsorge e. V.
44
6
Geleitwort
Gedanken zum Predigttext Matthäus 25, 31–46
von Bischof Dr. Dr. h. c. Markus Dröge
Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen
Bischofskonferenz
48
Dietrich Bonhoeffer
Von guten Mächten
8
Totengedenken
50
10
Über den Volkstrauertag
Schwerpunktthema 70 Jahre Kriegsende
14
Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck
21
Beitrag von Prof. Dr. Peter Steinbach, Universität Mannheim
31
Gedanken zum Predigttext Markus, 13, 24 f.
von Weihbischof Dr. Matthias Heinrich
54
Wolfgang Borchert
Brief aus Russland
56
Gestaltungsmöglichkeiten für Gedenkveranstaltungen
Redebeispiel und Zitate aus Reden
57
Musikvorschläge
Rede des Bayerischen Staatsministers Joachim Herrmann
58
Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.
zum Volks­trauertag 2013
– Kurzdarstellung
34
Prof. Dr. em. Heinrich August Winkler, Historiker
61
Aktion „Toter sucht Angehörigen“
36
Markus Meckel, Präsident des Volksbunds Deutsche Kriegs­
63
Sammlungs- und Kollektenempfehlung
gräberfürsorge e. V.
37
Avi Primor, Botschafter des Staates Israel a. D.
37
Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungs­
gerichts a. D.
38
Prof. Dr. Horst Köhler, Bundespräsident a. D.
40
Ernst Jandl
(markierung einer wende)
3
4
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GELEITWORT
Markus Meckel
tungslagern und in den ausgebombten
der Bundesregierung Ruhestätten von
Volksbund somit eine wichtige gesell­
Städten.
Soldaten als Mahnmale gegen Krieg
schaftliche Funktion.
Sind wir also, wenn wir der Kriegs­
und Gewaltherrschaft. In 45 Staaten
Die Notwendigkeit, der Toten zu
5
Siebzig Jahre Kriegsende, das sind
für mich auch siebzig Jahre seit dem
Beginn der deutschen Teilung, die
Präsident des Volksbunds Deutsche
toten des 20. Jahrhunderts gedenken,
und auf derzeit 832 Friedhöfen gibt
gedenken und die Deutungshoheit über
Familien, Freunde, ja ganze Gemeinden
Kriegsgräberfürsorge e. V.
in einer weit zurückliegenden Vergan­
er den Toten ein Grab und ermöglicht
Kriegsgräber nicht der Beliebigkeit
auseinanderriss. Der Osten Europas,
genheit, die uns ohne Berührungs­
damit ein Abschiednehmen, ein Trauern
anheimfallen zu lassen, wird in Anbe­
der bis 1990 vom Sowjetkommunismus
punkte zum Hier und Jetzt nicht mehr
und Erinnern.
tracht der Feinde unserer Demokratie
beherrscht wurde, konnte erst mit
erneut deutlich. Viele dieser Gruppen,
dem Fall der Berliner Mauer zusam­
ängstigen muss? Die Schreckensbilder
Jedoch ist der Volksbund keinesfalls
in den Abendnachrichten machen rasch
nur im Interesse der Toten und ihrer
die auch auf junge Menschen eine hohe
menwachsen und am europäischen
deutlich, dass die Welt auch heute
Angehörigen tätig. Vielmehr verfolgt er
Anziehungskraft ausüben, sehen im
Integrationsprozess teilhaben. Mit dem
nicht vom Frieden regiert wird und
mit seiner schulischen und außerschu­
europäischen Integrationsprozess die
Sieg von Freiheit und Demokratie in
Menschen nach wie vor unter Hunger,
lischen Jugendarbeit zukunftsorien­
Wurzel allen Übels. Richtig ist, dass
den weitgehend friedlichen Umbrüchen
Krieg und Verfolgung leiden. So sind
tierte und friedenspädagogische Ziele.
die Europäische Union vor großen
vor 25 Jahren begann ein neues Zeital­

unsere Gedanken in diesem Jahr auch
So kommen junge Menschen aus ganz
Herausforderungen steht, wodurch
ter für Europa. Indem wir an diejenigen
© Volksbund
bei den Menschen im Irak und in Syrien,
Europa zusammen – in diesem Jahr
sie regelmäßig auch unter Legitimie­
erinnern, denen diese universellen
im Nahen Osten und in der Ukraine,
werden es wieder über 20 000 sein –,
rungszwang gerät. Die Notwendigkeit
Werte nicht zuteilwurden, unterstrei­
bei allen Opfern von Konflikten auf
die Erfahrungen austauschen und in
des europäischen Zusammengehens
chen wir ihre Bedeutung als ein hohes
dieser Welt. Um die Fehler von ges­
einen Dialog über die Herausforderun­
lässt sich wohl kaum eindrucksvoller
und schützenswertes Gut. Hierin sehe
Am Volkstrauertag, wenn in Deutsch­
tern heute und in der Zukunft nicht zu
gen unserer Gegenwart treten. Durch
unter Beweis stellen als durch einen
ich eine unserer vordringlichsten Auf­
land die Fahnen auf Halbmast wehen,
wiederholen, lohnt sich ein Blick in die
die gemeinsame Arbeit auf Friedhöfen
Blick auf das 20. Jahrhundert. Erst das
gaben, nicht nur am Volkstrauertag.
gedenken wir der deutschen Kriegs­
Geschichte. Indem wir die Toten und
lernen sie nicht nur einander, sondern
Zusammenrücken der Nationen hat
toten und Opfer der Gewaltherrschaft
die Orte des Schreckens nicht verges­
auch die zentrale Bedeutung dieser
einen verlässlichen Frieden ermöglicht,
aller Nationen. Wir begehen in diesem
sen, wird ein unerlässlicher Beitrag
Ruhestätten für unsere historische
welcher zuvor nicht möglich schien. Die
Jahr einen bedeutenden Jahrestag, das
zum Frieden und zur Demokratie in der
Identität und ein gewaltfreies Mitei­
Kriegsgräber von Millionen Toten mah­
Ende des Zweiten Weltkrieges vor sieb­
Gegenwart geleistet.
nander kennen. In einer Zeit, in der
nen die Lebenden und sind deshalb
wir neue Wege finden müssen, um
bedeutender Teil unserer europäischen
zig Jahren. 1945 befreiten die Alliierten
Zu diesem Gedenken und Erinnern
Deutschland vom Nationalsozialismus
liefert der Volksbund seit nunmehr
den nachwachsenden Generationen
Identität. Auch deshalb dürfen wir sie
und beendeten damit das Sterben auf
fast hundert Jahren einen wichtigen
die Bedeutung des Erinnerns und
nicht radikalen Europagegnern, Extre­
den Schlachtfeldern, in den Vernich­
Beitrag. Er erhält und pflegt im Auftrag
Gedenkens näherzubringen, erfüllt der
misten und Nationalisten überlassen.
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GELEITWORT
Das Jahr 2015 steht im Zeichen des
den Gräueln berichten können. Umso
Papst Franziskus Anfang des Jahres bei
Gedenkens an das Ende des Zwei­
wichtiger werden andere Zeichen
seinem Besuch in Sri Lanka im Hinblick
Reinhard Kardinal Marx
ten Weltkriegs vor 70 Jahren. Dieser
der Versöhnung. Schon nach dem
auf den dortigen langjährigen Bürger­
Vorsitzender der Deutschen
zweite weltweite Krieg des letzten
Ersten Weltkrieg wurde erkannt,
krieg hervorgehoben hat: „Der Prozess
Bischofskonferenz
Jahrhunderts hatte binnen sechs Jah­
wie bedeutsam etwa die Erfassung,
des Heilens muss die Wahrheitsfindung
ren die schier unglaubliche Zahl von
Erhaltung und Pflege der Gräber der
einschließen. Nicht um alte Wunden zu
60 Millionen Menschenleben gefordert.
deutschen Kriegstoten im Ausland für
öffnen, sondern um für Gerechtigkeit,
Nie zuvor gehörte zudem eine solch
einen Versöhnungsprozess ist. Der
Heilung und Einheit zu sorgen.“
grausame Menschenverachtung und
Volksbund Deutsche Kriegsgräber­
annähernde Vernichtung ganzer Bevöl­
fürsorge e. V. übernimmt seit 1919 im
dass wir uns auch in Zukunft in einem
kerungsgruppen zu einer kriegerischen
Auftrag der damaligen Reichsregierung
jährlichen kollektiven Gedenktag,
Auseinandersetzung.
und jetzigen Bundesregierung diese
dem Volkstrauertag, der Wahrheit
Aufgabe mit großer Sorgfalt und einem
und Verantwortung stellen und die
der Zweite Weltkrieg lässt ein kaum
nicht nachlassenden Engagement.
Herausforderungen einer Friedenssi­
übersehbares Ausmaß an Leid, Trauer,
Vor allem das Heranführen junger
cherung öffentlich bewusst machen.
Verbitterung und Hass zurück - und
Menschen an diese traurigsten Kapitel
Der in diesem Jahr am 15. November
dies über eine sehr lange Zeit. Solches
unserer Geschichte beeindruckt mich
gefeierte Volkstrauertag mahnt uns, im
Unrecht prägt sich nicht nur bei den
sehr. Die materiellen Schäden eines
Bemühen um Gerechtigkeit, Vergebung
einzelnen Menschen ein, die selbst
Krieges auszubessern, braucht seine
und Versöhnung gerade heute nicht
davon betroffen sind oder es in ihrer
Zeit, aber diese Aufgabe ist lösbar.
nachzulassen.
Familie und im Freundeskreis erleben
Die bei einzelnen Personen oder im
mussten. Das erlittene Unrecht hinter­
ganzen Volk vorhandenen seelischen
lässt auch tiefe Spuren im kollektiven
Verwüstungen zu heilen, die Diktatur,
Gedächtnis ganzer Völker, Staaten und
Krieg oder Bürgerkrieg hinterlassen
Nationen.
haben, ist jedoch eine Aufgabe, die nie
Eine derartige Katastrophe wie

© Erzbischöfliches
Ordinariat München
Es scheint mir daher unerlässlich,
70 Jahre nach Ende des Zweiten
endet. Denn mit ihr ist eng die Verant­
Weltkriegs verstummen bald die für
wortung für den Erhalt des Friedens
die Erinnerung so wichtigen Stimmen
in der Zukunft verknüpft. Es trifft für
der Menschen, die authentisch von
alle Versöhnungsprozesse zu, was
7
8
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TOTENGEDENKEN
„Wir denken heute an die Opfer von
Wir gedenken derer, die ums Leben
Wir trauern mit allen, die Leid tragen
Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen
kamen, weil sie Widerstand gegen
um die Toten, und teilen ihren Schmerz.
und Männer aller Völker.
Gewaltherrschaft geleistet haben, und
Aber unser Leben steht im Zeichen der
derer, die den Tod fanden, weil sie an
Hoffnung auf Versöhnung unter den
Wir gedenken der Soldaten, die in den
ihrer Überzeugung oder an ihrem
Menschen und Völkern, und unsere
Weltkriegen starben, der Menschen, die
Glauben festhielten.
Verantwortung gilt dem Frieden unter
den Menschen zu Hause und in der
durch Kriegshandlungen oder danach
in Gefangenschaft, als Vertriebene und
Wir trauern um die Opfer der Kriege
Flüchtlinge ihr Leben verloren.
und Bürgerkriege unserer Tage, um die
ganzen Welt.“
Opfer von Terrorismus und politischer
Wir gedenken derer, die verfolgt und
Verfolgung, um die Bundeswehrsolda­
getötet wurden, weil sie einem ande­
ten und anderen Einsatzkräfte, die im
ren Volk angehörten, einer anderen
Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Rasse zugerechnet wurden, Teil einer
Minderheit waren, oder deren Leben
Wir gedenken heute auch derer, die
wegen einer Krankheit oder Behin­
bei uns durch Hass und Gewalt gegen
derung als lebensunwert bezeichnet
Fremde und Schwache Opfer geworden
wurde.
sind.
Bundespräsident Joachim Gauck bei der zentralen
Gedenkveranstaltung des Volksbunds Deutsche
Kriegsgräberfürsorge e. V. im Plenarsaal des Deut­
schen Bundes­tages aus Anlass des Volkstrauertages
am 16. November 2014
9
10

Volkstrauertag 2013.
Kranzniederlegung am
Sowjetischen Ehrenmal
in der Schönholzer
Heide, Berlin
Foto: Uwe Zuccchi
© Volksbund

(Seite 9)
Deutsche Kriegs­
gräber­stätte
Rossoschka bei
Wolgo­grad. Ruheund Erinnerungsstätte
für die in der Schlacht
um Stalingrad gestor­
benen Soldaten
© Volksbund
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ÜBER DEN VOLKS­T RAUERTAG
Auf Vorschlag des kurz nach dem Ers­
Sonntag Reminiscere, dem fünften
ten Weltkrieg gegründeten Volksbunds
Sonntag vor Ostern, begangen wurde.
Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde
Es gelang jedoch in der Weima­
der Volkstrauertag als Gedenktag für
rer Republik nicht, an diesem Tag
die Kriegstoten des Ersten Weltkriegs
alle Trauernden zu versammeln. Die
eingeführt. Der Tag sollte ein Zeichen
politisch zutiefst zerklüftete deutsche
der Solidarität derjenigen, die keinen
Gesellschaft fand keinen gemeinsamen
Verlust zu beklagen hatten, mit den
Blick auf den Weltkrieg und daher auch
Hinterbliebenen der Gefallenen sein.
nicht auf ihre Toten. Das verbindende
Die erste offizielle Feierstunde fand
Element der Trauer um die Gefallenen
1922 im Deutschen Reichstag in Berlin
geriet durch die stark umstrittene Deu­
statt. Der damalige Reichstagspräsi­
tung des Krieges in den Hintergrund.
dent Paul Löbe hielt eine Rede, in der er
Zunehmend erfuhr der Volkstrauertag
einer feindseligen Umwelt den Gedan­
eine Umdeutung hin zu einem Tag
ken an Versöhnung und Verständigung
der Erinnerung an den heldenhaften
gegenüberstellte. Ein Komitee, dem von
Kampf der deutschen Soldaten. Diese
den großen Glaubensgemeinschaften
Form der Erinnerung fügte sich ein in
bis zum jüdischen Frauenbund vielerlei
Bestrebungen, die der Akzeptanz eines
Verbände angehörten, erreichte unter
Revanchekrieges in der Bevölkerung
Federführung des Volksbunds, dass der
dienten. Ein Heldenkult, der die heroi­
Volkstrauertag in den meisten Ländern
sche Tat der Soldaten zur Nachahmung
des Reiches gemeinsam, nämlich am
für die nächsten Generationen pries,
11
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13
jedoch in Abgrenzung zum nationalso­
zialistischen Heldengedenken auf den
Sonntag zwei Wochen vor dem ersten
Advent gelegt. Durch Landesgesetze
ist der Tag geschützt.
Anders als in der Zwischenkriegs­
zeit wird seit 1945 am Volkstrauertag
von Beginn an auch der zivilen Opfer


Sowjetischer Fried­
hof bei Kesternich.
Kirchliche Weihe
durch den russischorthodoxen Erzbischof
Alexander aus
München.
Foto: Bezirksregierung
Aachen
© Volksbund
Internationale
Kriegsgräber- und
Gedenkstätte
Salzgitter-Jammertal
Foto: Susanne Röschmann
© Volksbund
des Krieges und der Diktatur gedacht.
Neben die toten Soldaten traten auch
die Frauen, Kinder und Männer, die in
den besetzten Ländern und in Deutsch­
land Opfer von Krieg und Gewalt
bestimmte nunmehr die Erinnerung an
dieser Propaganda beteiligte sich auch
geworden waren. Aber von Anfang an
die Gefallenen des Ersten Weltkriegs.
der seit 1933 bereitwillig gleichgeschal­
riefen die Bundespräsidenten dazu auf,
tete Volksbund. Für die Gefallenen des
auch an die Opfer der Diktatur, also
haber schrieben diese Deutung 1934
Zweiten Weltkriegs war dann die Wehr­
an die Menschen, die aus politischen,
per Gesetz fest: Der Volkstrauertag
macht zuständig. Auch der Heldenge­
religiösen oder sogenannten rassi­
wurde zum staatlichen „Heldenge­
denktag wurde bis 1945 von der Wehr­
schen Gründen verfolgt worden waren,
denktag“ erklärt und auf den 16. März
macht und der NSDAP ausgerichtet. Die
zu erinnern.
gelegt. Der „Heldengedenktag“ sollte
Richtlinien über Inhalt und Ausführung
alle Deutschen in der Trauer vereinen.
erließ der Reichspropagandaminister.
Die nationalsozialistischen Macht­
Alle, die aus politischen oder soge­
Auch mit zunehmendem Abstand
vom Krieg versteht der Volksbund die­
Nach dem Ende des Zweiten Welt­
nannten rassischen Gründen nicht
kriegs und dem Ende der nationalsozia­
zur „NS-Volksgemeinschaft“ gehören
listischen Diktatur wurde im westlichen
durften und sollten, wurden aus dem
Deutschland der Volkstrauertag auf
Gedenken gestrichen – beispielsweise
Betreiben des Volksbunds Deutsche
die jüdischen Weltkriegssoldaten, die
Kriegsgräberfürsorge 1952 wieder als
für Deutschland gefallen waren. An
Tag der „nationalen Trauer“ eingeführt,
sen Gedenktag als einen Tag der Trauer,
gleichzeitig jedoch auch als einen Tag


Volkstrauertag
1962. Empfang von
Bundeskanzler
Dr. Konrad Adenauer
Foto: Wilhem Pabst
© Volksbund

Volkstrauertag
1969. Ansprache von
Bundeskanzler Willy
Brandt
Foto: Volksbund Archiv
der Mahnung zu Versöhnung, Verstän­
digung und Frieden.
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BUNDESPRÄSIDENT
JOACHIM GAUCK
Dieser Krieg endete erst, als die westlichen Alliierten und
die Sowjetunion gemeinsam Deutschland zur Kapitulation
gezwungen hatten und uns Deutsche damit auch von der
bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag
des Endes des Zweiten Weltkrieges
am 6. Mai 2015 in Schloss Holte-Stukenbrock

Foto: Presse- und
Informations­amt der
Bundesregierung
krieg in Europa zu Ende ging – jener mörderische Schrecken,
der von Deutschland ausgegangen war.
gene waren hier. Sehr viele von ihnen sind umgekommen,
Zehntausende sind hier begraben.
Was sagen Zahlen? Wenig – und doch, sie geben Aus­
Nazidiktatur befreiten. Wir Nachgeborenen in Deutschland
kunft, sie geben uns zumindest eine Vorstellung von dem
haben allen Grund, für diesen aufopferungsvollen Kampf
Schrecken und von der unbarmherzigen Behandlung, die
unserer ehemaligen Gegner in Ost und West dankbar zu sein.
die Sowjetsoldaten in deutscher Gefangenschaft erlitten
Er hat es möglich gemacht, dass wir in Deutschland heute
haben. Wir müssen heute davon ausgehen, dass von über
in Freiheit und Würde leben können. Wer wäre nicht dankbar
5,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen deutlich mehr
dafür?
als die Hälfte umkam. Millionen Schicksale, Millionen Namen,
Hier in Schloss Holte–Stukenbrock erinnern wir in dieser
Millionen Lebensgeschichten. Es waren Russen, Ukrainer,
Stunde an eines der größten Verbrechen in diesem Krieg:
Weißrussen, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turk­
Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher
menen – Soldaten aus allen Völkern, die damals zur Sowjet­
Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden – sie gin­
union gehörten.
gen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie
Übermorgen ist es siebzig Jahre her, dass der Zweite Welt­
15
Wenn wir betrachten, was mit den westalliierten Kriegs­
wurden ermordet. Millionen von Kriegsgefangenen, die doch
gefangenen geschah, von denen etwa drei Prozent in der
nach Kriegsvölkerrecht und internationalen Verabredungen
Gefangenschaft umkamen, dann sehen wir den gewaltigen
in der Obhut der deutschen Wehrmacht standen.
Unterschied: Anders als im Westen war der Krieg im Osten
Sie wurden auf lange Fußmärsche gezwungen, in offenen
vom nationalsozialistischen Regime von Anfang an als ein
Güterwagen verschickt, sie kamen in sogenannte Auffang-
Weltanschauungs- und Vernichtungs- und Ausrottungskrieg
oder Sammellager, in denen es anfangs so gut wie nichts
geplant – und in der Regel auch geführt, denken wir zum
Der Krieg ging endlich zu Ende,
gab – keine Unterkunft, keine ausreichende Verpflegung,
Beispiel an diese schreckliche jahrelange Belagerung Lenin­
der unseren Kontinent verwüstete,
keine sanitären Anlagen, keine medizinische Betreuung –,
grads mit dem Ziel des Aushungerns einer Millionenstadt.
in dem die Juden Europas ermordet wurden,
nichts. Sie mussten sich Erdlöcher graben, sich notdürftig
Denken wir an die Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung
in dessen Verlauf Millionen von Soldaten und Zivilisten
Baracken bauen – sie versuchten verzweifelt, irgendwie zu
in allen besetzten Ländern, ganz besonders aber in der
starben,
überleben. Dann wurden sie in großer Zahl zum Arbeits­
Sowjetunion. Das geschah bewusst und vorsätzlich und auf
in dessen Folge in vielen Ländern Millionen aus ihrer Heimat
einsatz gezwungen, den sie geschwächt und ausgehungert,
ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers. Die Wehrmacht setzte
vertrieben wurden,
wie sie waren, oft nicht zu überleben vermochten.
diese Befehle bereitwillig um. Es war der Generalstabschef
als dessen Ergebnis Europa, mitten darin Deutschland, ein
halbes Jahrhundert geteilt war.
Wenige Hundert Meter von hier war das Kriegsgefange­
nenlager „Stalag 326 Senne“. Mehr als 310 000 Kriegsgefan­
Halder, der im Mai 1941 formulierte: „Wir müssen von dem
Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der
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Lagerhaft, oft sogar der Tod. Wir können nur ahnen, wie viele
Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowje­
Mütter, wie viele Ehefrauen, wie viele Bräute, wie viele Kinder
tisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. In der DDR
noch nach Kriegsende vergeblich gewartet haben; und
wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische
auch wie schwer es für sie war, damals dieser ihrer Toten zu
Brudervolk großgeschrieben, aber der amtlich verordnete
gedenken.
Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für
Als Deutsche fragen wir uns aber zuerst nach deutscher
Sowjetische Kriegs­
gefangene bei Witebsk,
1941 oder 1942
Foto: Voß
© Volksbund
die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in
Schuld und Verantwortung. Und für uns bleibt festzuhalten,
Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer,
dass der millionenfache Tod derer, die unter der Verantwor­
Entrechtete, Geschlagene.
tung der deutschen Wehrmacht starben, „eines der größten

In späteren Jahren haben in Westdeutschland und auch
deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs“ gewesen ist.
im wiedervereinigten Deutschland die Erinnerung an den
Viele wollten das nach dem Krieg noch sehr lange Zeit nicht
Völkermord an den Juden und die beginnende Scham darü­
wahrhaben. Aber spätestens heute wissen wir: Auch die
ber die Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen einfach
Wehrmacht hat sich schwerer und schwerster Verbrechen
überlagert.
schuldig gemacht.
Aus mancherlei Gründen ist dieses grauenhafte Schick­
Dabei sind doch die Verbrechen des Nationalsozialismus
zutiefst miteinander verbunden. Sie haben alle dieselbe
sal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie
Wurzel: Sie stammen aus der Vorstellung, dass auch unter
angemessen ins Bewusstsein gekommen – es liegt bis heute
Menschen nur das Recht des Stärkeren gelte und dass der
in einem Erinnerungsschatten. Das mag damit zu tun haben,
Stärkere das Recht habe, über das Lebensrecht der Ande­
Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kame­
glauben, dass er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft über­
dass die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Krieg vor
ren zu entscheiden, über Wert, über Unwert ihres Lebens.
rad.“ Dementsprechend sollten die Gefangenen behandelt
haupt überleben könnte. Alle sollten bis zum letzten Atem­
allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten gedacht
So wurden die Juden wie die Sinti und Roma ausgesondert,
werden, und das ist bei den Völkern der ehemaligen Sowjet­
zug kämpfen und sich auf keinen Fall ergeben. Das Schicksal
haben, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis
gedemütigt, ermordet, dann die Behinderten oder Homo­
union bis heute in unauslöschlicher Erinnerung.
derjenigen seiner Soldaten, die dann doch gefangen wurden,
1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden.
sexuellen. So wurden dann auch die Völker im Osten als
Als die Sowjetunion sich ganz zu Beginn des Krieges
war dem Obersten Befehlshaber vollkommen gleichgültig.
bereit erklärt hatte, über das Rote Kreuz mit dem Deutschen
Nun schauen wir auf die andere Seite. Auf der ande­
17
Das mag sicher auch daran liegen, dass die Schre­
„minderwertig“ diffamiert, weswegen man mit ihnen ohne
ckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch
Rücksicht auf Humanität und Menschenrechte, auch ohne
Reich eine Vereinbarung über die Behandlung der Kriegsge­
ren Seite dekretierte Stalin: Wenn ein sowjetischer Soldat
die Rote Armee vielen Deutschen den Blick auf die eigene
Rücksicht auf die Regeln des Völker- und Kriegsrechts ver­
fangenen zu schließen, da lehnte Hitler das brüsk ab – und
gefangen werde, habe er nicht bis zuletzt gekämpft, konnte
Schuld verstellten. Diejenigen, die wegschauen und sich
fahren dürfe.
er sorgte dafür, dass seine Ablehnung in Millionen von Flug­
gleichsam also nur desertiert sein, also irgendwie ein Verrä­
nicht erinnern wollten, sahen sich dann zudem später durch
Im Protokoll der Besichtigung eines Kriegsgefangenen­
blättern auch seinen Soldaten bekannt wurde. Denn er hatte
ter sein. Deswegen erwarteten bei Kriegsende sehr viele in
die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und
lagers durch Propagandaminister Goebbels hält ein Regie­
ein Ziel, und es war eindeutig: Kein deutscher Soldat sollte
die Heimat entlassene sowjetische Kriegsgefangene erneute
durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit
rungsbeamter fest:
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19
„Der Zweck der Fahrt sollte sein, […] einmal die in den
weswegen wir hier sind. Gedenksteine markieren Gräberrei­
historischen Kenntnisse erweitern. Wir müssen – zuerst und
Wochenschauen gezeigten Untermenschen in Natur vorzu­
hen, die längst von Gras bewachsen sind. Es scheint so, als
zuletzt – auch unser Herz und unsere Seele öffnen für das,
führen. […]
habe die vergangene Zeit fast jede sichtbare und fühlbare
was wir kaum glauben wollen. Es geht um eine wirkliche
Erinnerung an das ausgelöscht, was hier einst Menschen
Empathie, ein wirklich bewegendes, unser Inneres, unser
Menschen angetan haben.
Herz, unsere Seele bewegendes Gedenken.
Die Fahrt brachte insofern nicht das gewünschte Ergeb­
nis, als die Gefangenen fast durchweg Weißrussen waren
und daher durchschnittlich ein durchaus menschliches
Aussehen hatten. […]
So wie wir hier in Schloss Holte-Stukenbrock unsere
Ich danke heute ganz ausdrücklich allen dafür, die sich
Erinnerung und unser historisches Gedächtnis anstrengen
in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten für ein solches
müssen, damit wir auf dieser Grasfläche einen Schreckensort
immer neues Bewusstmachen und Einfühlen eingesetzt
und haben Tag und Nacht keinerlei Schutz vor dem Wetter.
für Hunderttausende Menschen erkennen können, so geht
haben. Es waren ehrenamtlich Engagierte, die Spuren aus­
Meines Erachtens werden diese Gefangenen sowieso hinter
es uns wohl überhaupt mit dem Eingedenken vergangenen
findig gemacht und Erinnerung wachgehalten haben.
ihrem Drahtzaun verrecken. […]“
Leids: Was spurlos verwehen sollte, das rufen wir in unser
Damit diese Erinnerung nicht verwelkt, darum gab und
Gedächtnis. Wenigstens vor unserem inneren Auge soll in
gibt es die Initiative „Blumen für Stukenbrock“, darum gibt
Das sind die Kennzeichen nationalsozialistischer Ideologie
Umrissen noch einmal aufscheinen, was hier furchtbare
es jetzt, dank unermüdlicher, überwiegend ehrenamtli­
und eben auch nationalsozialistischer verbrecherischer
Wirklichkeit war, was uns durch Fotos, Statistiken, Kartei­
cher Initiative die Dokumentationsstätte. Es gibt einen
Praxis.
karten, Erzählungen, Augenzeugenberichte unabweisbar
vorbildlich engagierten Förderverein, kundige Führungen
und unwiderlegbar sagt: Das ist hier geschehen, mitten in
und Ausstellungen. Angehörige von Opfern, die von weit
zer Zeit ganz normale Männer und Frauen, einmal mit dieser
Deutschland. Und es ist ja nicht irgendwie „geschehen“. Es
herkommen und nach Spuren der Erinnerung an ihre Väter
Ideologie vergiftet, zu Komplizen der Unterdrückungspraxis
wurde „gemacht“, es wurde „verübt“, planmäßig und mit
oder Großväter suchen, sie werden liebevoll betreut und
gemacht werden und manche sogar zu unbarmherzigen
bösem Kalkül und ewig unfassbar. Von Menschen, mit denen
begleitet.
Menschenschindern und Mördern werden konnten.
wir Sprache, Herkunft und Nationalität teilen, von Menschen,
Sie bekommen außerordentlich wenig Beköstigung
Hybris, Allmachtswahn, Herrenmenschentum, Zynismus:
Erschütternd ist immer noch, wenn wir sehen, in wie kur­
Wir stehen hier und erinnern an dieses barbarische
Unrecht und an die Verletzung aller zivilisatorischen Regeln.
Wir erinnern daran im Namen der Humanität, im Namen
deren Verbrechen heute Teil unserer Geschichte sind.
Wir müssen unseren Willen anstrengen, um die Wahrheit
auszuhalten, um nicht immer unwillkürlich zu denken: Das
der Gleichheit und der Würde, die unterschiedslos allem
kann doch unmöglich wahr sein – das, was hier im „Stalag
zukommt, was Menschenantlitz trägt. Im Namen der Men­
326“ und an Hunderten von anderen, über ganz Deutschland
schenrechte, die uns verpflichten, die uns binden und leiten
verteilten Orten menschenmöglich war – und was hier aber
und für deren Geltung wir eintreten, stehen wir hier.
doch tatsächlich stattgefunden hat.
Wir sind an einer Stätte versammelt, an der auf den
ersten Blick kaum etwas das Ausmaß dessen erkennen lässt,
Einer, der selber als Gefangener hier war, Leo Frankfurt,
Wir müssen aber nicht nur unseren Verstand anstrengen,
nicht nur unser Vorstellungsvermögen aktivieren und unsere
ist heute hier und wird gleich noch zu uns sprechen. Es
bewegt mich sehr, dass Sie hier sind, Herr Frankfurt. Es ist so


Kranzniederlegung von
Raissa Gorbatschowa
und Hannelore Kohl
auf dem sowjetischen
Friedhof Stukenbrock,
13.06.1989
Foto: dpa
© Volksbund
etwas wie ein gnädiges Geschenk an uns, es beschämt uns
und es beglückt uns gleichzeitig. Danke!
Und es sind unter uns Mitglieder der Familie Basanov,

deren Vater, Schwiegervater und Großonkel Basan Erdniev
Sowjetischer Friedhof
Stukenbrock, 1964
Foto: Willi Kammerer
© Volksbund
hier Lagerhäftling war und hier begraben ist. Wir haben eben
kurz innegehalten an der Stelle, an der Sie sich erinnern an
Ihren Vater. Auch für Ihr Kommen, liebe Familie Basanov,
20
V O L K S T R A U E R TA G 2 0 1 5
bedanke ich mich und freue mich sehr, dass Sie mich an
diesem Tag begleiten und unter uns sind.
Zu den Initiativen, die hier wertvolles Engagement
70 J A H R E K R I E G S E N D E
Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und
intensiv empfinden, dass die Toten für die Lebenden eine
Verpflichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach
beweisen, gehört auch die Geschichts-AG des Gymnasiums
dem Ende des Krieges, „Ja“ zu dieser Verpflichtung. Ver­
Schloss Holte–Stukenbrock. Es gibt das Anne-Frank-Projekt
sprechen wir uns gegenseitig, dass wir, was an uns ist, tun,
und das schulübergreifende Theaterprojekt. Alle diese
um ein menschenwürdiges und friedliches Leben für alle zu
jungen Menschen haben die Aufgabe übernommen, die Erin­
ermöglichen und zu beschützen.
21
GEDENKSTÄTTEN UND POLITISCHE BILDUNG
IN DEUTSCHLAND
Peter Steinbach
nerung weiterzutragen. Das gilt auch für die Polizeischüler,
die hier ausgebildet werden und die sich sehr genau bewusst
sind, was die Geschichte dieses Ortes bedeutet. Und gekom­
men sind heute auch junge Soldaten der Bundeswehr, für die
historisches Bewusstsein selbstverständlich ist.
Wie lässt sich in der gegenwartsbezo­
Menschenrechte als Ziel politischer
schutz. Menschliches Zusammenleben,
genen historisch-politischen Bildung
Gemeinschaft sind alt. Als Institution
das einst durch Aufklärung, Humanität
und an anderen, ähnlichen Orten in unserem ganzen Land,
die Grunderfahrung menschlicher
wurden Natur- und Menschenrechte
und Barmherzigkeit charakterisiert
diesen hartnäckigen, alltäglichen Widerstand gegen das
Existenz im 20. Jahrhundert, der oft
allerdings erst in der Neuzeit zur
werden konnte, erhielt am 10. Dezem­
Vergessen. Das ist gut so, das gehört zu unserer Kultur. So
beschworene „Zivilisationsbruch“
Grundlage des politischen Gemein­
ber 1948 mit der Allgemeinen Erklärung
sind heute auch Vertreter der Aktion Sühnezeichen/Frie­
vermitteln, der die Geschichte des
wesens. Ausdruck dieser Orientierung
der Menschenrechte durch die Vollver­
densdienste hier, auch Vertreter von Gegen Vergessen/Für
gesamten Jahrhunderts durchzieht?
ist der Artikel 1 des Grundgesetzes
sammlung der Vereinten Nationen eine
Demokratie und vom Deutsch-Russischen Museum Karls­
Anpassung, Folge- und Verfolgungs­
der Bundesrepublik Deutschland vom
Grundlage. Wenig später wurde auch
horst. Ihnen und den Vielen, die in unserem Land selbstlose
bereitschaft sind Elemente dieser
23. Mai 1949, in dem die Achtung und
der Völkermord geächtet.
Erinnerungs- und Gedenkarbeit leisten, danke ich heute
Grunderfahrung, die schließlich wenige
der Schutz der Menschenwürde zur
und hier ganz ausdrücklich. Sie helfen bei einer Aufgabe,
Jahre nach dem Ende des Zweiten
Grundlage aller staatlichen Gewalt wur­
eine neue Epoche beginnen und
die sich auch 70 Jahre nach Kriegsende noch stellt: auch
Weltkriegs in das geradezu allgemein
den. In der Tat war eine der ersten Kon­
die Konsequenz aus einem Schock
das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem
verbindlich gedachte, „universalisierte“
sequenzen, die die Menschheit Mitte
gezogen werden, der die Menschheit
Erinnerungsschatten herauszuholen.
Recht des Menschen auf ein Leben
des 20. Jahrhunderts aus dem Nieder­
ergriffen hatte. Allerdings war der
ohne Terror und Furcht und zugleich
gang ihrer Zivilisation ziehen wollte, die
Nationalsozialismus niemals allein eine
und Verderben gebracht hat, auf dem die Schreie, das Seuf­
auf seinen Anspruch auf die Entfaltung
Proklamation der Menschenrechte und
antizivilisatorische Bewegung. Dikta­
zen und das Stöhnen der geschundenen Leiber und Seelen
der eigenen Persönlichkeit in Würde
die Verpflichtung der internationalen
turen wurden unterschiedlich gerecht­
unsichtbar eingeschrieben bleiben.
und Freiheit mündete.
Gemeinschaft zum Menschenrechts­
fertigt – von links und rechts. Die Kritik
Es gab und gibt, dank der freiwilligen Initiativen hier
Nicht weit von hier stehen wir vor dem Gelände, das Tod
Mit diesen Proklamationen sollte
22
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23

zum Ziel mancher Verlegungen und
das ganze Spektrum von Verfolgungen,
gen sucht. In der Geschichte geht es
Ehrenhof der
Gedenkstätte
Deutscher Widerstand
© 2014 Gedenkstätte
Deutscher Widerstand
Todesmärsche. Es wurde zum Symbol
Widerständigkeiten, Selbstbehauptun­
aber nicht um die Verwirklichung des
des Schreckens. Ein Obelisk überragt
gen und die Entwicklung antitotalitärer
Himmels auf Erden. Das menschliche
bis heute ein Feld mit vielen Massen­
Maßstäbe widerspiegelt.
Zusammenleben muss vielmehr immer
gräbern, gleichsam ein „Stachel im
Die Antwort auf die grundsätzli­
wieder geregelt, der Mensch vor seinen
Fleisch der deutschen Nachkriegsge­
che Frage, ob ein neuer Maßstab im
Mitmenschen und vor den Vertretern
sellschaft“, wie Theodor Heuss bei der
politischen Miteinander der Menschheit
des Staates geschützt werden.
Einweihung des Mahnmals sagte.
durchgesetzt wurde, fällt mit dem Blick
Immer wieder prägten deshalb
auf die oftmals proklamierten angeb­
Katastrophen in der Geschichte das
an vielen Schreckensorten. Immer
lichen Lernprozesse der Menschheit,
kollektive Bewusstsein und das indi­
wieder drohten diese Orte jedoch in
die sich angeblich zum „Nie-wieder!“
viduelle Selbstwertgefühl. Deshalb
der Erinnerung abzusinken, verschüt­
verpflichtet, verhalten aus. Die meisten
haben Menschenrechte stets viele
tet, vernachlässigt zu werden. Seit
Kriege entwickeln sich aus Bürgerkrie­
historische Bezugspunkte. Begründen
den 60er-Jahren wurden dann immer
gen, ethnische Konflikte werden mit
sie sich naturrechtlich, so geht es um
häufiger Orte der Verfolgung und der
einer erschreckenden Unbedingtheit
die Verpflichtung politischen Handels
Schändung der Menschen umgestaltet.
ausgetragen, Völkermord bleibt eine
auf ewige, überzeitliche Normen. Sie
Gebäude wurde erhalten, Denkmäler
gegenwärtige Erfahrung. In der Tat
rechtfertigen sich nicht zuletzt durch
konnten errichtet werden, schließlich
klaffte im Hinblick auf Menschenrechte
überdimensionale Verfolgungs- und
entstanden Ausstellungen, die spezifi­
schon immer ein tiefer Widerspruch
Entrechtungserfahrungen. Geht es
sche, pädagogisch reflektierte Ange­
zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
hingegen um Grund- und Bürgerrechte,
so zielen sie auf die Abwehr staatlicher
Gedenkorte entstanden seitdem
des totalen Staates und der totalitären
reflektiert, die bald an den Orten der
bote eröffneten. Wurde aber in der Tat
Die Rechte des Menschen haben
Ideologie war die Folge. In der Tat hat­
Schrecken entstanden. Einer der ersten
eine neue Tradition der Erinnerung an
die Menschheit seit fast dreitausend
Willkür und Übergriffe aus der Mitte
ten totalitäre Bewegungen von rechts
Gedenkorte – noch ohne Ausstellung
Verfolgung durch den im Dezember
Jahren beschäftigt. Menschenrecht und
der Gesellschaft heraus. Diese Rechte
und links deutlich gemacht, wie wenig
– entstand in den frühen 50er-Jahren
1948 proklamierten neuen Maßstab
Gottesrecht, Recht der Polis und Natur­
lassen sich individuell begründen und
dazugehörte, aus Mitmenschen Gegen­
in Bergen-Belsen. Hier hatte zunächst
„Menschenrechte“ begründet? Welche
recht – dies ist ein Spannungsverhält­
deshalb an Mythen – etwa „Wilhelm
menschen zu machen.
ein großes Kriegsgefangenenlager
Rolle spielten dabei die Gedenkstät­
nis, das sich schon immer im Menschen
Tell“ – knüpfen. Abwehr- und Entfal­
Früh wurde das Erschrecken über
bestanden, dem ein sogenanntes Aus­
ten? Diese Frage zu beantworten, fällt
verkörpert. Die Utopie entpuppt sich
tungsrechte waren vor allem in der jün­
die destruktiven Bestrebungen tota­
tauschlager zugeordnet wurde. Gegen
mit Blick auf die „Gedenkstättenland­
dabei als der Todfeind des Zweifels; sie
geren Geschichte – seit Habeas Corpus,
litärer Bewegungen in Gedenkstätten
Kriegsende hin wurde Bergen-Belsen
schaft“ von Deutschland leicht, weil sie
rechtfertigt, wo jener nach Begründun­
der Bill of Rights, der amerikanischen
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Unabhängigkeitserklärung, der fran­
selten weniger als Konkurrenten oder
dert nimmt diese Gewalt an Energie zu,
zösischen Menschenrechtserklärung
politische Gegner, sondern als „Feinde“
denn sie speist sich aus Ideologien, die
und den Grundrechtskatalogen des
empfunden werden. Das Opfer ist nicht
Rechtsverletzungen legitimieren. Am
19. Jahrhunderts – Hauptinhalt allen
nur die Gruppe Andersdenkender,
Anfang steht der Versuch von Gruppen,
Nachdenkens politischer Philosophen
sondern der einzelne Mensch, des­
sich aus der Gesellschaft heraus des
über die Grundrechte als Begrenzun­
sen Gefährdung seine Schutzlosigkeit
Staates zu bemächtigen. Der nächste
gen staatlicher Macht und innergesell­
sichtbar macht. Gedenkstätten lassen
Schritt ist die Durchstaatlichung der
schaftlicher Willkür.
gerade die Schutzlosigkeit des Indivi­
Gesellschaft. Die Folge beider Prozesse
Nachdenken über Politik recht­
duums deutlich werden. Sie lenken den
ist die Zerstörung pluralistischer Struk­
fertigt sich aber niemals allein aus
Blick auf das Verhalten der Täter und
turen, die Homogenisierung von Kul­
der Abwehr. Es strebt zu Zielen, die
bereiten so die Würdigung des Einzel­
turen und schließlich die Vernichtung
programmatisch das gemeinschaft­
nen vor, der sich den Zumutungen der
menschlicher Vielfalt, die Zerstörung
liche Handeln der Gruppen prägen.
Mehrheit widersetzte.
der Freiheit als Voraussetzung mensch­
Wer ein Programm hat und es vertritt,
In der Tat lassen sich Gegner und
25

Gedenkstätte
Deutscher Widerstand,
Dauerausstellung,
Themenbereich 07
„Georg Elser und
das Attentat vom
8. November 1939“
© 2014 Gedenkstätte
Deutscher Widerstand
licher Würde. Auch dieser Mechanismus
grenzt sich zugleich von allen ab, die
Feinde einer totalitären Herrschaft
ist alt. Offenbar sitzt die Furcht des
dieses nicht teilen. Deshalb hängt
beliebig definieren und der Willkür
Menschen vor dem Mitmenschen, den
mit aller Politik ein Paradox zusam­
ausliefern: politisch, ethnisch, religiös,
er als „anders“, „fremd“ oder „rätsel­
men. Die vollmundige Proklamation
kulturell, ideologisch. Gemeinsam
haft“ empfindet, sehr tief. Deshalb
hehrer Zukunftsvorstellungen geht in
ist ihnen, dass jeder potenziell in der
geht es bei Menschenrechten niemals
Gesellschaft. Dies kommt im Wider­
waren das Ergebnis gesellschaftlicher
samen Utopien von einer homogenen
der Regel mit der Ausgrenzung und
Gefahr stehen kann, gewaltsam ausge­
allein um das Recht des Individuums
standsrecht des Grundgesetzes zum
und politischer Verhaltensweisen, die
Gesellschaft. Die Protagonisten dieser
schließlich mit der Bekämpfung und
grenzt, verfolgt, vertrieben zu werden.
gegenüber dem Staat, sondern auch
Ausdruck. In der Tat kann neben staat­
sich auf ursprünglich emanzipatori­
Angst waren die Diktatoren des Jahr­
Verfolgung anderer einher, die nicht
Im 20. und auch in unserem Jahrhun­
um sein Existenzrecht innerhalb der
liche Unterdrückung die innergesell­
sche Werte wie „Freiheit, Gleichheit,
hunderts. Sie wollten die geschichtliche
schaftlich manifestierte Gewalt treten.
Brüderlichkeit“ bezogen und einen
Entwicklung an ihren Endpunkt führen,
Und tatsächlich ist die Geschichte der
ausgeprägten zivilgesellschaftlichen
eine neue Gesellschaft mit neuen Men­
Neuzeit auch geprägt durch die Verlet­
Anspruch hatten. Die „Vielfalt der
schen schaffen, sei es um den Preis der
zung von Minderheitenrechten.
Menschen“ wurde dabei als das Größte
Vernichtung der Menschheit, ihrer Kul­
beschworen, was die Entwicklung der
tur, ihrer Traditionen, ihres Glaubens.
„Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts markierten
ohne Zweifel den Tiefpunkt menschlicher
Geschichte.“
Die Katastrophen des 20. Jahrhun­
derts markierten ohne Zweifel den
Menschheit hervorgebracht hätte – und
Die deutschen Gedenkstätten
Tiefpunkt menschlicher Geschichte. Sie
dennoch erlagen sie aus Angst gewalt­
verdeutlichen die Vielfalt nationalso­
26
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zialistischer Gewaltverbrechen: die
bleiben. Gedenkstätten historisieren
lichkeit, die das 20. Jahrhundert von
nen und Diffamierten, die Leidenden
nichts gesehen und nichts gewusst zu
Interesse gefunden. In diesem The­
politische Verfolgung und kulturell
nicht, sondern sie vergegenwärtigen,
der Jugendbewegung, dem Jugendstil
wieder neu in den Blick und dienen
haben. Tatsächlich bestimmen immer
menbereich spiegeln sich nämlich nicht
motivierte Vertreibung, Rassenhass,
aktualisieren, beziehen uns in Bilder
und der neuen Sachlichkeit über die
nicht selten der Bildung neuer Tradi­
wieder die Überlebenden die Deutun­
nur die vergangenen Ereignisse an sich,
Übergriffe, Verbrechen an sogenannten
und Entwicklungen ein, die Tag für Tag
Revolutionen prägt. Der politische
tionen. Dabei knüpfen die Menschen
gen. Denn die Leidenden sind „unter
sondern die Vergangenheit dient nicht
„Geisteskranken“, an Sinti und Roma,
mit den Nachrichten von Verfolgungen
Bruch wurde kaschiert und mündete
in postdiktatorischen Zeiten oft an die
die Räder“ geraten, umso mehr und
zuletzt dazu, gegenwärtige Probleme
Zwangsarbeitern und Kriegsgefan­
und Massenmorden ins Blickfeld treten,
dennoch oftmals in den Zivilisations­
Erfahrungen an, die auf die Lebensver­
umso leichter, als es so wenige gab,
politischen Zusammenlebens prinzipiell
genen, die Verbrechen des Völker­
gleichsam zurückkehren können.
bruch, wenngleich er mit ganz unter­
hältnisse in diktatorischen Systemen
die auch nur willens und bereit waren,
zu deuten. Mit dem Widerstand rückt
schiedlicher Stoßrichtung verkündet
und die Selbstbehauptung in ihren
dem „Rad in die Speichen“ zu greifen.
ein zeitgeschichtlicher Themenkomplex
mords. Sie verorten diese Übergriffe
Zur entscheidenden Frage wird
in mehrfacher Weise: Verbrechen und
vor diesem Hintergrund historischer
wurde, bis hin zu den Proklamationen
sozialen und traditionalen Umbrüchen
Diejenigen, die gelitten haben, werden
in den Blick, der eine starke Orientie­
Übergriffe werden benannt, den Opfern
Erfahrungen und gegenwärtiger Her­
eines „neuen Menschen“, einer „neuen
verweisen. Ohne Gedenkstätten wäre
oft als Opfer bezeichnet. Regimegegner
rungskraft für die Nachlebenden besitzt
wird auf diese Weise Mitgefühl gezollt.
ausforderungen, wie das Individuum
Gesellschaft“, eines „neuen Staates“.
dieses Ziel nicht zu erreichen. Denn sie
empfanden sich keineswegs so. Dies
und deshalb in besonderer Weise die
Sie machen die Breite einer ideolo­
davor bewahrt wird, durch Auslieferung
sorgen durch die Verortung von Ver­
prägte eindrucksvolle Persönlichkeiten
Zusammenhänge zwischen aktueller
gisch begründeten Zerstörung des
an andere Menschen seine Individua­
quenzen derartiger Proklamationen
folgungen und Übergriffen dafür, dass
wie Dietrich Bonhoeffer. Er bekannte
Deutung einerseits und andererseits
„menschlichen Antlitzes“ deutlich, wie
lität und Würde zu verlieren. Können
auf. Sie sind insofern wichtige Fix­
sich Gesellschaften bewusst machen,
sich zu seiner Verantwortung, zur
wissenschaftlicher Erforschung und
Karl Jaspers früh betonte. Sie verorten
Gedenkstätten einen Beitrag dazu
punkte einer antitotalitären politischen
welche Gefahrenpotenziale sie selbst
Freiheit seiner Tat, und er beklagte sich
Interpretation der Geschichte spiegelt.
aber auch, indem sie Ausgangspunkte
leisten, in der Konfrontation mit der
Bildung, die eine antidiktatorische
bergen. Besonders deutlich wird dies in
nicht. Hinterlassen hat er uns – wie
dieser Übergriffe räumlich fixieren. Die
Leidens-, der Verfolgungs-, der Opfer-
Stoßrichtung hat. Denn den reinsten
den Gedenkstätten zur Erinnerung an
andere Regimegegner auch – eindring­
auf die ersten politischen Verfolgungs­
Übergriffe erfolgten aus der Mitte der
und der Tätergeschichte Maßstäbe aus
Ausdruck einer scheinbar demokratisch
die Verfolgung der südwestdeutschen
liche Reflexionen, die deutlich machen,
maßnahmen der Nationalsozialisten.
Gesellschaft. Zerstörungen veränder­
zeitgeschichtlichem Bewusstsein zu
legitimierten politischen Absicht, die
Juden. Aus der Mitte ihrer Lebensbe­
wie es gelingen konnte, sich den
Die Erinnerung an ihn verlangt zugleich
ten Orte tief greifend, Vertreibungen
entwickeln und zum Bestandteil einer
überkommenen Verhältnisse in fast
züge herausgerissen, wird deutlich,
Zeitströmungen zu entziehen, ohne
immer auch die Auseinandersetzung
rissen Wunden, die nicht mehr verheil­
Persönlichkeit zu machen, die sich zu
jeder Hinsicht zu ändern, findet man in
dass Unrecht zur Enthausung des
sich in die Nische zu flüchten. Hier wird
mit dem Völkermord, der mit „Ausch­
ten – und an die nur die Erinnerung
den Menschenrechten bekennt?
der modernen Diktatur, die eine „Mas­
Menschen, zu seiner Vertreibung führt.
exemplarische Existenz sichtbar, die in
witz“ seinen Namen bekommen hat.
Auch hier fällt die Antwort ver­
sendiktatur“ ist. Ihre Anhänger treten
Und zugleich bleibt spürbar, welche
der historisch-politischen Bildung ins
Auschwitz, das war der Zivilisations­
Verbrechen konfrontiert. Wir spiegeln
halten aus. Denn der Wunsch, das
an, um die Gesellschaft zu politisieren
Vorteile die Zurückgebliebenen suchen,
Blickfeld der Nachlebenden – unseren
bruch, aus dessen Schatten sich kein
geradezu unser Verhalten in diesen
Überkommene zu überwinden und das
und zu polarisieren, sie wollen sich des
indem sie sich an den zurückgelasse­
Mitlebenden – gerückt werden kann.
Staat der Welt mehr befreien konnte.
Übergriffen, die Ausdruck menschlicher
Neue sogar mit angeblich demokrati­
Staates bemächtigen, ihn gleichsam
nen Gütern bereichern wollen.
Gedenkstätten zur Erinnerung an
Gedenkstätten machen deutlich, was
Geschichte sind und deshalb auch Teil
schen Mitteln durchzusetzen, ist ein
vergesellschaften.
unserer eigenen Vergangenheit und
Grundzug politischer Unbedingtheit
unseres Potenzials in der Gegenwart
und Rücksichtslosigkeit, ja Unmensch­
bleibt. Dadurch werden wir mit den
Gedenkstätten zeigen die Konse­
Erst nach dem Ende von Diktaturen
rücken die Verfolgten, die Unterlege­
Gedenkstätten entreißen so die
Der Widerstand reagierte bereits
Widerstand und Selbstbehauptung
verloren ging, als Juden aus der Mitte
Deutung der Vergangenheit immer
haben in der öffentlichen postdiktatori­
der deutschen Gesellschaft, aus ihren
wieder denjenigen, die sich einreden,
schen Diskussion stets ein besonderes
Orten, Schulen, Krankenhäusern,
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70 J A H R E K R I E G S E N D E

Volkstrauertag 1993.
Kranzniederlegung,
Neue Wache, Berlin
Foto: Presse- und
Informationsamt der
Bundesregierung
© Volksbund
Geschichtsbetrachtung entgegenzu­
stecken wir mittendrin. Es geht um das
in Auseinandersetzung mit der gleich­
kommen, sondern die Vergangenheit
berühmte „Nie-wieder!“ und zugleich
zeitigen zweiten deutschen Diktatur
in die Gegenwart zu integrieren. Die
um mehr: Um unsere Fähigkeit, unsere
eine erstaunliche Überzeugungskraft
Gedenkstätten werden getragen von
Empörungsbereitschaft zu wecken,
entwickelte. Eine Neuauflage der Dik­
bürgerschaftlichem Engagement, aber
um die Kraft zum „stellvertretenden
tatur sollte verhindert werden. Deshalb
auch politisch unterstützt. Trauerarbeit
mitmenschlichen Handeln“, das den
bekennt sich das Grundgesetz gegen
ist keine Unterwerfung, sondern Stolz­
gebürtigen Stuttgarter, selbst zur
die totalitäre Diktatur, die ihren welt­
arbeit. Sie kann wirklich stolz machen,
Emigration gezwungenen und späteren
anschaulichen Führungsanspruch mit
weil sich Orte, Einwohner, Schulen und
hessischen Generalstaatsanwalt Fritz
terroristischen Mitteln durchsetzt. Im
Gruppen ihrer Geschichte stellen und
Bauer umtrieb, der wie nur wenige die
Grundgesetz findet sich so eine Fülle
das Maß ihrer eigenen Gefährdung in
Fähigkeit verkörperte, Menschenrechte
verarbeiteter Erfahrungen aus zwei
der Gegenwart ausloten wollen.
zum Maßstab und zur Richtschnur
Diktaturen. Nicht nur die Stellung der
alltäglichen politischen Verhaltens zu
Grundrechte macht deutlich, dass nach
tun. Die Allgemeine Erklärung der
machen. Er fand sie begründet in der
einer Epoche der Menschenrechts­
Menschenrechte im Jahr 1948 war kein
Geschichte und ihren Kämpfen für
verletzungen ein besonderer Akzent
Endpunkt einer Entwicklung, sondern
Menschen-, Grund- und Bürgerrechte.
gesetzt werden konnte. Auch Normen
nur ein Anfang. Wer sich die Fülle der
In der Gegenwart sah er sie legitimiert
der Regierungsbildung, des Wahlrechts,
Konventionen, Verträge und Über­
durch die Verfassung.
der Rechtfertigung von Parteien als
Dennoch bleibt weiterhin viel zu
Kanzleien, Praxen, Universitäten und
nale Gemeinschaft eine große Chance.
Gerichten entfernt wurden.
Herrscher, Tyrannen zumal, mögen
sollen in der Tat, wie Theodor Heuss
erlassen wurde, mag das erkennen.
zu den europäischen Verfassungen, die
Konzept der streitbaren Demokratie
haben sich bewährt.
Wenn es stimmt, dass das eigent­
Gedenkstätten beruhigen nicht. Sie
29
einkommen anschaut, die seit 1948
Das Grundgesetz gehört in der Tat
Faktoren der Willensbildung oder das
fest davon überzeugt sein, dass die
andeutete, ein „Stachel im Fleisch der
Wer Menschenrechte verteidigt, sollte
schon wenige Jahre nach Kriegsende
liche politische Problem des Men­
Menschen weder einen eigenen Wert
deutschen Nachkriegsgesellschaft“
deshalb nicht nur auf die Vergan­
eine gültige Antwort auf die Erfahrung
Weil Traditionen, die auf zeitge­
schen nicht die Frage nach der guten
noch eine spezifische Würde haben. Sie
sein. Sie leisten einen wichtigen Beitrag
genheit verweisen. Er sollte vielmehr
mit einem totalen Staat geben wollten.
schichtliche Erfahrungen gründen sol­
Ordnung, sondern der Schutz vor der
mögen in ihnen Untertanen und Aus­
zur Maßstabsbildung, zur inneren
wissen, dass der 10. Dezember 1948
Dies war die Chance des Parlamenta­
len, von den Nachlebenden erarbeitet
schlechten Ordnung, vor dem tyran­
gelieferte sehen, die sie benutzen, um
Konditionierung unserer Wertvorstel­
nur einen Anfang markiert, dass wir
rischen Rates. Er nutzte sie, indem er
werden müssen, brauchen wir Gedenk­
nischen Herrscher, vor gewaltsamer
ihren eigenen Interessen zu dienen. Sie
lungen, zum Misstrauen gegenüber
seitdem mitten in viele Menschen­
das Bekenntnis zur Würde des Men­
stätten. Sie erinnern an die schreck­
Unterwerfung und Unterdrückung ist,
werden irgendwann erfahren, dass sie
uns selbst. Das bleibt die aktuelle
rechtsverletzungen verstrickt sind, als
schen an den Anfang eines Verfas­
lichen Möglichkeiten des Menschen.
dann bietet die Ausweitung des Men­
gerade mit dieser Haltung an Grenzen
Herausforderung der Gedenkstätten,
Zuschauer, als Nutznießer, als Gleich­
sungstextes stellte, der Übergang sein
Alles ist weiterhin möglich. „Auschwitz
schenrechtsschutzes auf die internatio­
stoßen.
gerade nicht einer antiquarischen
gültige. In der Tat: In dieser Geschichte
sollte und erst durch seine Bewährung
war nicht,“ sagte Adorno, „Auschwitz
30
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31
REDE
ist“. Dass alle „Nie-wieder!“-Appelle
müssen, weil wir Menschen sind. Sie
keine tatsächliche Änderung im
macht deutlich, in welchem Maße die
politisch-mitmenschlichen Umgang
Geschichte der Diktaturen Ausdruck
belegen, zeigte sich in Europa vor
einer anthropologisch zu erklärenden
wenigen Jahren auf dem Balkan. Es
Gefahr ist, die sich durch Gedenkstät­
zeigt sich heute in der Jagd auf Mit­
ten nicht aufheben, aber vielleicht bes­
menschen anderer Hautfarbe in einigen
ser beherrschen lässt. Insofern leisten
Regionen Deutschlands. Die Übergriffe
Gedenkstätten einen wichtigen Beitrag
gegen Mitmenschen waren nicht, sie
zur Entwicklung eines antitotalitä­
sind. Deshalb bleiben Gedenkstätten
ren Grundverständnisses, das seinen
ein notwendiger „Stachel im Fleisch“.
positiven Bezugspunkt in verfassungs­
Sie tun weh. Sie machen nicht nur
orientierten Wertvorstellungen und
deutlich, was verloren geht, wenn wir
Handlungsregulativen findet. In der
Mitmenschen als Gegenmenschen
Tat mahnt jede Gedenkstätte, dass die
wahrnehmen. Sie konfrontieren uns
Würde des Menschen unantastbar ist.
mit unserer Geschichte und zugleich
Insofern richten sie sich an Menschen,
mit unseren Möglichkeiten. Denn
die innerhalb ihrer eigenen Gesellschaft
durch die Geschichte ideologisch
agieren. Zugleich aber erinnern sie an
gerechtfertigte Übergriffe sind Teil der
die Verpflichtung des Staates und aller
im Zweiten Weltkrieg haben 55 Millio­
ist er ein Tag des mahnenden Geden­
menschlichen und insofern Bestandteil
seiner Organe, die Würde des Men­
nen Menschen ihr Leben verloren. Das
kens vor den Auswirkungen von Krieg
unserer jeweils eigensten Geschichte.
schen zu achten und zu schützen. So
sind in sechs Kriegsjahren 17 Menschen
und Gewalt.
Deshalb spiegeln Gedenkstätten nicht
gesehen leisten Gedenkstätten einen
pro Minute – alle drei Sekunden ein
die Vergangenheit, sie reflektieren
entscheidenden Beitrag zur Zivilisie­
Opfer! Dieses unsagbare Leid darf
rechtzuerhalten – gerade weil persön­
unser Wollen, unsere Maßstäbe in der
rung der politischen Macht und zur
sich nicht wiederholen. Wir müssen
liche Betroffenheit und Erfahrung mit
Geschichte.
Selbstzivilisierung der Gesellschaft.
alles daran setzen, dass ein derartiges
dem zeitlichen Abstand immer mehr
Unrecht nicht noch einmal geschehen
schwinden und es immer weniger Zeit­
kann.
zeugen gibt. Wir dürfen das Gesche­
Die Verschränkung von möglicher
Verfolgung und innergesellschaftlicher
Prof. Dr. phil. Peter Steinbach, geboren 1948, ist
wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte
Deutscher Widerstand in Berlin und hat zahlreiche
Arbeiten zum deutschen Widerstand und zum
Nationalsozialismus vorgelegt.
des Bayerischen Staatsministers des Innern,
für Bau und Verkehr, Joachim Herrmann,
anlässlich der zentralen Landesfeier zum Volkstrauertag
Quelle
Prof. Dr. Peter Steinbach „Gedenkstätten und poli­
tische Bildung in Baden-Württemberg“
(leicht gekürzte Version)
In: „Orte des Gedenkens und Erinnerns in BadenWürttemberg“, hrsg. von Konrad Pflug, Ulrike RaabNicolai, Reinhold Weber, Schriften zur politischen
Landeskunde Baden-Württembergs, Band 35,
hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung
Baden-Württemberg, 2007.
mit anschließender Kranzniederlegung
am 17. November 2013 in München

© Bayerisches Staats­
ministerium des Innern,
für Bau und Verkehr
Meine sehr geehrten Damen und
Bestandteil unserer Erinnerungskultur.
Herren,
Indem er uns das dunkelste Kapitel
unserer Geschichte ins Gedächtnis ruft,
Und diese Erinnerung gilt es auf­
Ausgrenzung rückt uns die Gefähr­
Das Gedenken an die zahlrei­
hene auf keinen Fall vergessen. Denn
dung vor Augen, mit der wir leben
chen Todesopfer ist ein wesentlicher
nur wer erinnert, kann aus dem Ver­
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gangenen lernen. Nur so machen wir
Sinnen die aktuellen Geschehnisse ver­
2001. Auch der Opfer dieses Fanatis­
seinem Einsatz für die europäische
die Jugendlichen zur kritischen Ausein­
die gleichen Fehler nicht noch einmal.
folgen und rechtzeitig gegensteuern,
während des Bürgerkriegs in Libyen
mus der Taliban und al Qaida gedenken
Sache. Wir alle können stolz darauf
andersetzung mit Krieg und Gewalt und
wenn sich die Geschichte zu wiederho­
ums Leben (Angabe der neuen liby-
wir heute.
sein, in Europa zu leben und Teil dieser
deren Ursachen und Folgen auffordert,
len droht.
schen Regierung). Seither stehen
Friedensunion zu sein. Wir dürfen die
sendet er eine entscheidende Frie­
Die Erinnerung hält uns zum Inne­
halten, Überdenken und Reflektieren
an. Und damit öffnet sie uns auch den
Denn sonst verhält es sich wie bei
• Etwa 10 000 Menschen kamen
weite Teile des Landes unter der
Meine Damen und Herren, hier in
EU nicht auf eine stabile Währung und
densbotschaft an die nachfolgenden
Blick für die Gegenwart und Zukunft –
einem Feuer, das sich zu einem Flä­
Kontrolle von Revolutionsbriga­
Europa haben wir das Glück, seit mitt­
kommerzielle Interessen reduzieren.
Generationen aus.
jedenfalls wenn man die richtigen
chenbrand ausweitet und alles zerstört,
den. Die Lage ist hier immer noch
lerweile über 60 Jahren in Frieden leben
Schlüsse daraus zieht.
wenn wir nicht aufpassen und es in
angespannt.
zu können. Die meisten von uns haben
wir für unsere nachfolgenden Gene­
aufs Herzlichste. Fast 3 000 Mitbürge­
Vor wenigen Wochen haben wir
Und dieses „hohe Gut“ müssen
Dafür danke ich dem Volksbund
seinen Anfängen bekämpfen. Und wie
• Oder der Syrienkonflikt: Hier dauern
Krieg, Hunger und Elend nie kennenge­
rationen bewahren. Wir müssen uns
rinnen und Mitbürger setzen sich beim
der sogenannten Völkerschlacht bei
schnell das passieren kann, hat unsere
die blutigen Auseinandersetzun­
lernt. Das ist ein großes Privileg. Nach
der Verantwortung stellen und dür­
Landesverband Bayern ehrenamtlich
Leipzig vor 200 Jahren im Oktober 1813
eigene Geschichte geschrieben. Wir
gen bis heute an. Während Armee
zwei Weltkriegen ist es gelungen, den
fen sichtbaren Fehlentwicklungen
für den Frieden ein. Und knapp 83 000
gedacht. An den Sieg über Napoleon
haben gesehen, wie schnell Nationalis­
und Rebellen noch um jeden Meter
Weg der Versöhnung und des Friedens
gegenüber nicht gleichgültig bleiben.
Spender unterstützen seine wertvolle
hat man auch vor 100 Jahren, 1913,
mus, Rassismus und totalitärer Fana­
kämpfen, sterben schon einige
einzuschlagen.
Das darf sich aber nicht nur auf den
Arbeit. Auch ihnen gilt heute mein
erinnert. Damals aber eben nicht mit
tismus in Krieg münden können. Nicht
Menschen vor Hunger.
heutigen Tag beschränken, wenn wir an
Dank.
dem Entschluss eines „Nie-wieder“
von ungefähr haben wir vor acht Tagen
• Und in Afghanistan ist die Sicher­
pas Garanten des Friedens und der
unseren Kriegsgräbern stehen. Diese
solchen Gemetzels, sondern mit einer
der Schrecken der Reichspogromnacht
heitslage trotz des langjährigen
Freiheit. Trotz ihrer Schwächen und
immerwährende Verpflichtung muss
gemeinsam an der Versöhnung und
für uns heute kaum begreifbaren
vor 75 Jahren, am 9. November 1937,
Einsatzes nicht so gut wie erhofft.
Begeisterung, schon ein Jahr später,
gedacht, liebe Frau Knobloch.
Heute sind die Staaten Euro­
Lassen Sie uns auch weiterhin
Unvollkommenheiten ist der Europä­
auch in unserem Alltag präsent sein
Verständigung der Völker arbeiten. Hier
Auch zahlreiche deutsche Soldaten und
ischen Union ein einzigartiges Werk
und uns dazu anhalten, eine Gesell­
in Bayern und in der ganzen Welt! Die
Polizisten haben bei dieser Friedens­
der Völkerverständigung gelungen.
schaft aufzubauen, die von Toleranz,
Arbeit an Frieden und Gerechtigkeit
Meine Damen und Herren, Frieden ist
mission ihr Leben riskiert, um den
Das geeinte Europa hat sich von einem
gegenseitiger Achtung und Humanität
geht uns alle an. Treten wir also vereint
derlage Deutschlands wurde 1918/1919
leider auch heute noch keine Selbst­
Aufbau des Staates zu unterstützen
Kontinent der Kriege zur Friedensunion
geprägt ist.
für ein harmonisches und tolerantes
formal Friede geschlossen, aber eine
verständlichkeit. Nach wie vor gibt es
und den Menschen dort ein Leben in
entwickelt.
echte Versöhnung wurde versäumt.
Krieg, Hass und Gewalt auf dieser Welt.
Frieden und Freiheit zu ermöglichen.
Und darin lag letztlich bereits der Keim
Diese Schrecken gehören nicht der
54 kamen dabei ums Leben. Unser
für den nächsten noch grausameren
Vergangenheit an. Sie sind auch heute
Krieg.
noch Geißeln unseres menschlichen
Zusammenlebens.
im Spätsommer 1914, in einen neuen
großen Krieg zu ziehen. Nach der Nie­
Gedenken und Erinnerung müssen
uns deshalb eine Mahnung für die
Zukunft sein. Wir müssen mit wachen
Denken Sie nur an die Brennpunkte
im Nahen Osten:
Für ihren Einsatz um Frieden, Ver­
Dazu trägt der Volksbund Deutscher
Miteinander ein. Denn: „Jeder Krieg
Kriegsgräberfürsorge e. V. in großem
ist eine Niederlage der Menschheit.“
söhnung, Demokratie und Menschen­
Umfang bei. Er pflegt nicht nur unsere
(Papst Johannes Paul II. anlässlich des
Gedenken gilt heute auch ihnen! Unsere
rechte wurde die EU im letzten Jahr mit
Kriegsgräber, die als Lernstätten der
2. Golfkriegs 2003)
Bundeswehrkameraden sind dort mit
dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Geschichte gute Mahnmale für den
Soldaten vieler Nationen im Auftrag der
Diese Anerkennung gilt aber nicht
Frieden und gegen das Vergessen sind.
Vereinten Nationen als Reaktion auf
nur den europäischen Institutionen,
Er hält vor allem durch seine Jugendar­
die Terroranschläge vom 11. September
sondern jedem einzelnen Bürger und
beit die Erinnerung lebendig. Indem er
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ZITATE
AUS REDEN
70 J A H R E K R I E G S E N D E
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Aus der Rede des Historikers Prof. Dr. em. Heinrich August
Winkler, gehalten am 8. Mai 2015 im Bundestag
Sehr zögernd nur kam die strafrechtliche Aufarbeitung
nationalsozialistischer Kriegsverbrechen und namentlich
der Schoah durch deutsche Gerichte, beginnend mit dem
Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958, in Gang. Und noch
1986 musste jene öffentliche Auseinandersetzung geführt
werden, die als „Historikerstreit“ in die Annalen der bundes­
republikanischen Geschichte eingegangen ist: eine Debatte
über den historischen Ort des nationalsozialistischen
Judenmordes – eines Genozids, der den britischen Kriegs­


Freiluftausstellung zum Gedenkund Informationsort für die
Opfer der nationalsozialistischen
„Euthanasie“-Morde
© Stiftung Denkmal,
Foto: Marko Priske
Denkmal für die im
Nationalsozialismus ermordeten
Sinti und Roma Europas
© Stiftung Denkmal,
Foto: Marko Priske
premier Winston Churchill in einem Brief an seinen Außen­
minister Anthony Eden vom 11. Juni 1944 zu der Feststellung
veranlasste: „Es besteht kein Zweifel, dass es sich hier um
das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen
der ganzen Weltgeschichte handelt, das von angeblich
land je wieder zu einem geachteten Mitglied der Völker­
aber dieses Ereignis und seine Folgen ermöglicht hat. Sich
zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und
gemeinschaft werden können?
dieser Geschichte zu stellen, ist beides: ein europäischer
eines führenden Volkes Europas mit wissenschaftlichsten
Mit dem Selbstverständnis eines Staatenverbundes wie
Imperativ und das Gebot eines aufgeklärten Patriotismus.
Mitteln verübt wird.“ Viele Deutsche hatten einen langen und
der Europäischen Union ist die Hegemonie eines Landes
Um es in den Worten des dritten Bundespräsidenten Gustav
schmerzhaften Weg zurücklegen müssen, bevor sie diesem
unvereinbar. Dem wiedervereinigten Deutschland fällt
Heinemann aus seiner Rede zum Amtsantritt am 1. Juli 1969
Urteil eines ehemaligen Kriegsgegners rückblickend zustim­
innerhalb der EU schon aufgrund seiner Bevölkerungszahl
zu sagen: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist
men konnten. Aber wären sie nicht bereit gewesen, sich der
und seiner Wirtschaftskraft eine besondere Verantwortung
Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“
einzigartigen Monstrosität des Holocaust, der Ermordung der
für den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung dieser
Sinti und Roma, der Ermordung von Zehntausenden geistig
supranationalen Gemeinschaft zu. Dazu kommt die Verant­
behinderter Menschen sowie zahllosen Homosexuellen und
wortung, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt. Es ist
der Verantwortung für schrecklichste Kriegsverbrechen in
eine an Höhen und Tiefen reiche Geschichte, die nicht auf­
den von Deutschland besetzten und ausgebeuteten Ländern
geht in den Jahren 1933 bis 1945 und die auch nicht zwangs­
Europas zu stellen, wie hätte die Bundesrepublik Deutsch­
läufig auf die Machtübertragung an Hitler hingeführt, wohl
Die vollständige Rede finden Sie auf der Homepage des Bundes­
tages: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/
kw19_gedenkstunde_wkii_rede_winkler/373858
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Aus der Gedenkrede zum Volkstrauertag von Avi Primor,
Aus der Gedenkrede des Präsidenten des Bundesverfas-
Botschafter des Staates Israel a. D., am 16. November 2014
sungsgerichts, Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, am 17. November 2013 in der Gedenkstunde zum Volkstrauertag im

Volkstrauertag 2014.
Gedenkveranstaltung
im Deutschen Bundes­
tag. Ansprache von
Markus Meckel
Foto: Uwe Zucchi
© Volksbund
Aus der Begrüßung des Präsidenten des Volksbunds,
Zu den Grundregeln des Rechtsstaates gehört die Über­
Dennoch stellt sich die Frage, was ein Israeli heute in Berlin
Deutschen Bundestag
am Volkstrauertag betrauert. Ich zitiere den Bundesprä­
sidenten Roman Herzog: „Wir trauern heute um die Toten
Wir trauern heute nicht nur um die Kriegsgefallenen, wir
aller Völker, die unter beiden Weltkriegen gelitten haben. Wir
trauern um jedes einzelne Opfer von Krieg und Gewalt. Und
trauern um die Opfer des Terrorismus, der politischen Verfol­
weil uns jeder Einzelne am Herzen liegt, sind wir auch jeder
gung, der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage. Wir trauern,
selbst ein Stück weit verantwortlich dafür, dass Frieden,
doch wir leben in der Hoffnung auf Versöhnung unter den
Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Menschlichkeit nicht
Menschen und Völkern und auf Frieden in der Welt.“ Damit
nur schöne Worte bleiben, sondern gelebte Werte sind, für
kann ich sehr gut zurechtkommen, sehr gut.
die wir uns einsetzen und für die wir uns starkmachen. Wir
Die Frage ist, was bedeutet eigentlich Trauer? Trauer hat
können die Toten nicht zurück ins Leben holen, wir können
Markus Meckel, zur Gedenkstunde am Volkstrauertag im
zeugung, dass auch der Straftäter seine Würde als Mensch
etwas mit Erinnerung zu tun. Und was bedeutet Erinnerung?
ihnen aber versprechen, mit aller Kraft zu versuchen, das
Deutschen Bundestag, am 16. November 2014
nicht verliert. Auch der, der sich schwer schuldig gemacht
Es gab den spanischen Dichter Jorge Santayana, der sagte:
Leben in Frieden und Freiheit zu schützen. Das werden
hat, verdient ein Grab. Auch er hat eine Familie, die um ihn
„Wer sich an seine Vergangenheit nicht erinnern will, der ist
wir nur gemeinsam in einem vereinigten Europa schaffen,
Dort [auf den Kriegsgräberstätten] sind Soldaten und Zivilis­
trauert – und ein Recht darauf hat. Eine solche Aussage rela­
dazu verdammt, sie wieder durchleben zu müssen.“ Oder
in einem Europa des gegenseitigen Respekts, der gegen­
ten aller Schichten und Geistesrichtungen beerdigt, über­
tiviert nichts, Unrecht und Verbrechen bleiben, was sie sind.
es gab den jüdischen Geistlichen Baal Shem Tov, der im
seitigen Zuneigung und der gegenseitigen Solidarität. Auch
zeugte Nazis wie ihre Gegner, Menschen, die mit Begeiste­
Aber sie beschreibt eine Aufgabe. In einer Zeit, in der die
18. Jahrhundert feststellte: „In der Erinnerung befindet sich
daran wollen wir uns an diesem Volkstrauertag erinnern.
rung oder widerwillig in den Krieg zogen – und die meisten
Erlebnisgeneration immer kleiner wird, verlieren die Kriegs­
die Erlösung.“ Das ist Volkstrauertag!
von ihnen hatten keine Wahl. Viele waren sehr jung. Wie
gräber zunehmend ihre Bedeutung als Orte persönlicher
sie sich dann jeweils konkret verhalten haben, wissen wir
Trauer. Sie werden immer mehr zu Orten öffentlichen Geden­
oft nicht. Da liegen Menschen, die schlimmste Verbrechen
kens und Lernorten für die nachkommenden Generationen.
begangen haben – und ebenso jene, die sich weigerten und
dann Opfer der Wehrmachtsjustiz wurden. Vielen Schicksa­
len ist Tragik nicht abzusprechen. Sollten wir uns dem nicht
stellen, offen damit umgehend und nichts versteckend?
Trauernd, erinnernd – doch ohne zu ehren, denn ein Feld der
Ehre war es nicht.
Die vollständige Rede finden Sie auf der Homepage des Volksbunds:
http://www.volksbund.de/meldungen/meldungen-detail/artikel/volkstrauertagbegruessungsansprache-von-markus-meckel.html
Die vollständige Rede finden Sie auf der Homepage des Volksbunds:
http://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/BereichMeldungen/
Meldungen/2014/VT_Reden/17112014/Rede_Avi_Primor_VTT_2014_de.pdf
Die vollständige Rede finden Sie auf der Homepage des Volksbunds:
http://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/Landesverbaende/Niedersachsen/
Volkstrauertag/Reden_u_Beitraege/rede_vosskuhle_volkstrauertag_2013.pdf
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Aus der Gedenkrede des damaligen Bundespräsidenten
Prof. Dr. Horst Köhler zur Gedenkstunde des Deutschen
Bundes­tages am Volkstrauertag 2009
Fast zehn Millionen Menschen sind im Ersten Weltkrieg ums
Leben gekommen, weit mehr als fünfzig Millionen im Zuge
des Zweiten Weltkriegs und viele weitere Millionen Men­
schen in Hunderten von Konflikten seit 1945. Es gibt kaum
ein Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt Krieg herrscht.
Wir zählen die Opfer, aber die Summen übersteigen unser
Vorstellungsvermögen. Und dabei künden doch die Zahlen
von Menschen, die alle unverwechselbar waren, ihre Stimme,
ihr Lachen, ihr Angesicht: Söhne und Töchter, Brüder und
Schwestern, Väter und Mütter. Der Krieg nimmt Menschen
weg, die geliebt waren, die übrig bleiben sollten, um die
andere gebangt haben.
Die Hinterbliebenen wünschen den Toten, dass sie
Ruhe finden, dass sie noch im Tode Zuwendung und Sorge
erfahren. Aber auch die Lebenden brauchen diese Sorge als
Beglaubigung ihrer Liebe, als Ablenkung und als Trost. Seit
neun Jahrzehnten kümmert sich der Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge um solche Orte der letzten Ruhe und
der dauernden Sorge, Pflege und Liebe. Nicht nur an den
Gedenktagen. Tag für Tag pflegen seine Mitarbeiter Gräber
von Gefallenen, geben den Opfern ein Haus in der Erde und
den Lebenden einen Ort der Trauer und Zuwendung.
Die vollständige Rede finden Sie auf der Homepage des Bundespräsidialamts:
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/
Reden/2009/11/20091115_Rede.html

Jüdischer Friedhof in
Riga Rumbula
© Volksbund
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
19441945
Blick auf das zerstörte
Hamburg im Mai 1945
© Volksbund
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegkrieg
kriegmai
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
krieg
(markierung einer wende)
Ernst Jandl, Poetische Werke, hrsg. von Klaus Siblewski
© 1997 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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„Man hat ja noch niemals versucht,
den Krieg ernsthaft zu
bekämpfen.“
DIE BRENNENDE LAMPE
grade führt, führen wird. Man hatte sie
Kurt Tucholsky
was noch wichtiger war, in den Kinos,
Erfolg ohne Frauen gibt, so beeilten
Man hat ja noch niemals versucht,
auf den Universitäten und durch die
sich die liberalen Zeitungsleute, die viel
den Krieg ernsthaft zu bekämpfen.
Presse national vergiftet, so vergiftet,
zu feige waren, auch nur ihren Portier
Man hat ja noch niemals alle Schulen
wie du heute liegst: hoffnungslos.
zu ohrfeigen, so beeilten sie sich, sage
und alle Kirchen, alle Kinos und alle
ich dir, den Krieg zu lobpreisen, halb zu
Zeitungen für die Propaganda des
auf der Schule und in der Kirche, und,
Wenn ein jüngerer Mann, etwa von
bücher, die man dort ausgestellt hatte;
Sie sahen nichts mehr. Sie glaubten
verteidigen und jenen den Mund und
Krieges gesperrt. Man weiß also gar
dreiundzwanzig Jahren, an einer ver­
sie waren vom ersten Gehilfen fein um
ehrlich an diese stumpfsinnige Reli­
die Druckerschwärze zu verbieten, die
nicht, wie eine Generation aussähe,
lassenen Straßenecke am Boden liegt,
die sanft brennende Lampe herumdra­
gion der Vaterländer, und sie wußten
den Krieg ein entehrendes Gemetzel
die in der Luft eines gesunden und
stöhnend, weil er mit einem tödlichen
piert worden, und die Buchhandlung
entweder gar nicht, wie ihr eignes Land
nennen wollten; und weil deine Mutter
kampfesfreudigen, aber kriegableh­
Gas ringt, das eine Fliegerbombe in
hatte für dieses ebenso geschmack­
aufrüstete: geheim oder offen, je nach
den Krieg liebte, von dem sie nur die
nenden Pazifismus aufgewachsen ist.
der Stadt verbreitet hat, er keucht, die
volle wie patriotische Schaufenster den
den Umständen; oder aber sie wußten
Fahnen kannte, so fand sich eine ganze
Das weiß man nicht.
Augen sind aus ihren Höhlen getreten,
ersten Preis bekommen.
es, und dann fanden sies sehr schön.
Industrie, ihr gefällig zu sein, und viele
Sehr schön fanden sie das. Deswegen
Buchmacher waren auch dabei. Nein,
Man kennt nur staatlich verhetzte
liegst du, junger Mann.
nicht die von der Rennbahn; die von der
Jugend. Du bist ihre Frucht; du bist
im Munde verspürt er einen widerwärti­
gen Geschmack, und in seinen Lungen
Weil, junger Mann, deine Eltern und
sticht es, es ist, wie wenn er unter Was­
deine Großeltern auch nicht den leises­
Literatur. Und Verleger verlegten das.
einer von ihnen – so, wie dein fliegen­
ser atmen sollte –: dann wird dieser
ten Versuch gemacht haben, aus die­
Was röchelst du da –? „Mutter?“ –
Und Buchhändler verkauften das. Und
der Mörder einer von ihnen gewesen
junge Mensch mit einem verzweifelten
sem Kriegsdreck und aus dem Natio­
Ah, nicht doch. Deine Mutter war erst
einer hatte eben diese sanft brennende
ist.
Blick an den Häusern hinauf, zum Him­
nalwahn herauszukommen. Sie hatten
Weib und dann Mutter, und weil sie
Lampe aufgebaut, sein Schaufenster
mel empor, fragen:
sich damit begnügt – bitte, stirb noch
Weib war, liebte sie den Krieger und
war so hübsch dekoriert; da standen
Darf ich deinen Kopf weicher betten?
nicht, ich möchte dir das noch schnell
den Staatsmörder und die Fahnen und
die Bücher, die das Lob des Tötens
Oh, du bist schon tot. Ruhe in Frieden.
erklären, zu helfen ist dir ohnehin nicht
die Musik und den schlanken, ranken
verkündeten, die Hymne des Mordes,
Es ist der einzige, den sie dir gelassen
mehr – sie hatten sich damit begnügt,
Leutnant. Schrei nicht so laut; das war
die Psalmen der Gasgranaten. Deshalb,
haben.
Weil, junger Mann, zum Beispiel in
bestenfalls einen allgemeinen, gemä­
so. Und weil sie ihn liebte, haßte sie
junger Mann.
einem Buchladen einmal eine sanfte
ßigten Protest gegen den Krieg loszu­
alle die, die ihr die Freude an ihrer Lust
grüne Lampe gebrannt hat. Sie
lassen; niemals aber gegen den, den
verderben wollten. Und weil sie das
Eh du die letzte Zuckung tust, junger
bestrahlte, junger Mann, lauter Kriegs­
ihr sogenanntes Vaterland geführt hat,
liebte, und weil es keinen öffentlichen
Mann:
„Warum – ?“
Kaspar Hauser
Die Weltbühne, 02.06.1931, Nr. 22, S. 815
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AUSGERICHTET AUF DIE LIEBE GOTTES
Am Volkstrauertag spitzt sich die Frage
hat das besonders die Interpretation
nach dem Gericht noch einmal ange­
des Textes im Horizont des christlich-
Gedanken zum Predigttext des Volkstrauertages 2015 – Matthäus 25, 31–46
sichts der Erfahrungen von Schuld und
jüdischen Dialogs herausgearbeitet.
Bischof Dr. Dr. h.c. Markus Dröge
Versagen im Krieg zu. Die Schrecken
Die „geringsten Brüder“ wurden
des Nationalsozialismus führen unsere
dabei identifiziert mit den jüdischen
Fragen nach Gerechtigkeit und Gericht
Geschwistern. Ulrich Luz erzählt dazu
bis an die Grenzen des Denk- und
in seinem Kommentar von einem
Aushaltbaren. Der Predigttext rührt an
Artikel eines Journalisten über einen
Eine Grundstimmung der Angst durchzieht das „Dies Irae“
diesen Fragen. Wir sollten ihnen nicht
deutsch-christlichen Pfarrer, der unter
von Thomas von Celano. Diese Beklemmung teilen viele
ausweichen, denn allein der „liebe
Berufung auf den Arierparagrafen die
Hörerinnen und Hörer mit dem Text „Vom Weltgericht“ des
Gott“, der für alles Verständnis hat, wird
Juden seiner Gemeinde dreimal zum
Evangelisten Matthäus. Wo würde ich ste­
unserer Wirklichkeit und der Wirklich­
Verlassen seiner Kirche auffordert. Da
hen, wenn über mein Leben entschieden
keit des Krieges nicht gerecht. Genauso
bewegt sich etwas, und zwar an dem
würde? Zur rechten oder zur linken Seite
wenig aber dürfen wir uns als Predige­
Kreuz auf dem Altar. Der Gekreuzigte
Jesu? Die Vorstellung von einem richten­
rinnen und Prediger dazu aufschwin­
steigt vom Kreuz herab und verlässt die
den Gott kann Menschen verstören und
gen, mit großer Emphase die selbstge-
Kirche mit den Worten von Matthäus
ihnen Angst machen. Es gibt eine ver­
rechten Richter über die Menschen zu
25,45.2 Diese Szene bringt auf den
ständliche Abwehr gegen einen Gott, der
spielen. Es ginge vielmehr darum, die
Punkt, dass die Ermordung der Juden
Entscheidend für das Verständnis des
alles sieht und jeden Schritt kontrolliert.
Rede vom Gericht sensibel aufzuneh­
ein Verrat an Jesus Christus selbst war.
Gerichts bei Matthäus ist es, den Text
Auf der anderen Seite würde ein Glauben
men und einzubetten in die schuldhaf­
Zugleich zeigt sich im christlich-jüdi­
nicht nur individualisierend zu lesen,
ohne Gerichtsvorstellung die Gerechtigkeit
ten, oft schambesetzen Zusammen­
schen Dialog, dass die Einsicht in die
sondern ihn in seinem apokalyptischen
preisgeben. Das Schicksal der Opfer bliebe
hänge menschlichen Lebens.
Schuld und das Versagen das Gespräch
Horizont als Text zu verstehen, der
nicht abbrechen lässt, sondern
von der Endzeit spricht. Es geht um die
Welches Zittern steht bevor,
wenn der Richter kommen wird,
um alles streng zu untersuchen.
Unter den Schafen gib mir Platz,
von den Böcken scheide mich,
stelle mich zu deiner Rechten!
Was soll ich Elender dann sagen,
welchen Beschützer anrufen,
wo doch kaum der Gerechte
sicher ist!1
ungesühnt. Gerade um der Gerechtigkeit

© Evangelische Kirche
Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz
und der Liebe Gottes willen müssen wir daher am Gericht
Das Gericht ist nicht nur etwas Nega­
geradezu Bedingung für einen neuen
Veränderung der ganzen Welt und nicht
festhalten. Gott ist es nicht gleich-gültig, wer Opfer und wer
tives. Es beinhaltet die Chance des
Anfang ist.
nur einzelner Personen. Im Gericht
Täter ist.
Neuanfangs und der Umkehr, indem
wird die Welt an ihr Ziel geführt. Es
die eigene Schuld und das Versagen
geht also um Gott selbst und um die
zur Sprache gebracht werden können.
Offenbarung seiner Wahrheit und sei­
1 „Dies Irae“ von Thomas von Celano, in: P. Klopsch
(Hg.), Lateinische Lyrik des Mittelalters, Stuttgart
1985, 436-439.
Bezogen auf den Nationalsozialismus
2 Vgl. Ulrich Luz, EKK I/3, 523–524.
ner Macht. Im Gericht entscheidet sich,
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
Friedhof Bourdon
Foto: Hans Soltau
© Volksbund
47
was wir vorwegnehmend glauben: dass
In diesem Sinne ist das Gericht die
die Liebe Gottes die alles bestimmende
große Hoffnung für die Glaubenden. In
Wirklichkeit sein wird. Das entspricht
Gottes Liebe wird die Schuld nicht ver­
der Verkündigung Jesu, für den die
gessen, aber bearbeitet sein. Die Täter
Liebe das oberste Gebot ist. An der
behalten nicht den Sieg, anders als es
Liebe oder eben am Fehlen der Liebe
oft den Anschein hat. Und die Opfer
entscheidet sich die Welt. Nicht nur zu
werden Gerechtigkeit erfahren haben.
einem bestimmten Zeitpunkt, sondern
In der jetzigen Welt erfahren wir diese
immer wieder. Wir werden nicht ein für
Liebe nur fragmentarisch. Sie bleibt oft
alle Mal festgelegt, sondern haben die
hinter unseren Erwartungen und auch
Möglichkeit der Veränderung.
hinter unserer eigenen Schuld zurück.
Das gilt auch für die Welt insgesamt.
Die Schrecken des Nationalsozialismus
Hinter wirtschaftlichen Interessen und
sind nicht nur vergangen, sondern sie
politischem Kalkül bleibt die Liebe
sind Auftrag für eine andere Gegen­
Gottes oft verborgen. Deshalb sehnen
wart. Als Gesellschaft und Kirche
wir uns nach Veränderung und danach,
müssen wir angesichts unserer Vergan­
neu aus-GERICHTET zu werden auf
genheit besonders sensibel sein für die
Gott hin. Mitten im Leben.
„geringsten Brüder und Schwestern“,
die Stummgemachten und Verfolgten.
In ihnen zeigt sich Christus. Ihnen muss
daher unsere Solidarität gehören. „Die
Geringsten sagen, wohin die Kirche
gehört.“3 So kann Jürgen Moltmann es
formulieren. Und das gilt nicht nur für
die Kirche.
3 Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes,
München 1975, 148.
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VON GUTEN MÄCHTEN
Dietrich Bonhoeffer

Die sogenannten
Poppies werden zu
Ehren der im Ersten
Weltkrieg gefallenen,
vermissten oder
nicht identifizierten
britischen Soldaten
am Menentor, Ypern,
niedergelegt.
© Volksbund
Von guten Mächten treu und still umgeben,
Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
Behütet und getröstet wunderbar,
Die du in unsre Dunkelheit gebracht.
So will ich diese Tage mit euch leben
Führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.
Noch will das alte unsre Herzen quälen,
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
Noch drückt uns böser Tage schwere Last.
So lass uns hören jenen vollen Klang
Ach, Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
Der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
Das Heil, für das du uns geschaffen hast.
All deiner Kinder hohen Lobgesang.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
Des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
So nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
Aus deiner guten und geliebten Hand.
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
An dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
Dann wolln wir des Vergangenen gedenken
Und dann gehört dir unser Leben ganz.
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PREDIGTMEDITATION
Gedanken zum Predigttext des Volkstrauertages 2015 – Markus, 13, 24 f.
Weihbischof Dr. Matthias Heinrich

Foto: Walter Wetzler,
Berlin
© Erzbischöfliches
Ordinariat Berlin
Keine guten Aussichten – so könnte
hier geschieht, gleicht dem Rückfall in
gen und die nationale Identität stärken.
Jahrhunderts zurück, darf man zumin­
man meinen, wenn man auf die Bilder
das unmenschliche Chaos.
Doch je länger der Krieg dauerte, desto
dest sagen, dass anfänglicher Jubel
phen tatsächlich lernen. Und insofern
mehr mussten sie einsehen, dass jeder
zu Kriegsbeginn schließlich umschlug
erweist sich der Mensch als ein lernfä­
higes Geschöpf.
schaut, die uns die Bibel vom Ende der
Umso erstaunlicher ist es deshalb,
Welt zeichnet. Von Katastrophen ist da
welchen Ratschlag das Evangelium
Krieg letztlich keine Sieger hervor­
in schieres Entsetzten angesichts der
die Rede, von Kriegen und Hungersnö­
angesichts solcher Ereignisse bereit­
bringt, sondern immer nur Verlierer.
Toten, der Zerstörung, der massenwei­
ten: „Die Sonne wird sich verfinstern,
hält: „Wenn (all) das beginnt, dann rich­
und der Mond wird nicht mehr schei­
tet euch auf und erhebt eure Häupter;
Zweite Weltkrieg durchaus seine Befür­
nen; die Sterne werden vom Himmel
denn eure Erlösung ist nahe“ (Lk 21, 28).
worter. Nationaler Stolz sollte wieder­
fallen (Jes 13, 10), und die Kräfte des
Dürfen wir Katastrophen also als
Himmels werden erschüttert werde“
(Mk 13, 24 f.).
Was hier geschildert wird, ist
gleichsam das Gegenteil dessen, was
In ähnlicher Weise fand auch der
Insofern kann man aus Katastro­
Wie lange solche Einsicht allerdings
sen und systematischen Vernichtung
währt, bleibt dennoch fraglich; denn
von Menschen.
der Zweite Weltkrieg, der dem Ersten
Und – Gott sei Dank – gab es in
folgte, sowie die vielen „kleinen“ Kriege
gewonnen und Rache sollte genommen
den Jahren nach diesen beiden Kriegen
nach den großen Kriegen zeigen doch
Vorboten des Heils verstehen? Oder
werden für eine schmähliche Nieder­
dann so etwas wie Nachdenklichkeit,
auch: Ein wirklicher Friede ist niemals
anders gefragt: Braucht der Mensch
lage und für einen Friedensvertrag,
Besinnung und gute Vorsätze: „Nie wie­
sicher. Er muss vielmehr immer neu
die Katastrophen, um ein anderer zu
durch den sich viele zutiefst gedemü­
der Krieg“ wurde ja zur festen Beteue­
gewonnen werden.
werden?
tigt fühlten. Doch auch dieser Krieg
rung und zur Hoffnung der Völker.
Der Dichterphilosoph George Sata­
wir aus den Schöpfungsberichten der
Als vor etwa hundert Jahren der
wurde zur Katastrophe – für Sieger und
Bibel kennen: wie Gott die Welt einst
Erste Weltkrieg begann, war von vielen
Besiegte – und zu einer Niederlage für
diese Vorsätze schließlich dazu bei­
und weil die Toten schweigen, beginnt
erschuf und den Sternen, den Meeren
Seiten auch Jubel zu hören. Nicht
Menschheit und Menschlichkeit.
getragen, dass unsere Welt seit vielen
alles wieder von vorne.“ Aber müssen
und der Erde eine feste Ordnung und
wenige waren der Ansicht, man könne
Jahren vor vergleichbaren Kriegen
die Toten wirklich schweigen? Kann
einen festen Halt gab. Was dagegen
durch einen solchen Krieg Stärke zei­
verschont blieb.
man sie nicht auch zum Reden bringen?
Schaut man in diesem Sinne auf
die beiden großen Kriege des letzten
So haben dieses Entsetzen und
yana hat einmal das Wort gesagt: „…
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
Deutsche Kriegs­
gefangene in einem
britischen Sammel­
lager
Foto: Hermann Rex,
veröffentlicht 1926,
Deutsche National­
bibliothek, Sammlung
Erster Weltkrieg. Signatur: 1926 A 14878 - 3
53
Genau dies sollen Tage wie der
kann sich vollenden lassen, indem er
Volkstrauertag bewirken. Sie sollen die
sich verwandeln lässt in den Händen
Toten zum Reden bringen, damit sie
Gottes. Nicht die E-manzipation, das
auch noch in unseren Tagen zu Wort
Weggehen aus seinen väterlichen Hän­
kommen. Und das trauernde Geden­
den, sondern die Re-manzipation, die
ken an ihren Gräbern soll uns immer
Rückkehr dorthin, ist darum der Heils-
neu erinnern und mahnen, aus ihrem
und Veränderungsweg für die Welt.
Sterben und aus unseren Katastrophen
zu lernen, anders zu werden.
Solcher Veränderungsprozess kann
schmerzlich sein. Er kann durch Katas­
trophen führen. Aber er ist eben immer
Wenn aber die Bibel von Katastrophen
spricht, dann schaut sie nicht nur in die
auch nur Durchgang.
Und so lädt uns das Evangelium ein,
Vergangenheit. Sie richtet ihren Blick
auch aus den Katastrophen zu lernen,
vor allem in die Zukunft, auf die katas­
anders zu werden. Es lädt uns ein, nicht
trophalen Ereignisse, welche am Ende
nur aus der Vergangenheit zu leben
der Welt stehen.
und zu lernen, sondern ebenso aus der
Dabei bleibt sie jedoch nicht bei den
Katastrophen stehen. Sie verweist viel­
Zukunft, die Jesus verkündet hat und
die Gott geben wird.
mehr auf das, was danach kommt, und
Über aller Vergangenheit wie
auf das, was bleibt. Sie verweist auf die
Zukunft aber steht die Hoffnung und
Wiederkunft Jesu Christi, auf eine neue
der Trost: Alles wird gut, weil Gott es in
Schöpfung und auf die Worte Jesu, die
seinen Händen hält.
für immer bleiben.
Gott, so will uns die Heilige Schrift
sagen, schafft nicht einfach ab, sondern
schafft neu. Nicht Be-enden, sondern
Voll-enden ist sein eigentliches Werk.
Der Mensch kann nur be-enden,
voll-enden kann er nicht. Aber er
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BRIEF AUS RUSSLAND
Wolfgang Borchert
Man wird tierisch.
Das macht die eisenhaltige
Luft. Aber das faltige
Herz fühlt manchmal noch lyrisch.
Ein Stahlhelm im Morgensonnenschimmer.
Ein Buchfink singt und der Helm rostet.
Was wohl zu Hause ein Zimmer
mit Bett und warm Wasser kostet?
Wenn man nicht so müde wär!
Aber die Beine sind schwer.
Hast du noch ein Stück Brot?
Morgen nehmen wir den Wald.
Aber das Leben hier ist so tot.
Selbst die Sterne sind fremd und kalt.
Und die Häuser sind
so zufällig gebaut.
Nur manchmal siehst du ein Kind,
das hat wunderbare Haut.
Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk
Herausgegeben von Michael Töteberg unter Mitarbeit von Irmgard Schindler
Copyright © 2007 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Deutsche Soldaten­
gräber im Raum Now­
gorod, um 1942/43
Foto: Hugo Schulz
© Volksbund
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MUSIKVORSCHLÄGE
GESTALTUNGS­
MÖGLICHKEITEN
FÜR GEDENK­
VERANSTALTUNGEN
Klassische Musik
Wolfgang Amadeus Mozart
Klarinettenkonzert A-Dur
2. Satz, Adagio
Wolfgang Amadeus Mozart
Requiem
• Begrüßung der Anwesenden
Johann Pachelbel
• Einstimmung:
Kanon in D-Dur
Gedicht, Feldpostzitat, kurze Anspra­
che, Musikstück
Ludwig van Beethoven
• Verlesen des Totengedenkens
Mondschein-Sonate
• Nennung der Namen einzelner
Henryk Górecki
Creedence Clearwater Revival
Symphonie Nr. 3
Fortunate Son
2. Satz, Lento e largo
Franz Schubert
Wohin soll ich mich wenden
(Deutsche Messe)
Franz Schubert
Sanctus 3
(Deutsche Messe)
Ariel Ramirez
Misa Criolla
Astor Piazolla
Jorge Adios
Jacob’s Ladder
Boris Vian
Le déserteur
Hannes Wader
Es ist an der Zeit
Simon and Garfunkel
Bridge over troubled water
Celine Dion
Ave Maria
Enya
Johann Sebastian Bach
Kriegstoter aus der Kommune/
Chumbawamba
Largo
POP • Chansons • Lieder
Only time
• Gedenkrede
Georg Friedrich Händel
Elvis Presley
Eric Clapton
• Gebet
Largo (instr., aus Xerxes)
Amazing Grace
Tears in heaven
Josquin Depres
The Doors
Andrea Bocelli & Sarah Brightman
Tu solus (aus Vaya con Dios)
The Unknown Soldier
Time to say goodbye
Gustav Mahler
Bob Dylan
Elton John
Adagietto
Masters of War
Candle in the wind
Jean Sibelius
Barry MacGuirre
Woody Herman
Valse triste
Eve of Destruction
Mood Indigo
Frédéric Chopin
Edwin Starr
Tristesse
War
Ortschaft
• Kranzniederlegung
• Schweigeminute
• Gesang/Musikstück
• Dank an Unterstützer
• Verabschiedung
Als Leitfaden für Ihre Gedenkveranstaltung
kann Ihnen diese Handreichung dienen. Sie
erscheint jährlich neu. Zum Download steht sie
Ihnen unter folgendem Link zur Verfügung:
www.volksbund.de/volksbund-volkstrauertag.html

Volkstrauertag 2009.
Gedenkfeier mit
Kranzniederlegung
in der Gedenkstätte
Plötzensee
Foto: Dirk-Bodo Nagel
© Volksbund
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VOLKSBUND
DEUTSCHE KRIEGSGRÄBER­
FÜRSORGE E. V.
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Antrieb der Gleichschaltungspolitik der
NS-Regierung.
Im Jahr 1946, nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs, konnte der Volks­
bund seine Tätigkeit wieder aufneh­
men. Wieder ging es darum, für die
toten deutschen Soldaten des Zweiten
Weltkriegs bleibende Grabstätten zu
errichten. In kurzer Zeit gelang es, über

Volkstrauertag 2005.
Kranzniederlegung
Berlin-Lilienthal­straße
Foto: Maurice Bonkat
© Volksbund
400 Kriegsgräberstätten in Deutsch­
land anzulegen. 1954 beauftragte die
Bundesregierung den Volksbund mit
der Aufgabe, die deutschen Solda­
tengräber im Ausland zu suchen, zu
sichern und zu pflegen. Im Rahmen von
bilateralen Vereinbarungen erfüllt der
Volksbund seine Aufgabe in Europa und
Der Volksbund Deutsche Kriegsgrä­
fördert die Begegnung junger Men­
berfürsorge e. V. ist eine humanitäre
schen an den Ruhestätten der Toten.
Organisation. Er widmet sich im Auftrag
Heute hat der Volksbund knapp
Jedoch rückte der Volksbund politisch
Nordafrika. In seiner Obhut befinden
zige Organisation am 16. Dezember
im Lauf der Weimarer Republik immer
sich heute 832 Kriegsgräberstätten
1919. Die noch junge Reichsregierung
weiter nach rechts. Gedenkveranstal­
in 45 Staaten mit etwa 2,6 Millionen
Gegründet wurde die gemeinnüt­
der Bundesregierung der Aufgabe, die
400 000 aktive Förderer sowie über
war weder politisch noch wirtschaftlich
tungen für die Soldaten erinnerten
Kriegstoten. In der Deutschen Demo­
Gräber der deutschen Kriegstoten im
eine Million Gelegenheitsspender. Mit
in der Lage, sich um die Gräber der im
nicht nur an deren Schicksal, sondern
kratischen Republik konnte der Volks­
Ausland zu erfassen, zu erhalten und
ihren Beiträgen und Spenden, mit Erb­
Weltkrieg gestorbenen Soldaten zu
propagierten den heroischen Tod als
bund nicht wiedergegründet werden.
zu pflegen. Der Volksbund betreut
schaften sowie den Erträgen aus der
kümmern. Dieser Aufgabe widmete
Vorbild für die nächste Generation.
Hier übernahm die Evangelische Kirche
Angehörige in Fragen der Kriegsgrä­
jährlichen Haus- und Straßensamm­
sich der Volksbund, der sich als eine
In dieser Weise beteiligte sich der
einige der Aufgaben des Volksbunds.
berfürsorge, er berät öffentliche und
lung finanziert der Volksbund zu mehr
vom ganzen Volk getragene Initiative
Volksbund an der Werbung für einen
private Stellen, er unterstützt die inter­
als 70 Prozent seine Arbeit. Den Rest
verstand. Bis Anfang der Dreißiger­
neuen, einen Revanchekrieg. Fol­
Osteuropa nahm der Volksbund seine
nationale Zusammenarbeit auf dem
decken öffentliche Mittel des Bundes
jahre konnte der Volksbund zahlreiche
gerichtig unterwarf sich ab 1933 die
Arbeit nicht nur in Ostdeutschland,
Gebiet der Kriegsgräberfürsorge und
und der Länder.
Kriegsgräberstätten im Ausland bauen.
Führung des Volksbunds aus eigenem
sondern auch in den Staaten des
Nach der politischen Wende in
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AKTION „TOTER SUCHT
ANGEHÖRIGEN“
einstigen Ostblocks auf. Seit 1991 rich­
tete der Volksbund 330 Friedhöfe des
Zweiten Weltkriegs und 188 Anlagen
aus dem Ersten Weltkrieg in Ost-, Mit­
Fünf Millionen registrierte Kriegstote und die Suche
tel- und Südosteuropa wieder her oder
nach Angehörigen
legte sie neu an. 796 053 Kriegstote
wurden bis heute auf 82 Kriegsgrä­
berstätten umgebettet, die Arbeiten
dauern an.
Zur langfristigen Sicherung seiner
Arbeit hat der Volksbund 2001 die Stif­
tung „Gedenken und Frieden“ gegrün­
det. Mit der Anlage und Erhaltung
der Friedhöfe bewahrt der Volksbund


Volkstrauertag 2008.
Kranzniederlegung auf
der Kriegsgräberstätte
Kiew
© Volksbund
Einbettung von
Karl Götz auf der
Kriegsgräberstätte in
Ysselsteyn,
Niederlande, 2014
© Volksbund
70 Jahre nach Ende des Zweiten
ropa möglich. Wir haben seitdem
Weltkriegs können sich viele Menschen
rund 830 000 Tote geborgen und
nicht vorstellen, dass wir Jahr für Jahr
bestattet. Etwa ein Drittel von ihnen
immer noch rund 30 000 tote Soldaten
konnten wir trotz aller Schwierigkeiten
Erinnern an die Kriege weit hinaus,
und zivile Kriegsopfer bergen, umbet­
identifizieren.
organisiert der Volksbund unter ande­
schlägt die Brücke vom Ersten über
ten und ihnen eine würdige Ruhestätte
rem Fahrten zu den Kriegsgräbern,
den Zweiten Weltkrieg in die Gegen­
geben.
veranstaltet nationale und internatio­
wart und zu den Bemühungen um eine
nale Workcamps und Jugendbegegnun­
friedliche Zukunft in Europa.
das Gedenken an die Kriegstoten. Die
pen ideale Rahmenbedingungen für
riesigen Gräberfelder erinnern die
friedenspädagogische Projekte vorfin­
Lebenden an die Vergangenheit und
den. Die Gedenk- und Bildungsarbeit
konfrontieren sie mit den Folgen von
des Volksbunds geht über das bloße
Krieg und Gewalt. Zu diesem Zweck
gen an Kriegsgräbern unter dem Motto
Der Volkstrauertag, der jedes Jahr
In den Jahrzehnten nach dem Krieg
Aktuell hat der Volksbund über fünf
Millionen Kriegstote in seiner Daten­
hat der Volksbund durch den Versöh­
bank registriert. Angehörige konnten
nungsprozess im Westen Europas viele
allerdings nur in etwa zehn Prozent
„Versöhnung über den Gräbern – Arbeit
im November vom Volksbund bundes­
Friedhöfe errichten können, auf denen
der Fälle ausfindig gemacht werden.
für den Frieden“. Außerdem hat er in
weit ausgerichtet wird, ist ein Tag des
die unzähligen Kriegstoten ihre letzte
Viele haben sich seit Jahrzehnten nicht
der Nähe von fünf Friedhöfen Jugend­
Gedenkens und der Mahnung zum
Ruhestätte gefunden haben.
beim Volksbund gemeldet, weil sie die
begegnungs- und Bildungsstätten
Frieden. Schirmherr des Volksbunds ist
errichtet, wo Schul- und Jugendgrup­
Bundespräsident Joachim Gauck.
Seit dem politischen Umbruch vor
25 Jahren ist dieses auch in Osteu­
Hoffnung längst aufgegeben hatten,
noch Nachricht über den Verbleib von
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Angehörigen erhalten zu können, deren
Spur sich während des Krieges verlor.
Zudem sind Angehörige nicht ausfin­
dig zu machen, weil sich bei vielen im
Laufe der Jahre die Lebensumstände
SAMMLUNGSUND KOLLEKTEN­
EMPFEHLUNG
verändert haben.
Deswegen wendet sich der Volks­
bund in diesem Jahr mit der Aktion
„Toter sucht Angehörigen“ an die breite
Öffentlichkeit und ruft dazu auf: „Wer

noch sucht – bitte melden Sie sich!“
Ziel ist es, möglichst viele Schick­


Deutsche Kriegs­
gräberstätte in
Stare Czarnowo,
2013. Einbettung
von ungefähr 800
Kriegstoten, die
der Volksbund in
Hinterpommern,
dem ehemaligen
Wartheland und auf
der Halbinsel Hel
geborgen hat.
© Volksbund
Vier Generationen am
Grab. Angehörige auf
der Kriegsgräberstätte
in Stare Czarnowo
Foto: privat
Zu den Aufgaben des Volksbunds
sale zu klären und Familien wieder
Deutsche Kriegsgräber­fürsorge gehört
zusammenzuführen.
es, Kriegsgräberstätten als Mahn­
Wir bitten um Ihre Spende für die­
sen Dienst.
Falls Sie mit dem für Sie zuständi­
male gegen Krieg und Vergessen zu
gen Landesverband keine individuel­
Wer sich auf der Suche nach einem
errichten und zu pflegen. Trotz der
len Vereinbarungen getroffen haben,
Angehörigen befindet, kann auf folgen­
Fortschritte in der Abrüstung und
bitten wir die dem Volksbund Deutsche
den Kanälen Kontakt zum Volksbund
trotz wachsender Friedenssehnsucht
Kriegsgräberfürsorge zu­gedachte Kol­
aufnehmen:
in der Welt geht das Töten und Getö­
lekte/Sammlung auf folgendes Konto
tetwerden weiter, werden Menschen
einzuzahlen:
Internet: www.graebersuche-online.de
dem Terror und der Gewalt ausgesetzt.
(hier sind bereits 4,7 Millionen Daten-
Die Arbeit des Volksbunds ist nicht
Commerzbank Kassel
sätze hinterlegt)
beendet, sie ist notwendiger denn je:
IBAN DE23 5204 0021 0322 2999 00
E-Mail: [email protected]
als Dienst, der zur Versöhnung und
BIC COBADEFF520
Tel: +49 561 7009 360
zum friedlichen Miteinander der Völker
mahnt und der sich zugleich denen
hilfreich zuwendet, denen die Trauer
um die Opfer von Krieg und Gewalt
gemeinsam ist.
Der Stuttgarter Ober­
bürgermeister Rommel
sammelt zusammen
mit amerikanischen
Soldaten in der Stutt­
garter Innenstadt,
1982.
Foto: Horst Rudel
© Volksbund
Impressum:
Herausgegeben vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.
Werner-Hilpert-Straße 2
34117 Kassel
www.volksbund.de
Zusammenstellung:
Dr. Juliane Haubold-Stolle, Sigrun Andree
[email protected]
Lektorat:
Birgit Scholz
Layout und Gestaltung:
Pralle Sonne, Berlin
Volksbund Deutsche
Kriegsgräberfürsorge e. V.
Werner-Hilpert-Str. 2
34117 Kassel
Tel.: +49 (0)561-7009-0
Fax: +49 (0)561-7009-221
www.volksbund.de
[email protected]