REGION Südostschweiz | Donnerstag, 25. Juni 2015 mit Margrith Meier sprach Tatjana Jaun Kulturen gehört der Drogenkonsum dazu. Bei uns kann der hohe Konsum an Partys als eine Ausgeburt des Wohlstandes bezeichnet werden. Junge Leute haben viel Geld in den Taschen. L aut dem jüngsten Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EPDD) ist die Zahl der Heroinkonsumenten in Europa rückläufig (siehe Kasten). Insgesamt sei die Heroinproblematik heute deutlich weniger stark ausgeprägt als noch vor 20 Jahren, so der Rückschluss. Beim Kokainkonsum, sind sich die Experten einig, hat sich die Situation – «obschon weiterhin besorgniserregend» – in den letzten Jahren nicht verschlimmert. Für Graubünden gilt dasselbe, wie Margrith Meier, Leiterin des Ambulatoriums Neumühle in Chur, bestätigt. Frau Meier, laut der EPDD wird weniger Heroin und nicht mehr Koks konsumiert. Entspricht dieses Bild dem, was Sie während Ihrer Arbeit täglich erleben? MARGRITH MEIER: Der Konsum von Heroin ist seit ein paar Jahren rückläufig. Heroin wird heute als eine LoserDroge angesehen; die Droge ist nicht mehr hip. Es sind mit Kokain, Amphetaminen, MDMA und Ecstasy andere Drogen, die vor allem auf Partys konsumiert werden. Das Ambulatorium Neumühle richtet sich an schwerstabhängige Heroinsüchtige. Ihre Betreuungsplätze sind praktisch immer besetzt. Offenbar wird Heroin immer noch konsumiert. Wir haben im Moment 34 Patienten in der heroingestützten Behandlung, die das staatliche Programm durchlaufen. Viele von ihnen sind seit vielen Jahren bei uns. Ihre Drogensucht hat in den Achtzigerjahren angefangen oder sich manifestiert, damals als es am Zürcher Platzspitz die erste offene Drogenszene gab. Es kommt heute noch vor, dass jemand heroinsüchtig wird. Das sind aber eher Einzelfälle. «Man muss sich nicht mehr länger hinter dem Handy, Facebook und Instagram verstecken.» Werden die Konsumenten jünger? Das Durchschnittsalter unserer Patienten, die von Opioiden schwerstabhängig sind, liegt bei knapp 40 Jahren. Bei den Kokainkonsumierenden liegt der Altersdurchschnitt bei 25 Jahren. Was macht Kokain für Junge attraktiv? Früher kostete ein Gramm Koks zwischen 400 bis 500 Franken. Im Jahr 2005 kam es schliesslich zu einem Preiszerfall. Heute erhält man ein Gramm bereits für 80 bis 100 Franken. Das hat dazugeführt, dass Koks auch für Junge erschwinglich wurde. Derzeit erlebt die Droge auf Partys wieder Hochkonjunktur. Patienten berichten mir, dass es für sie billiger sei, zwei Linien Koks zu ziehen und eine gute Party zu erleben, statt sich mit Alkohol zu betrinken. Kokain der Feierabendbier-Ersatz? Früher assoziierte man Kokainkonsum mit Bankern, die wenig schlafen, wenig essen, dabei noch gut aussehen und leistungsfähig sind. Kokain wurde im Krieg erfunden. Man gab es zum Beispiel Kamikazepiloten, damit sie leistungsfähig und auch skrupellos waren. Kokain bietet Schutz vor unangeneh- 3 Auf den materiellen Reichtum folgt dann die emotionale Leere. In die Ferien gehen, das ist heute selbstverständlich. Man fährt nicht mehr nach Italien, sondern fliegt in die Dominikanische Republik, nach Miami, etc. Wir können alles, wir sind in Movimento. Jederzeit. Vielleicht müssen Dinge unmöglich erscheinen, damit sie wieder an Wert gewinnen. «Sie schlucken an Partys querbeet alles, was ihnen in die Hände kommt, ohne zu wissen, was es genau ist.» «Es hat schon immer exzessive Leute gegeben»: Margrith Meier kennt als Leiterin des Ambulatoriums Neumühle den Alltag mit Bild Olivia Item Drogensüchtigen. «Die Platzspitz-Jahre gehören in den Geschichtsunterricht» Heroin gilt heute unter Partygängern als Loser-Droge, Kokain ist dafür umso beliebter. Zum einen ist Koks billig wie nie zuvor, zum anderen wird man mit ihr zum selbstsicheren, unverbindlichen Partylöwen, sagt Margrith Meier. Sie ist Leiterin des Ambulatoriums Neumühle in Chur. men Gefühlen. Darum kommt die Droge auch so gut an. Man kann sagen: Kokain-Konsumenten tragen einen Regenmantel. Gefühle perlen an ihnen ab, es entsteht eine Unverbindlichkeit. Diese Droge macht kalt. Sie macht aber auch selbstsicher. Man wird zum Partylöwen. Man getraut sich, mit Leuten in Kontakt zu treten. Kokain wirkt sexuell stimulierend. Alle diese Eigenschaften, die im Ausgang erwünscht sind, erhält man durch das Kokain. Man muss sich nicht mehr länger hinter dem Handy, Facebook und Instagram verstecken. Was ist der Unterschied zwischen Heroin- und Kokainkonsumenten, abgesehen von den jeweiligen Substanzen? Kokain-Konsumenten bleiben meist sozial integriert. Was bei Heroinsüchtigen meistens nicht der Fall ist. Kokainisten konsumieren oft an Wochenenden. Oft höre ich, dass sich Kokainkonsumierende am Montag bei der Arbeit krankmelden. Dort sind Arbeitgeber und Eltern gefragt, zu beobachten und das Verhalten anzusprechen. Als Fachfrau empfinde ich diesen Schritt als sehr wichtig. Wenn erst mal die Stelle gekündigt wird, dann verlieren sie Halt und laufen Gefahr, in eine Abhängigkeit abzudriften. Wenn man mit ihnen aber arbeitet und ihnen aufzeigt, dass ihr Verhalten nicht toleriert wird, gibt es Hoffnung, dass sie den Drogen den Rücken kehren. Wie viele Kokainpatienten betreuen Sie? Die psychiatrischen Dienste, zu welchen wir gehören, behandeln Personen ab 18 Jahren. Im laufenden Jahr habe ich bereits 81 ambulante Beratungen zum Thema Cannabis und Kokain durchgeführt. Was sind das für Leute, die Sie aufsuchen? Es sind meist junge Erwachsene, die durch den Konsum in unangenehme Situationen geraten. Oft handelt es sich um Partygänger, die mit Stoff erwischt und verzeigt worden sind. Die Konsumenten kommen also nicht freiwillig? Der grösste Teil der Patienten kommt zuerst fremd motiviert. Meistens ist der Druck des Arbeitgebers, der Eltern oder eines laufenden Verfahrens für die erste Beratung ausschlaggebend. Haben Sie mit Ihren Gesprächen Erfolg? Erfolg ist eine Definitionssache. Wenn Erfolg Abstinenz meint, sind kurz- und mittelfristig die Erfolgschancen gering. Wenn der Erfolg so definiert wird, dass sich jemand mit seinem Konsumverhalten auseinandersetzt und den bewussten Umgang mit der Droge lernt, ist der Erfolg relativ hoch. Junge, die Kokain nehmen, um eine gute Party zu erleben – geht es unserer Gesellschaft zu gut? Ich denke, das Konsumverhalten in unserer Gesellschaft hat mit unserem Wohlstand zu tun. In Kolumbien gibt es die Koka-Bauern. In China rauchen viele alte Menschen Opium. In diesen Wie wirken sich Drogen-onlineShops auf die Drogenszene aus? Sie verschärfen die Situation zusätzlich. Online kann man alle nötigen Produkte kaufen, um Drogen herzustellen. Die Polizei findet relativ häufig PrivatLabors, in welchen experimentiert und Drogen hergestellt werden. In Graubünden gibt es auch solche. Seit sieben Jahren sind Sie Leiterin des Ambulatoriums Neumühle. Was für eine Bilanz ziehen Sie? Ich arbeite seit 28 Jahren im Suchtbereich. Ich habe in der offenen Drogenszene vor allem in der Stadt Bern gearbeitet. Ich war Gassenarbeiterin und im Entzugs- und Therapiebereich tätig. Ich kann nicht sagen, dass der Drogenkonsum schlimmer geworden ist. Es hat schon immer exzessive Leute geben. Es kommen immer neue Drogen und Problemstellungen auf uns zu. Wir werden in Zukunft zum Beispiel auf die Onlinesucht reagieren müssen. Eine besorgniserregende Entwicklung stellen Online-Pokerspiele dar, bei welchen sich die Spieler verschulden. Wird zum Thema Sucht zu wenig aufgeklärt? Es gibt in der Aufklärungsarbeit Verbesserungspotenzial. Die Platzspitz-Jahre gehören in den Geschichtsunterricht. Zudem empfinde ich es bedenklich, dass Jugendliche und oft auch Erwachsene bereit sind, an Partys querbeet alles zu schlucken, was ihnen in die Hände kommt, ohne zu wissen, was es genau ist. Es gäbe präventiv sonst das Pillen-Checking, wo getestet werden kann, welche Substanzen in den Partypillen vorhanden sind. Patienten sagen mir, dass sie konsumieren, weil sie sich in eine andere Welt versetzen wollen, wo sie sich verzaubern lassen möchten. In der realen Welt fehlt ihnen offenbar dieser Zauber. Für mich ist das ein Zeichen der Übersättigung. Wir können Gegensteuer geben. Immer mehr unbekannte Psycho-Drogen auf dem Markt – gekauft wird im Internet Die Drogen in Europa stam men grösstenteils aus Lateinamerika, Westasien und Nordafrika. Laut dem jüngs ten europäischen Drogenbericht ist Europa Erzeuger region für Cannabis und syn thetische Drogen. Während die Cannabisproduktion in Europa fast ausschliesslich für den lokalen Konsum bestimmt ist, werden synthetische Drogen zum Teil für den Export in andere Regionen hergestellt. Eine relativ neue Entwicklung auf den europäi schen Drogenmärkten sei die Verfügbarkeit «neuer psychoaktiver Substanzen», die nicht von den internationalen Drogenkontrollabkommen erfasst werden, heisst es. Meist ausserhalb Europas produziert, können 80 Millionen Europäer haben irgendwann in ihrem Leben illegale Drogen konsumiert. diese Substanzen vom Konsu menten im Online-Handel oder in Spezialgeschäften erworben werden. Gemäss dem Bericht haben von den erwachsenen Europäern mehr als 80 Millionen, also fast ein Viertel, bereits irgendwann in ihrem Leben eine illegale Droge konsumiert. Kokain, Heroin und Cannabis werden dabei immer reiner, ihre Wirkung intensiver – gleich zeitig steigt das Risiko einer Überdosierung. Cannabis bleibt dabei Europas Droge Nummer 1. 21,7 Prozent aller Europäer zwischen 15 und 64 Jahren geben an, die Droge zumindest einmal ausprobiert zu haben. Cannabis ist mit einem Anteil von 80 Prozent die am häufigsten sichergestellte Droge. (tja)
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